I

[121] Es war ein unfreundlicher Märzabend. Auf den Straßen Berlins lag ein dichter Nebel, den zu durchdringen die zahlreichen Gasflammen sich vergebens anstrengten. Mit raschen Schritten und tief in Mäntel gehüllt oder unter schützenden Regenschirmen sich bergend eilten die geschäftigen Bewohner der preußischen Residenz auf dem feuchtglänzenden Trottoir an einander vorüber.

Auf dem Thurme der Nikolaikirche in der Poststraße schlug es 8 Uhr. Zahlreich strömten aus den Tabaksfabriken der Königsstadt die Arbeiter und Arbeiterinnen, um sich nach ihren Familien in den Vorstädten zu begeben. Nicht wie die Schnitter und Schnitterinnen auf dem Lande[121] unter fröhlichem Scherz und munterem Gelächter, wenn sie dem mit Garben hochbeladenen Wagen folgend am Abend nach vollbrachtem Tagewerk ins Dorf ziehen: – lautlos und finster schlichen sie dahin, und nur eine Hoffnung beflügelte ihre Schritte, im Schlaf das Bewußtsein ihres qualvollen Daseins los zu werden. – Und wohl ihnen, wenn dies Bewußtsein in ihnen noch lebendig war, aber bei den meisten war statt dessen eine stumpfe Indifferenz vorhanden, die sie gegen Trost und Hoffnung, wie gegen den Schmerz und die Entbehrung gleicherweise unempfindlich machte. Unter den jungen Mädchen, welche aus dem hellerleuchteten Laden des Fabrikanten P.. in der Königsstraße heraustraten, wäre dem aufmerksamen Beobachter vielleicht nur eins aufgefallen, in dessen Gesicht sich noch das Gefühl der Herabwürdigung abspiegelte; und doch war gerade dieses eine der ältesten Cigarrenwicklerinnen der Fabrik. Sie hieß Anna und war 16 Jahre alt. Um sich besser gegen den allmälig zum Regen gewordenen Nebel zu schützen, hatte sie ein dunkelbraunes,[122] grobwollenes Tuch um den Kopf und Hals geschlungen, so daß man nur ihre dunkelblauen Augen, aus denen eine in diesem Alter selten verständige Resignation sprach, so wie ihre feingeschnittene Nase erkennen konnte, so richtete sie, abgesondert vom großen Haufen, einsam ihren Weg nach einer der düstern nordöstlich gelegenen Vorstädte.

Es war heute Zahltag gewesen: sie brachte den Lohn für die Arbeit einer ganzen Woche mit nach Hause. Sie rechnete nach, wie viel jede Stunde, die sie in der Fabrik angestrengt gearbeitet, ihr eingetragen habe und brachte endlich heraus, daß es im Durchschnitt fünf Pfennige ausmache. Fünf Pfennige für eine ganze lange Stunde – das war freilich wenig, um eine ganze Familie damit zu ernähren. Denn Anna mußte außer ihren Eltern noch fünf Geschwister, vor denen das jüngste noch an der Mutter Brust war, unterstützen. Zwar hatte sie noch einen ältern Bruder – Rudolph, oder wie er gewöhnlich genannt wurde: Ralph – ein fleißiger und geschickter[123] Maschinenbauer. Aber der war seit einiger Zeit ein ganz anderer Mensch geworden: früher heiter und lebensfroh, jetzt düster und in sich gekehrt. Ihr Vater, der alte Naumann, war ein geschickter Tischler, da er jedoch schon lange keine Arbeit mehr erhielt und die Noth groß war, so hatte er sein Arbeitszeug verkaufen müssen und flocht jetzt Körbe. Aber das brachte auch wenig oder nichts ein. Der Winter war sehr hart gewesen, sie hatten die Miethe nicht bezahlt und es war vorauszusehen, daß der Wirth des Familienhauses – sie wohnten in einem Familienhause im Voigtlande – ihnen im Kurzen, wie man zu sagen pflegt, den Stuhl vor die Thüre setzen würde.

Bei der Klasse von Menschen, zu denen die Naumannsche Familie gehörte, ist es etwas sich ganz von selbst Verstehendes, daß die Kinder, sobald sie die Jahre erreicht haben, wo die Sprößlinge »anständiger Leute« anfangen, das Gymnasium oder die höhere Töchterschule zu besuchen, ihre Schuld an die Familie durch Arbeit abtragen.[124] Darin liegt nicht etwa ein sentimentaler Anstrich von Edelmuth, oder Aufopferungsfähigkeit, oder Elternliebe – im Allerentferntesten nicht; sondern die Kinder sind in dieser Sphäre der Gesellschaft ein Kapital, dessen Herstellung bis zu dem Punkte, wo es seine Zinsen trägt, »gekostet« hat und nun von diesem Punkte an nicht nur durch sich selbst existiren, sondern auch einen Ueberschuß zur Amortisation der Beschaffungskosten abwerfen muß. – Es war deshalb der guten Anna auch nie in den Sinn gekommen, aus ihrer arbeitsamen und entsagungsreichen Lebensart das erhebende Bewußtsein einer sie ehrenden Handlungsweise zu schöpfen, ein Bewußtsein, das sie vielleicht gestärkt und ermuthigt hätte: Diese Reflexion lag ihr durchaus fern, sie sah darin nichts weiter als ihre »Bestimmung«, der sie nicht entgehen könne. Zwar stieg wohl zuweilen, wenn sie ihre kleinen, aber von der beißenden Lauge, worin sie die Tabaksblätter wusch, zerfressenen, harten Hände betrachtete, in ihr die Frage auf: warum denn gerade sie und so viele andere ihrer Mitarbeiterinnen zu[125] dieser beschwerlichen und wenig lohnenden Arbeit »bestimmt« seien, während es so viele junge Mädchen giebt, die ihren Tag damit hinbringen, sich zu putzen und ins Theater zu fahren – aber solche Vergleichungen kamen erstens sehr selten und gingen auch, da sie sich keine Antwort darauf zu geben wußte, spurlos vorüber.

Als sie heute ihre Rechnung überschlug, wurde wieder jene Frage in ihr wach und eine Bitterkeit, wie sie sie bis jetzt noch nicht gefühlt hatte, regte sich in ihrem Herzen.

»Bist Du etwa schlechter als jene vornehmen Damen, die mit verächtlichem Lächeln auf die ›Dirne‹ herabsehen, wenn ihr Auge zufällig auf Dich fällt? Ist es Deine Schuld, daß Du so wenig gelernt hast? Ach, wenn ich schneidern lernen könnte, ich wollte doppelt so viel arbeiten.« Die arme Anna – sie kannte kein höheres Ideal, als das Schicksal einer Putzmacherin. – – Thränen traten in ihre Augen. –

Vertieft in ihre Gedanken bemerkte sie nicht, daß schon seit längerer Zeit Jemand ihr auf dem[126] Fuße gefolgt war. Es war – so viel man in der trüben Atmosphäre bemerken konnte – ein noch junger, seiner Kleidung nach den höheren Ständen angehörender Mann, der Anna beim Heraustreten aus dem Laden bemerkt und sie seitdem mit keinem Blicke verlassen hatte. In der Nähe des Thors schien er zu einem Entschlusse gekommen zu sein.

– So spät und in dieser Gegend allein, schönes Kind? Fürchtest Du Dich nicht? –

Anna erschrak zuerst bei dieser plötzlichen Anrede einer unbekannten Stimme. Dann sah sie den unberufenen Frager groß an.

– Warum sollte ich mich fürchten? – gegenfragte sie. – Diese »Gegend« ist mein Vaterland.

Es war gewiß ein sonderbarer Ausdruck, die Gegend einer Stadt sein »Vaterland« zu nennen. In Anna's Munde klang es jedoch ganz unaffektirt, ob schon die Bitterkeit ihres Herzens sich darin mit einer für den Indifferenten nicht erkennbaren Wahrheit kund gab. In der That, wer im Berliner Voigtlande geboren und erzogen ist, für[127] den giebt es keine Vaterstadt, sondern nur ein Vaterland, das Vaterland der Entbehrung, der Menschenknechtung, der Seelenschändung. Die Bewohner und Bewohnerinnen des Voigtlandes stehen außerhalb der menschlichen Gesellschaft, sie haben ihre eigenen Gesetze, ihre eigene Sitte, ihren eigenen Glauben. Sie bilden eine Nation für sich, eine Nation der Entwürdigung im Schooße der glänzenden Residenzstadt des mächtigen, frommen, intelligenten Preußens.

Auch den Unbekannten mußte jener sonderbare Ausdruck frappiren, denn er konnte sich nicht enthalten zu fragen: Du willst sagen, daß Du Berlinerin bist, nicht wahr?

– Nein – antwortete Anna in demselben kalten und bittern Tone – ich bin Voigtländerin. Doch was geht Sie das an? Was kann Ihnen daran liegen, wo ich geboren bin?

– Sehr viel – erwiederte der Fremde, fast verwirrt. – Ich gehe ein Stück mit Dir, wenn es Dir recht ist.[128]

– Es ist mir gleichgültig – erwiederte Anna, ohne sich weiter an ihren Begleiter zu kehren.

Dieser war offenbar in Verlegenheit. Nach einer Pause, während welcher sie das Thor bereits passirt hatten, bot er ihr seinen Arm an. Anna sah ihn erstaunt an, lehnte es jedoch nicht ab, ihn anzunehmen.

– Hast Du noch Eltern? –

– Ja und fünf Geschwister –

– Da lebt ihr wohl sehr kümmerlich –

Anna seufzte und schwieg.

– Sei offen zu mir, Kind. Ich interessire mich für Dich. Vielleicht kann ich Dir helfen – wenn Du hübsch freundlich zu mir sein willst.

– Und was würde Ihnen meine Freundlichkeit nützen? Sie treiben Scherz mit mir.

– Nein, wahrhaftig nicht – betheuerte der Fremde, welcher in Anna's Antwort eine halbe Nachgiebigkeit zu erkennen glaubte. – Damit Du siehest, daß ich nicht scherze, so höre meinen Vorschlag. Ich weiß, Du arbeitest jetzt bei P...., nicht wahr?[129]

– Ja – sagte Anna erstaunt, da sie sich nicht erklären konnte, woher der Unbekannte dies erfahren haben mochte.

– Wie viel verdienst Du dort?

– Je nachdem; wenn ich fleißig bin und des Tages 11 Stunden arbeite, 4 bis 5 Silbergroschen.

– Wohlan, ich will Dir das Dreifache geben.

– Fabriciren Sie auch Cigarren? – fragte Anna naiv.

Der Unbekannte lachte. – Nein, aber ich rauche welche, – antwortete er scherzend.

– Dann kann ich nicht zu Ihnen kommen.

– Und warum nicht? – fragte Jener erstaunt.

– Weil ich nichts Anderes verstehe.

– Ah, dummes Zeug. Du wirst doch Stuben reinigen können? –

– Ja, das kann ich – sagte Anna erfreut.

– Und Geschirr blank putzen? –

– Ja wohl, das kann ich auch – sagte sie, und ihre Freude stieg.[130]

– Und Gänge in die Stadt machen und einkaufen auf dem Markte? –

– Ei, versteht sich. Ich kann sogar etwas kochen.

– Vortrefflich. So sind wir also einig.

– Einig? vorüber?

– Nun, daß Du zu mir ziehst, in meinen Dienst, meine ich. Ich gebe Dir monatlich 15 Thaler und freie Wohnung. Bist Du damit zufrieden?

– Gehen Sie, Sie wollen mich zum Besten haben.

– Du bist sehr ungläubig, mein Kind. Um Deine Zweifel zu lösen, sieh' hier Dein Handgeld. Er drückte ihr ein Goldstück in die Hand. – Mein Name ist Möller und meine Wohnung Behrenstraße **. Morgen Vormittags um 11 Uhr erwarte ich Dich. Adieu.

– Und Sie fragen gar nicht, wer ich bin und wo ich wohne.

– Wozu? – Morgen wirst Du mir's sagen.

– Aber, wenn ich nicht komme?

– Nun, dann?[131]

– Dann hätte ich das Goldstück umsonst bekommen.

– Du bist eine Närrin – dann gingen Dir ja die 15 Thaler verloren und außerdem weiß ich ja, daß Du bei P.. arbeitest.

– Das ist wahr.

Sie waren indeß an ein großes, finster aussehendes Gebäude gekommen. Kein Licht zeigte sich an den Fenstern, so daß es ganz unbewohnt schien. Nur aus den Ritzen der festverschlossenen Kellerläden blickte ein schwacher Lichtschimmer hindurch.

– Hier müssen wir uns trennen – sagte Möller stille stehend.

Anna blieb ebenfalls stehen und schien zu erwarten, daß ihr Begleiter sich entferne.

– Du wohnst doch nicht in diesem Hause? – fragte dieser endlich.

– Nein, aber mein Bruder ist darin. Er wartet auf mich.

– Wie heißt er? Ich werde ihm sagen, daß[132] er heraus kommen soll, denn ich habe darin zu thun.

– Rudolph Naumann.

– So? – sagte lang gedehnt Möller. – Nun, dann versprich mir, ich habe meine Gründe dazu, versprich mir, Rudolph noch nichts von unserer Verabredung zu sagen, auch nicht, daß Du Geld erhalten hast.

– Ei bewahre. Das bringe ich nach Hause.

– Gut. Dann warte einen Augenblick.

Möller stieg die Treppe hinab und verschwand im Innern des Hauses. Nicht lange darauf erschien Ralph.

– Gut, daß Du kommst, ich habe schon gewartet. Nun, was bringst Du? – fragte er Anna.

– Hier – sagte sie, ein Pack Cigarren aus ihrem Handkorbe nehmend – Ebert läßt Dich grüßen; er habe nichts bekommen können.

– Nichts wie Ausreden, – brummte Ralph – aber er mag sich in Acht nehmen. Die Zeit[133] ist nahe, wo wir Abrechnung halten. Sonst nichts Neues? Was ist Dir? Du zitterst ja.

– Mich friert – sagte Anna – auch hab' ich Hunger. Ich bin zu Mittag in der Fabrik geblieben.

– Hier – entgegnete Ralph, ihr ein Stück trocken Brod reichend – und nun mache, daß Du nach Hause kommst.

– Kommst Du nicht auch bald nach? – fragte Anna schüchtern.

– Was kümmerts Dich? – erwiederte er barsch und kehrte, als Anna sich entfernte, wieder in den Keller zurück.

Sollte man aus dem Ton, der zwischen den Geschwistern herrschte, wohl schließen, daß sie einander liebten, mit einer Liebe wie man sie in den »höhern Regionen« der Gesellschaft selten oder nie findet? Anna und Rudolph waren für einander jedes Opfers fähig, aber sie wußten es kaum, am allerwenigsten zeigten sie es in ihrem äußern Benehmen. So preßt des Proletariers Dasein sein Siegel selbst auf die bessern Gefühle,[134] die sich im Herzen der in seinen Fesseln Schmachtenden etwa noch vorfinden.

Als der Begleiter Anna's in den Keller trat, tönte ihm schon von fern ein wildes Geschrei und Gläsergeklirr entgegen.

– Die verdammten Jungen – brummte er – werden uns noch die Polizei zu früh auf den Pelz locken. Er trat in einen engen Gang, dessen Windungen ihm aber bekannt zu sein schienen, und der durch eine schwere, eisenbeschlagene Thür begrenzt wurde. Er steckte leise einen Schlüssel in die Thür und öffnete sie.

Ein dichter Tabacksqualm, der die beiden auf einem langen mit Gästen besetzten Tisch brennenden Lichter fast erstickte, strömte ihm entgegen.

Als sich seine Augen und seine Lunge an diese Atmosphäre etwas gewöhnt hatten, unterschied er – unter der Thüre stehen bleibend – die einzelnen Gestalten. Es mochten 15 bis 20 junge Männer sein, ihrem Aeußern nach zu urtheilen, meist dem Arbeiterstande angehörig, kräftige Gestalten und intelligente, aber meist düstere Physiognomien.[135] Vier oder fünf unter ihnen gehörten offenbar einer gebildeten Klasse der Gesellschaft an, doch war es schwer zu entscheiden, waren es Künstler, Gelehrte oder Kaufleute. Die Gesellschaft schien in einen heftigen Streit gerathen zu sein, den der an einem Ende des Tisches sitzende Präses vergebens zu beschwichtigen versuchte. Er war mit dem Rücken nach der Thüre zugewendet, so daß er den Neuhinzugekommenen nicht bemerkte; die Andern waren zu sehr in ihren Streit vertieft, um auf irgend etwas anders als auf ihre Gegner Acht zu geben: so stand Jener wohl eine halbe Minute, indem er sich an dem Wirrwarr zu ergötzen schien.

– Holla, ihr Großmäuler, nennt Ihr das eine geordnete Debatte? Warum ist keine Wache ausgestellt, Ralph? Antworten Sie, Herr Präsident!

Diese unerwartete Anrede brachte eine plötzliche Verwandlung in der Versammlung hervor. Alle sprangen von ihren Sitzen empor und drängten sich begrüßend, fragend um den Eingetretenen[136] mit dem Rufe: Das ist Gilbert! Willkommen Gilbert!!

– Ruhig Brüder! Bezähmt Eure Neugier – sagte der Unbekannte, welcher sich der guten Anna, wie es scheint, unter falschem Namen bekannt gemacht hatte. – Zum Teufel, so laßt mich in Ruhe und setzt Euch wieder um den Tisch. Du, Ralph, wirst draußen verlangt. Beeile Dich aber, daß Du wieder herein kommst.

Ralph entfernte sich, und Möller, oder vielmehr – wie er von der Gesellschaft genannt wurde – Gilbert nahm seinen Platz ein. Sogleich trat ein allgemeines Schweigen ein; Aller Augen richteten sich mit gespannter Aufmerksamkeit auf Gilbert. Dieser aber schien ihre Neugierde noch nicht befriedigen zu wollen, sondern sagte nur:

– Nun, worüber seid Ihr denn so in Hitze gerathen?

Ein Dutzend Köpfe streckten sich vor, um zu antworten, aber die aufgehobene Hand Gilberts band ihre Worte an die redelustigen Zungen.

– Hartwig, mein braver Junge, antworte[137] Du. Ich sehe hier Meister Proudhons Buch »über das Eigenthum« aufgeschlagen. Es war also eine socialistische Frage, die Euch so in Harnisch brachte.

Hartwig, der Angeredete, seines Berufs ein Mechaniker, war ein junger Mann von einnehmendem Aeußern. Verschieden von den Andern sprach sich eine derbe Offenheit in seinem heiteren, jetzt von der Leidenschaft des Streites geröthetem Gesicht aus. In seinen hellblauen Augen lag Entschlossenheit des Charakters; das Gefühl des »Sich auf sich selbst Verlassen könnens« war unverkennbar seinem ganzen Wesen aufgeprägt. Hartwig war ein durchaus zuverlässiger Mensch, oder wie Gilbert sagte: »ein braver Junge.«

– Was wird's gewesen sein – sagte er halb ironisch, als die Frage über die Quadratur des Zirkels für alle Proletarier, das Eigenthumsrecht.

– »Eigenthumsrecht« – brummte Hartwigs Nachbar, ein alter Griesgram mit weißen Haaren, der mit ihm in derselben Werkstätte arbeitete,[138] – dummes Zeug: das ist ja eben die Frage, ob Recht oder Unrecht. Schwatzt der Gelbschnabel von Eigenthumsrecht; ich aber sage, es giebt kein Eigenthumsrecht, es giebt nur ein Eigenthumsunrecht.

– Bravo, Vater Steiger! – rief Gilbert aus – Du kennst Deinen socialistischen Katechismus wie das Vaterunser, oder noch besser. Aber stör' uns jetzt nicht. Fahr fort, Hartwig, mein Junge.

– Ralph, der immer den Superklugen spielen will, fing damit an, den ersten Satz Proudhons, »das Eigenthum ist Diebstahl«, zu erklären und meinte, man müßte ihn eigentlich umdrehen und sagen: der Diebstahl, oder noch deutlicher, der Dieb ist der wahre Eigenthümer.

– Und das ist auch ganz vernünftig – brummte Vater Steiger.

– Das läßt sich hören – meinte gravitätisch Gilbert. – Und wer unternahm es, dem zu widersprechen?

– Ich – sagte mit Stolz Hartwig. – Und ich glaube, ihn vollständig geschlagen zu haben.[139]

– Nun laß hören – sagte lächelnd Gilbert

– Wenn der Dieb der wahre Eigenthümer sein soll, und dies allgemein anerkannt wird, so kann dies nur soviel heißen, als: die Menschen sind berufen, Diebe zu sein; damit hört aber zugleich der Diebstahl auf, ein Unrecht zu sein, und man kann folglich gar nicht mehr davon reden. Wenn aber kein Dieb mehr existirt, so kann man auch gar nicht mehr den Satz aufstellen, daß der Dieb der wahre Eigenthümer ist. Soll also dieser Satz einen Sinn haben, so kann er nur der sein: ein wahrer Eigenthümer existirt nicht, sondern wer sich als Eigenthümer gerirt, der allein ist als Dieb zu betrachten, weil er für sich allein behalten will, was Allen gehört. –

– Dummes Zeug! – meinte der alte Steiger.

– Bist ein tüchtiger Logiker, mein Junge – sagte beifällig lächelnd Gilbert – und nun der Schluß?

– Sagen wir also – fuhr jener fort – was ich bewiesen habe: Wer als Eigenthümer für sich[140] auftritt, ist als Dieb an dem Eigenthum der Gesellschaft zu betrachten – so sind wir damit auf den Proudhon'schen Satz: la propriété c'est vol zurückgekehrt, woraus folgt, daß wenn die Umkehrung des Satzes einen Sinn haben soll, dieser kein anderer sein kann, als der in dem nicht umgekehrten Satze liegt.

Ein großer Theil der Gesellschaft, welche der mit überzeugungsvoller Bestimmtheit vorgetragenen Schlußfolge mit der größten Aufmerksamkeit zu folgen versuchte, ohne daß ich indeß behaupten will, daß das Resultat der Bemühung eines Jeden entsprochen hätte, spendete dem Redner einen lauten Beifall, welcher sofort eine eben so laute Opposition von der andern Seite hervorrief.

– Ruhig – rief Gilbert mit donnernder Stimme dazwischen, indem er mit geballter Faust auf den Tisch schlug. – Könnt Ihr nicht Ordnung halten?

In diesem Augenblicke trat Ralph wieder ein. Gilbert warf einen schnellen forschenden Blick auf[141] ihn, um in seinen Gesichtszügen zu lesen, ob ihm seine Schwester über ihr Gespräch Mittheilungen gemacht. Ralphs Miene war nicht düsterer wie sonst und beruhigt wandte sich Gilbert mit der Frage an ihn:

– Und was ist denn Deine Ansicht hierüber? – Er wies auf das vor ihm aufgeschlagene Buch. – Ist es wahr, daß Du, wie man erzählt, eine Spitzbuben-Republik stiften willst? – Es lag ein Beigeschmack von höhnender Ironie in diesen mit lächelnder Miene vorgetragenen Worten, welche den stolzen Sinn Ralphs verletzte. Indeß theilte er die Scheu, welche seine Gefährten vor Gilbert hatten, wenigstens in so weit, um seinem ausbrechenden Zorn einen Zügel anzulegen. Nur seine Stirn war noch finsterer und seine Augen tiefer, als er, einen langen verächtlichen Blick über die Gesellschaft werfend, erwiederte:

– Meine Meinung ist die, daß wir endlich mit dem Hin- und Herreden aufhören und mit dem Handeln beginnen. Lassen wir also den läppischen Streit über das Eigenthum und kommen[142] wir zur Sache. Du versprachst uns heute Nachrichten aus Wien, Gilbert. Wie steht's damit?

– Wahrhaftig Du hast recht, Ralph – versetzte Gilbert mit seiner gewöhnlichen Bonhommie, ohne von dem fast drohenden Ernst in Ralphs Ton Notiz zu nehmen. – Es ist Zeit, daß wir zu handeln beginnen. Aber meinst Du – fuhr er fort – meinst Du, daß ich unterdeß geschlafen habe, während Ihr hier Euch an fruchtlosen Debatten ergötztet? Habt Acht, Freunde, daß, wenn die Stunde des Handelns kommt, ihr eben so darauf vorbereitet seid, wie ich. Und diese Stunde ist Euch näher als Ihr in diesem Augenblicke vermuthet. Darum laßt uns vor Allem unsere Kräfte prüfen. Ich komme so eben von der Gräfin. Die Blüthe unserer Aristokratie war wieder versammelt. Unsere Junker vom Heere und von der Diplomatie haben keine Ahnung von den Dingen, die ihrer warten. Zwar beunruhigt sie der Gedanke an die französische Republik und die Flucht Louis Philipps, des bösen Blutes wegen, das so ein Beispiel diesseits des Rheins hervorbringen[143] könnte. Doch sind sie eben so sehr davon überzeugt, daß die Republik keinen Bestand haben könne, wie davon, daß dies böse Beispiel in unserm lieben Deutschland keine Nachahmer finden werde. Ich erwähne diese Stimmung in den »höheren Regionen« übrigens nur beiläufig, als schlagenden Beleg für die Wahrheit, daß Gott den mit Blindheit schlägt, den er verderben will. Denn im Uebrigen ist unsere Sache nach allen Anzeigen so weit gediehen, daß wir theils nicht mehr Rücksicht auf »Stimmungen« zu nehmen brauchen, theils auch nicht mehr können. Auch die Nachrichten aus den Provinzen lauten günstig. Man spricht sogar von einer Lossagung der Rheinlande von Preußen und einer Anschließung an die französische Republik. Schlesien ist noch ruhig, aber hält seine Blicke fest auf den Rhein gerichtet. Vorzugsweise aber regt sich's in Posen. Es wird dort bedeutend gearbeitet. Was mich tief niedergeschlagen hat, ist die Bemerkung, daß alle Briefe, die ich erhalten, von Berlin nichts erwarten. Nun, ich hoffe, Berlin wird sich Achtung zu erzwingen[144] wissen. – Aus Wien habe ich ebenfalls Nachrichten vom Präsidenten der Achtzehner und vom Pater Angelikus. Beide lauten günstig und übereinstimmend dahin, daß Alles auf's Beste vorbereitet ist und der Hauptschlag wahrscheinlich schon erfolgt ist, wenn wir dieses lesen.

Ein Gemurmel des Beifalls lief über die Lippen der Anwesenden bei dieser Nachricht.

– Diese Briefe habe ich vor einer halben Stunde von einer Freundin erhalten; und nun rathet einmal, wer sie mir gebracht hat? – – Unsere Präsidentin. Diesmal hatte es nicht bei einem bloßen Gemurmel sein Bewenden. Die Gesellschaft brach in einen Schrei des freudigsten Erstaunens aus und bestürmte den lächelnden Gilbert mit Vorwürfen, daß er Alicen nicht mitgebracht. Nur Ralph verharrte düster und in sich gekehrt auf seinem Platze.

– Es war unmöglich – fuhr Gilbert fort – Alice war zu angegriffen von der schnellen Reise, auch war ich nicht gewiß, ob die Versammlung vollzählig sein würde. Auf Morgen denn. –[145] Nun kommt die Reihe an Euch, Rapport abzustatten.

Wo ist der Lieutenant?

– Er ist heute nicht hier gewesen – lautete die Antwort.

– Ha, – das ist fatal. Was kann die Ursache davon sein? – sagte Gilbert nicht ohne Unruhe – Ihr hättet nach ihm schicken sollen. Holm!

– Hier – antwortete eine Stimme am Ende des Tisches.

– Gut – sagte Gilbert, eine Schreibtafel hervorlangend. – Was hast Du von den Künstlern zu berichten?

– Wir sind jetzt auf 85 angewachsen, lauter sichere Leute, meistens Bildhauer und Maler. Mit den Musikern will's nicht recht gehen. Die Kerls sind unzuverlässig und feige. Schade, sie sind der Zahl nach am stärksten. Aber wir mußten vorsichtig sein. Mit der Bewaffnung will's auch nicht recht vorwärts. Wir haben einige zwanzig Büchsen, aber keine Munition. Hier ist mein Beglaubigungsmandat[146] für den Fall, daß Beschlüsse gefaßt werden sollten.

– Wo ist Euer Versammlungslokal? –

– Unser Versammlungslokal? – fragte der junge Maler erstaunt.

– Nun, allerdings. Was wunderst Du Dich darüber? Oder haltet Ihr keine Versammlungen?

– Freilich halten wir Versammlungen. Allein –

Ralph, der bei der ersten Frage Gilbert schon mit aufmerksamem Auge betrachtet, sagte jetzt, einen festen Blick auf ihn richtend: Die einzelnen Versammlungslokale werden nicht angegeben; wir haben das so ausgemacht, damit, wenn ja ein Verräther unter uns sein sollte, wenigstens nur wir, die Vertreter der verschiedenen Corps, nicht die ganzen Corps compromittirt werden können. Wir müssen sicher gehen, das werdet Ihr einsehen.

Gilbert antwortete kein Wort, doch wer, wie Ralph, ihn mit mißtrauischem Auge betrachtete, würde bemerkt haben, daß ihm diese Einrichtung nicht angenehm war.

– Außerdem – fuhr Ralph in demselben düstern[147] Tone fort – ist ausgemacht, daß Niemand Etwas unter uns aufschreibe von Dingen, die die Gesellschaft betreffen, und deshalb nehme ich mir die Freiheit, dieses Blatt zu zerreißen. – Er ergriff mit diesen Worten die Schreibtafel Gilberts und war im Begriff, sie in den Kamin zu werfen, in dem noch einige Kohlen brannten, als Gilbert mit einer Hast, die von Ralph nicht unbemerkt blieb, ihm in den Arm fiel und ihn so an seinem Vorhaben hinderte.

– Was soll das bedeuten, Bursche? – rief er aus, indem er krampfhaft die Faust ballte. – Hast Du Lust, hier den Diktator zu spielen?

Es herrschte während dieser Scene ein peinliches Stillschweigen in der Gesellschaft, bis endlich der alte Steiger, von seinem ihm durch das Alter gewährten Vorrecht Gebrauch machend, sich in's Mittel legte.

– Das fehlte noch, daß die Beiden einander in die Haare geriethen. Seid gescheut, Gilbert, und nehmt's Euch nicht zu Herzen. Und Du,[148] Freund Grobian, machst mir keine dummen Streiche, hörst Du? –

Ein vielsagender Blick, den Ralph vom alten Steiger erhielt, schien endlich auf ihn zu wirken.

Er reichte demselben die Hand und verließ, ohne ein Wort weiter zu sagen, das Gemach.

Gilbert fühlte sich durch Raph's Entfernung offenbar erleichtert und wandte sich jetzt an Steiger mit dem Ersuchen, seinen Rapport abzustatten.

– Nun bei uns – sagte dieser – steht's besser, mein' ich, das kann der Gelbschnabel da – er zeigte auf Hartwig, den er nächst Ralph am meisten liebte, was er dadurch zu erkennen gab, daß er am meisten mit ihnen zankte – das kann der Gelbschnabel da am besten bezeugen. Wir sind unser nahe an 400, lauter »stramme Burschen,« hart wie Eisen, das wir bearbeiten. Und was das Uebrige betrifft, Waffen und so weiter, so wird's uns auch wohl nicht fehlen, wenn wir auch gerade keine Büchsen haben. Eine tüchtige Brechstange thut auch ihre Dienste.

– Bravo, Vater Steiger – lächelte Gilbert,[149] der seinen Gleichmuth wiedergefunden hatte. – Nun kommt an Dich die Reihe, Straubig. – Straubig war Student.

– Laß mich in Ruhe – sagte der mürrisch – die Berliner Studenten taugen den Teufel nicht wozu. Räsonniren können sie genug, aber wo es darauf ankommt, etwas zu thun, da bekommen sie das Kanonenfieber wie der jämmerlichste Fuchs, wenn er zum ersten Mal auf der Mensur steht. Unter den zweitausend Burschen giebt's kaum 150, auf die wir uns verlassen können. Aber diese 150, das ist wahr, die sind tüchtige Kerle. Sie sind in Sektionen getheilt und beziehen sektionenweise ihre bestimmten Kneipen. Mit den Waffen sieht's freilich auch bei uns nicht besonders aus. Hieber und Rappiere haben wir wohl genug, auch einige 50 paar Pistolen, aber das will nicht viel sagen.

Schadet nichts – erwiederte Gilbert – die Waffen werden sich finden, verlaßt euch darauf. Ist's erst so weit, daß wir losschlagen können, so ist jeder Waffenladen ein Zeughaus für uns.[150] Vor allen Dingen laßt euch durch den Mangel an Waffen nicht abhalten, so viel Pulver und Blei im Einzelnen einzukaufen, als ihr irgend könnt, ohne Aufsehen zu erregen. –

In diesem Augenblick wurde die Thür mit einer Hast aufgerissen, die eine allgemeine Bestürzung hervorbrachte. Es war Ralph. Seine verstörten Gesichtszüge schienen nichts Gutes zu verkünden.

– Die Polizei ist uns auf der Spur – rief er aus. – Schnell die Lichter ausgelöscht bis auf Eins. – Es geschah. – Folgt mir jetzt. – Er ergriff das letzte Licht und schloß eine kleine, mit Eisen beschlagene Thüre auf, die durch einen langen unterirdischen Gang nach dem Hintergebäude führte. Nachdem er sie hinter sich wieder verschlossen hatte, eilte die ganze Gesellschaft mit schnellen aber unhörbaren Schritten den Gang entlang. Bald darauf erschien das Licht auf der andern Seite des Hofes und verschwand endlich. Eine Minute später traten zehn Gensdarmen und ein[151] Polizei-Commissarius mit Blendlaternen in den Keller.

– Das Nest ist leer – rief der Anführer.

– Aber die Vögel können noch nicht lange ausgeflogen sein – antwortete der Commissarius, indem er, um den Grund zu seiner Behauptung deutlich zu machen, auf die glimmenden Kohlen zeigte. Nichts blieb ununtersucht. Die eisenbeschlagene Thür war bald aufgefunden, aber sie widerstand allen Oeffnungsversuchen.

Die Häscher mußten unverrichteter Sache wieder abziehen.[152]

Quelle:
Louise Aston: Revolution und Contrerevolution. Bde. 1–2, Band 1, Mannheim 1849, S. 121-153.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Revolution und Contrerevolution
Revolution Und Contrerevolution
Revolution und Contrerevolution

Buchempfehlung

Chamisso, Adelbert von

Peter Schlemihls wundersame Geschichte

Peter Schlemihls wundersame Geschichte

In elf Briefen erzählt Peter Schlemihl die wundersame Geschichte wie er einem Mann begegnet, der ihm für viel Geld seinen Schatten abkauft. Erst als es zu spät ist, bemerkt Peter wie wichtig ihm der nutzlos geglaubte Schatten in der Gesellschaft ist. Er verliert sein Ansehen und seine Liebe trotz seines vielen Geldes. Doch Fortuna wendet sich ihm wieder zu.

56 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon