I

[5] Ein milder und sonnenheller Frühlingshimmel blickte zum ersten Male wieder nach dem an Stürmen mancherlei Art so reichen, unfreundlichen Februarmonat auf die Kaiserstadt Wien nieder und lockte Jung und Alt vor die Thore hinaus in die langen, schnurgeraden Alleen, welche die breiten Plätze und Anlagen zwischen der inneren Stadt und den Vorstädten durchschneiden. Es war der fünfte März 1848. Wer hätte es – nach der unbefangenen und sorglosen Miene dieser rasch durch einander wandelnden Gruppen von Spaziergängern, damals zu schließen gewagt, daß Wien, berühmt durch seine ans Patriarchenthum erinnernde Pietät, mit der es an dem Kaiserhause[5] hing, auf einem Krater der Revolution stand, der in wenig Tagen seinen Schlund öffnen werde, um das Kaiserhaus nebst Pietät, und anderen Sentimentalitäten – fast zu verschlingen. Fast – dieses »Fast« ist der Fluch unsrer Zeit, das Haar, an dem der Teufel der Reaktion das betrogene Volk festhält, um es bald wieder ganz beim Schopf zu fassen und in das alte Joch der Knechtschaft zu spannen. – Auch in Preußen ist ein solches unseliges »Fast« die Mutter einer eklatanten Contrerevolution geworden. – Doch am fünften März waren die guten Wiener freilich noch nicht so klug, denn sie wußten noch gar nicht, was eine Revolution zu bedeuten habe. Vielleicht thue ich jedoch den gemüthlichen Wienern Unrecht; vielleicht gab es doch Manche unter ihnen, die den im Westen ausgebrochenen Sturm mit ungeheurer Eile seinen Weg nach Osten fortsetzen sahen, und sogar die Minute berechneten, in der er die schöne Kaiserstadt erreicht haben würde.

Unter den Spaziergängern, welche die den Exerzierplatz durchschneidende jetzt noch blätterlose[6] Allee hinabschritten, würde des Lesers Aufmerksamkeit besonders von einer Gruppe erregt worden sein, die ich deßhalb, weil das von ihnen geführte Gespräch zum Verständniß unsrer Erzählung nothwendig ist, kurz skizziren will. Sie bestand aus drei Personen, die eine davon, – dem runden, breitkrämpigen Hut, so wie der schwarzen, eigenthümlich geschnittenen Kleidung nach zu urtheilen, ein katholischer Priester – war ein Mann von etwa vierzig und einigen Jahren. Aus seinem magern, aber starkknochigen und bleichen Gesicht, dessen Muskeln selbst beim Sprechen in unveränderter Ruhe blieben, traten als Hauptzüge vorzüglich eine große Entschiedenheit neben eben so großer Besonnenheit hervor. Das Haar, welches unter der breiten Krämpe seines schwarzen Rundhutes schlicht herabfiel, war schwarz und von großer Feinheit. Der Schnitt seiner edelgeformten Nase ließ auf eine sehr ernste Stirn schließen, die jetzt großentheils ebenfalls vom Hute überschattet wurde. Am charakteristischsten aber waren die tiefliegenden schwarzen Augen, in denen[7] sich eine fast unnatürliche Mischung von Leidenschaft und Kälte, Schärfe und Sanftheit, List und Gutmüthigkeit abspiegelten. Fügen wir noch hinzu, daß der Mann, wir wollen ihn Pater Angelicus nennen, beim Gehen eine etwas gebückte Haltung hatte, so weiß der Leser von dem äußern Erscheinen desselben, – und weiter wissen wir jetzt selbst nichts von ihm – genug.

Die beiden Begleiterinnen des frommen Herrn zeigten dem Anscheine nach ein sehr verschiedenes Interesse an dem Gespräch. Denn während die Aeltere – eine junge Frau von etwa 27–30 Jahren – mit gespannter Aufmerksamkeit den mit einer absichtlich tonlos gehaltenen Stimme gesprochenen Worten lauschte, schritt ihre jüngere Begleiterin mit theilnahmloser Miene und, ob aus Zerstreutheit oder Gleichgültigkeit, war schwer zu entscheiden, zu Boden geschlagenen Augen neben ihnen her. Ueberhaupt war nicht leicht ein größerer Unterschied zwischen zwei Freundinnen zu finden. Beide hatten ein schönes dunkelbraunes Haar und tiefblaue Augen, aber das Haar [8] Alicens umschattete mit seinen tausend wallenden Löckchen eine erhabene, freie Stirn, während das ihrer Freundin Lydia glatt und gescheitelt die Schläfe bedeckte. Beide waren von anziehender Schönheit, aber wie verschieden war der Typus der Schönheit Alicens von der Lydias. Jene leuchtend, intelligent, fast ritterlich stolz um sich blickend –: der Charakter eines seines eigenen Werthes bewußten und in diesem Bewußtsein starken Weibes; diese verschleiert, in sich zurückgezogen, von beinahe melancholischer Bescheidenheit – der Charakter eines nur in seiner innern – vielleicht vereinsamten – Welt hinein lebenden Mädchens. – Und doch umschlang diese beiden Frauen ein Band unzerstörbarer Freundschaft, geknüpft durch gemeinsame Erfahrungen, durch gemeinsamen Schmerz. Es war ein Band, dessen Knoten unter dem Deckel eines Sarges verborgen war, das Herz eines Mannes, den sie beide einst glühend geliebt – Alice bis zur Verachtung der Männer, Lydia bis zum Wahnsinn.

»Jetzt habe ich Ihnen Alles mitgetheilt« –[9] fuhr der Pater nach einer Pause sein Gespräch wieder aufnehmend fort – »Alles wenigstens, was Ihnen zu wissen nöthig. Hier sind die beiden Briefe. Diesen hier geben Sie in dem ersten Städtchen jenseits der Grenze auf die Post, – den zweiten an den Probst Bergmann müssen Sie bis nach Berlin mitnehmen und dort eigenhändig Seiner Hochwürden überreichen. – Wann werden Sie reisen?« –

»Wenn es nothwendig ist, noch heute Abend – doch wie? dieser Brief lautet, wie ich sehe, an die Herzogin von Nagas –«

Ein lautes Gelächter schien zu dieser mit unendlichem Muthwillen accentuirten Frage einen Commentar zu liefern, dessen Sprache dem gelehrten Pater jedoch völlig fremd war. Indessen verschmähte er es, sich durch eine Frage darüber aufzuklären, sondern wiederholte nur, indem er Anstalt machte, von seinen Begleiterinnen Abschied zu nehmen, noch einmal die Worte Alicens: »Also noch heute Abend.«

»Wenn es nothwendig ist, habe ich gesagt.[10] Und dann, ich besinne mich eben, – nein, heute Abend geht es nicht, aber morgen früh bestimmt.« Eine kleine Falte legte sich bei diesen Worten Alicens zwischen die dunkeln Augenbrauen des Paters. Nach einer Pause sagte er, einen kurzen aber forschenden Blick auf das Gesicht seiner schönen Begleiterin werfend:

»Verzeihen Sie meine Indiscretion – aber bei den großen Ereignissen, denen wir in kurzer Zeit entgegen gehen, müssen dergleichen kleinliche Bedenken wichtigeren Motiven nachstehen – Sie haben heute Abend um 9 Uhr ein Rendez-vous verabredet. Darf ich fragen, mit wem?«

Die flüchtige Röthe, welche Alicens Wangen bei Erwähnung des Rendez-vous bedeckte und welche mehr durch Ueberraschung über die Mitwissenschaft des Paters, als durch die Verlegenheit, in welche sie etwa hätte gesetzt werden können, hervorgerufen schien, machte bald ihrer gewöhnlichen, halb schalkhaften, halb schwermüthigen Miene Platz, als sie mit dem natürlichsten Tone der Welt erwiederte:[11]

»Glauben Sie, daß ich conspirire, Pater?«

»Ich habe das nicht gesagt. Indessen liegt darin nichts Unwahrscheinliches. Sie wollen mich also in dies Geheimniß nicht einweihen?«

»Du lieber Himmel – – das große Geheimniß, was zwischen der liebenswürdigen Alice und dem ebenso liebenswürdigen Fürsten Lizinsky verhandelt werden könnte.«

Der Name Lizinsky brachte eine ebenso plötzliche als gewaltige Veränderung in dem Antlitz des Paters hervor. Sein früher bleiches Gesicht verlor alle noch übrige Farbe. Seine bisher marmornen Züge wurden plötzlich beweglich, als zuckten in seinem Innern Blitze, deren Widerschein in ihnen abglänzte. – Doch bedurfte dieser gegen Aufregungen aller Art abgehärtete Mann nur eine kurze Minute, um über die Gewalt der Leidenschaften, welche jener Name in ihm entfesselt, vollständig Herr zu werden. Nur einige Schweißtropfen, welche auf seiner Stirne perlten, ließen die Größe des innern Kampfes ahnen.

»Also der Fürst – Lizinsky ist hier?« –[12] sprach er mit der ihm eigenthümlichen Ruhe in Ton und Geberde.

»Und was finden Sie Auffallendes darin, daß Lizinsky in Wien ist?« fragte Alice, die sich die ungeheure Aufregung, in die ihr geistlicher Freund durch jenen Namen versetzt wurde, gar nicht erklären konnte. – »Steht etwa der Fürst bei Ihnen ebenfalls in dem Verdachte, daß er conspirire – – vielleicht mit mir conspirire?« – setzte sie laut lachend hinzu.

Der Pater blickte sich besorgt um. Es war Niemand in der Nähe, der die letzten Worte hätte hören können.

»Sprechen Sie nicht so laut. Sie wissen noch nicht, was zuweilen an einem Namen hängt, doch das ist jetzt Nebensache.«

Es trat eine Pause ein, in welcher der Pater über das nachzudenken schien, was er in Folge der eben gemachten Entdeckung gegen Alice beobachten müsse. Noch war er zweifelhaft, ob Alice wüßte, daß eine Beziehung zwischen dem Fürsten Lizinsky und der Herzogin von Nagas[13] existire. Wüßte sie hievon Nichts, so wäre es vielleicht besser, darüber zu schweigen, wenn nicht die Möglichkeit zu nahe lag, daß dem Fürsten bei dem heutigen Rendez-vous der Brief an die Herzogin zufällig in die Augen fallen könnte. Er hätte den Brief zurückfordern können, allein dies würde Alicen jedenfalls aufmerksam gemacht und sie vielleicht zur unmittelbaren Entdeckung geführt haben. Auch hatte sie ja die Adresse bereits gelesen und konnte sich durch eine einzige Frage an den Fürsten völlig darüber aufklären. Dies aber mußte unter jeder Bedingung verhindert werden. Andrerseits aber schien Alice in der That etwas davon zu wissen. Wenigstens sprach für diese Vermuthung der Umstand, daß das Lesen der Adresse an die Herzogin sie zugleich an das auf heute Abend mit dem Fürsten verabredete Rendez-vous erinnerte. – Des Paters Entschluß war gefaßt.

»Sie kennen« – sprach er mit so leiser Stimme, daß Lydia, auch wenn sie, statt ihrer völligen Indifferenz, dem Gespräche die gespannteste[14] Aufmerksamkeit gewidmet hätte, keinen Laut davon vernahm – »Sie kennen das Verhältniß, welches zwischen dem Fürsten und der Herzogin besteht?«

»Besteht? – bestand wollen Sie sagen, frommer Vater –« erwiederte sie mit schelmischer Miene.

Der Pater sah sie mit großen Augen an. Darauf schüttelte er unter ironischem Lächeln den Kopf: »Sie dürften sich diesmal im Irrthum befinden, theuerste Freundin. Die Bande, welche den Fürsten an jene Frau fesseln, sind nicht Ketten von Rosen und Vergißmeinnicht, sondern von Perlen und Diamanten.«

»Sie sind heute nicht galant gegen mich, Pater. Indeß Vertrauen um Vertrauen. Sie gehen mit einem Plane in Betreff Lizinskys um. Doch! Doch! Mich überzeugt Ihre verwunderte Miene nicht vom Gegentheil. Also wir sind in gleichem Falle. Auch ich habe meinen Plan. Tauschen wir unsre Geheimnisse aus. Die Frucht[15] unsrer Aufrichtigkeit kann möglicherweise ein Bündniß auf Leben und Tod werden.«

»Auf Leben und Tod« – wiederholte langsam der Pater, indem er einen Finger auf's Kinn legte, was er immer that, wenn er zu einem wichtigen Entschlusse kommen wollte. –

»Wohl, es sei, doch unter einer Bedingung, daß ich, versteht sich – unsichtbarer – Zeuge des Gesprächs bin, welches sie heute Abend mit ihm führen werden.«

»Gut, daß Sie schon vorhin Ihre Indiscretion befürwortet haben. Ein frommer Diener der Kirche Zeuge eines Rendez-vous zweier zärtlich Liebenden. Das Verlangen ist wenigstens originell. Ich willige ein.«

Der Pater drückte ihr die Hand. »Was meinen Plan oder vielmehr den der Kirche betrifft – denn ich handle hier nur als Diener der Kirche – so beschränkt sich derselbe darauf, das unsittliche und fast unnatürliche Verhältniß zwischen den beiden vorhin erwähnten Personen aufzulösen.«[16]

»Und zu welchem Zwecke wird dieser Plan verfolgt?«

Der Pater lächelte: »Das geht über unsre Verabredung hinaus.«

»Es ist wahr. Indessen liegt der Schlüssel neben dem Räthsel. Die Herzogin ist über die Funfzig hinaus, kinderlos und Besitzerin eines ungeheuern Vermögens, das sie, im Falle kein Fremder darauf Anspruch macht, nicht abgeneigt ist, zu milden Stiftungen zu verwenden. Habe ich richtig gerathen, mein frommer Freund?«

»In der That, Sie sind der Wahrheit ziemlich nahe gekommen. Doch nun zu Ihrem Plane.«

»Ha, das ist etwas ganz Anderes, tief angelegt, künstlich construirt, von unberechenbaren Folgen – kurz ein Riesenwerk.«

»Wenns gelingt« – sagte halb zweifelnd, halb spöttisch der Pater. Die stolze Gestalt Alicens richtete sich noch höher auf, als sie mit dem Lächeln des Triumpfs auf den Lippen und einer unnachahmbar graziös gebieterischen Handbewegung erwiederte:[17]

»Es wird gelingen. – Hören Sie mich an, Pater. Sie kennen mich noch nicht, darum will ich mich Ihnen so zeigen, wie ich bin. Wir haben beide ein Geheimniß, wir sind bereit, eins gegen das andere auszutauschen; ich weiß wohl, daß im Falle des Verrathes meinerseits mein Leben keinen Papierschnitzel werth ist. – Unterbrechen Sie mich nicht, genug, ich weiß es und sage es nur deshalb, weil ich mit Ihnen in demselben Falle mich befinde. Sie sind eine Macht, eine ungeheure Macht: sie heißt die allein seligmachende Kirche. Wohlan, auch ich bin eine Macht, ein Weib, schutz- und hülflos, wie ich hier neben Ihnen herschreite, wage ohne Bangigkeit den Kampf mit Ihrer allein seligmachenden Kirche aufzunehmen. – Diese Macht heißt: Aristokratie und Proletariat. Haben Sie mich verstanden, frommer Vater?«

Der Pater war nachdenklich geworden. Nach einer Pause sagte er: »Fahren Sie fort!«

»Sie haben mich also verstanden?«

»Wozu die Frage? Ich habe Sie verstanden!«[18]

»Und Sie wollen noch wissen, was mein Plan mit dem Fürsten Lizinsky ist? –« sagte Alice mit einer gewissen spöttischen Verachtung in Ton und Blick. »Gehen Sie, ich habe Ihnen mehr Talent in der höhern Intrigue zugetraut. – Leben Sie wohl!« Alice nahm den Arm Lydiens und entfernte sich mit ihr schnell durch eine Nebenstraße, während der Pater, ihr nachsehend, die Worte vor sich hinmurmelte:

»Dieses Weib müssen wir gewinnen oder – vernichten.« Er hüllte sich in seinen langen schwarzen Mantel und verlor sich in der Menge.[19]

Quelle:
Louise Aston: Revolution und Contrerevolution. Bde. 1–2, Band 1, Mannheim 1849, S. 5-20.
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