IV

[176] Gilbert hatte indeß einen ganz andern Weg eingeschlagen, nämlich nach dem Hotel der Gräfin Bedford, welche heute Abend ihren großen Salon geöffnet hatte. Die Gräfin Bedford war eine Frau von nahe an vierzig Jahren, was sie jedoch keineswegs hinderte, noch eben so schön als liebenswürdig zu sein, eine Bemerkung, die, da sie nicht nur von ihr selbst, sondern auch von einer zahlreichen Menge eleganter Verehrer gemacht wurde, die Gräfin vollkommen dafür entschädigte, daß in den engern Zirkeln der »honetten Bourgeoisie« und der »Aristokratie comme il faut« ihr Ruf zuweilen mit dem Prädikat der Zweideutigkeit charakterisirt wurde. Ihren Salon, in welchem,[176] – wenn nicht der sogenannte »beste« – so doch gewiß ein Ton herrschte, der an Feinheit dem der »höhern Zirkel« die Spitze bot, an Lebendigkeit und Geschmack dagegen ihn bei weitem hinter sich ließ, füllten die Elegants aus allen Nüançen und Schichten der sogenannten »höhern Gesellschaft;« Barone, Grafen, selbst Sprößlinge erlauchter Häuser, Diplomaten, Künstler, Gelehrte, Banquiers: sie hatten Alle Zutritt unter der einzigen Voraussetzung, daß sie gebildet genug waren, um die große Wahrheit zu begreifen, daß es nur eine Schranke für den Gegenstand einer öffentlichen Unterhaltung giebt: die Langeweile – und interessant genug, um die seltene Kunst zu verstehen, sich innerhalb dieser Schranke mit taktvoller Eleganz und pikanter Feinheit zu bewegen. Kurz der Grundsatz: »Die Form (versteht sich die schöne, die anmuthige Form) ist die alleinige Bedingung für jedweden Inhalt des ›bon ton‹« kam in dem Salon der Gräfin Bedford zur ausgedehntesten Geltung. Diesem Grundsatz gemäß hatte die schöne Wirthin dafür gesorgt, jedem der verschiedenen[177] Elemente, aus denen ihre Gesellschaft zusammengesetzt war, einen den besonderen Interessen und Neigungen entsprechenden Spielraum und Stoff darzubieten. An den großen Saal, in welchem das Gespräch allgemein war, stießen mehrere kleine Säle und Zimmer, zur Benutzung für diejenigen, welche, an diesem allgemeinen Gespräch kein Interesse findend, die Lust der Absonderung in sich verspürten. In einem dieser Zimmer waren Spieltische aufgestellt, ein anderes bot eine große Auswahl der gelesensten Journale des In- und Auslandes dar, ein drittes war zu einer kleinen Bildergallerie eingerichtet, welche Gemälde und Kupferstiche der berühmtesten Meister der Gegenwart enthielt. Außer diesen Zimmern gab es noch eine Menge kleiner, reizend eingerichteter Boudoirs, in welche man sich allein oder zu einem vertrauten tête-à-tête zurückziehen konnte. In allen aber – wie verschieden sie auch sonst waren – herrschte dieselbe raffinirte Verbindung von materiellem Luxus und geistigem Comfort.

An dem heutigen Abend jedoch schien über der[178] Stimmung der zahlreicher als sonst versammelten Gäste eine verdüsternde Wolke zu schweben. Die Gespräche waren weniger laut und allgemein. Der große Salon war fast leer. Desto gefüllter waren die Nebensäle und Boudoirs. Das Journalzimmer schien heute vorzugsweise in Anspruch genommen zu werden. – Kein Wunder, weil die kaum 14 Tage alte Revolution in Paris und die neuesten Dekrete der provisorischen Regierung Aller Gemüther beschäftigte.

Wer in diesem Augenblicke an den runden Tisch getreten und die verschiedenen Physiognomien der über die Zeitungen gebückten Köpfe beobachtet hätte, würde die Bemerkung gemacht haben, daß in den Salons der Gräfin nicht nur die verschiedensten Typen des socialen Lebens, sondern auch die heterogensten politischen Ueberzeugungen und Sympathien vertreten seien. Besorgniß, Ironie, Freude, Zorn, Begeisterung und höhnische Wuth leuchtete aus den Blicken der eifrigen Leser, und machte sich in einzelnen Ausrufen Luft. –

Da jedoch diese einsylbigen Monologe die einzigen[179] Lebensäußerungen waren, die sich in diesem Zimmer kund thun durften, so würde auch dem, für dergleichen unwillkührliche mimische Darstellungen empfänglichste Beobachter bald einen Mangel an Stoff gefühlt und sich nach einem andern für die Beobachtung mehr Interesse darbietendem Orte begeben haben. Wir wenigstens fühlen uns hiezu bewogen und fordern den Leser auf, ein Gleiches zu thun.

In einem der vom Hauptsaale entferntesten Boudoirs, welches unmittelbar mit den Privatzimmern der Gräfin zusammenhing, saßen zwei Damen in einem – wie es schien – für sie sehr interessanten Gespräch vertieft, auf dem weichen, mit Sammet gepolsterten Divan. Eine Astrallampe mit silbernem, kunstvoll ciselirtem Fuße warf auf die beiden Frauen einen matten Schein, der ihre Züge jedoch hinlänglich erkennen ließ. Die Jüngere von ihnen war eine jener lieblichen Erscheinungen, welche nie altern, da ihre Schönheit nicht in dem Schnitt des Gesichts und der einzelnen Theile, sondern im geistigen Ausdruck der[180] Züge beruht. Obgleich sie schon dreißig Jahre zählte, so besaß ihr Gesicht doch die ganze Lieblichkeit und Zartheit eines 17jährigen Mädchens, und keine Falte deutete an, daß die glühendsten Leidenschaften in diesen »sanften Zügen« gewühlt hatten. Sie lehnte ihren Kopf auf die linke Hand, welche sich auf die Sophalehne stützte und schien mit Neugierde den Worten zu lauschen, welche dem beredten Munde ihrer Freundin entströmten. Diese, vielleicht acht bis zehn Jahre älter, von stolzer, imposanter Figur, war nicht minder schön, als Jene, wenn auch im ganz andern Genre. Die Fülle ihrer Formen berührte nahe die Grenze, jenseits deren Schönheit und Anmuth sich trennen, und würde vielleicht mehr aufgefallen sein, wenn sie durch den Adel der ganzen Haltung und fast majestätischen Würde in allen Bewegungen nicht gewissermaßen motivirt worden wäre.

– Ich begreife Ihre Indifferenz nicht, theure Baronin – sagte die Gräfin Bedford, denn dies war die zuletzt geschilderte der beiden Frauen, in eifrigem Tone – kann es Ihnen gleichgültig[181] sein, eine Rolle, die Sie allein mit dem richtigen Takte zu spielen verstehen würden, in ungeschicktere und unwürdigere Hände fallen zu sehen? Gestehen Sie, daß Sie blasirt sind; nur so kann ich mir diese seltsame Apathie erklären. Oder sollten Sie Grund haben, blasirt zu scheinen – auch mir gegenüber? – Alice!

Es lag ein leiser Vorwurf in dem Tone, mit dem die Gräfin die letzten Worte und besonders den Namen »Alice« aussprach. Die Antwort darauf war ein leises Kopfschütteln und ein halbes Lächeln.

– Blasirt? – sagte Alice, ohne ihre Stellung zu verändern – Sie können recht haben. Sehen Sie sich doch alle diese Marionetten an, welche in der Welt »Männer« heißen – ich nehme selbst die nicht aus, welche Sie bei sich sehen, Gräfin, obgleich ich zugebe, daß sie zu der bessern Sorte gehören. – Sehen Sie sie sich an, und dann fragen Sie sich, ob es sich lohnt, daß man ein Glied rührt, um Einen derselben zu betrügen. – Nein, nein; der Triumph ist zu leicht und[182] darum zu wenig lohnend. Ja, wenn es sich nicht immer um den Einzelnen handelte, sondern um das ganze Geschlecht, dann ließe sich davon reden. Geben Sie mir – fuhr sie fort, indem sie sich halb aufrichtete und ihre kleine Hand ausstreckte – geben Sie mir das ganze Geschlecht in die Hand, um es mit einem Schlage demüthigen zu können, und ich will anerkennen, daß das Ziel der Mühe werth ist, die man daran setzt, es zu erringen; ja, ich will Ihnen danken.

Nach den letzten Worten, welche Alice mit erhobener Stimme und gerötheter Wange gesprochen hatte, fiel sie wieder in ihre frühere theilnahmlose Stellung zurück.

– Sie vergessen, daß es sich hier nicht um eine bloße Person und deren Empfindungen handelt, sondern um eine ganze Partei, welche diese Person mit diesen Empfindungen vertritt. Wohlan, machen Sie sich zur Herrin dieser Empfindungen, so sind Sie Herrin der ganzen Partei und was mehr, des Prinzips, welches diese Partei[183] regiert. Und dann vergessen Sie auch, daß hier von einem Fürsten die Rede ist.

Alice lachte. – Und wenn ich nun weder das Eine, noch das Andere vergessen hätte? Wenn nun gerade der Grund meines Widerstrebens darin läge, daß ich es nicht vergessen, wie dann Gräfin?

– Freilich dann – sagte diese gedehnt – dann habe ich hierüber nichts mehr zu sagen, als mein Bedauern darüber auszudrücken, daß Sie diese wahren Motive nicht eher erklärten. Ich hätte meine Gründe sparen können.

Die Gräfin erhob sich.

– Sie sind beleidigt – begütigte Alice, ohne daß dies meine Absicht war. Hören Sie meinen Grund und die Bedingung, von der mein Entschluß abhängt, so werden Sie mir nicht zürnen.

Sehen Sie, theure Gräfin, mir ist nichts mehr zuwider als diese ewigen inhaltslosen Koketterien, welche doch nur stets dasselbe einfältige Ziel haben. Wäre ich nicht zu bescheiden, so könnte ich auf mich die Worte des großen Friedrich anwenden: »Ich bin es müde, über Sklaven zu herrschen.«[184] Und dennoch – Sie werden es vielleicht für Heuchelei oder mindestens für Beschränktheit halten, was ich jetzt sagen werde – dennoch ist es mir leichter, in Ermangelung einer bessern Beschäftigung, dieses kindische Spiel mit Männerherzen fortzusetzen, als unter der Maske desselben anderweitige »politische« Zwecke zu verfolgen. In jenem Falle entwürdigen sich wenigstens nur die Männer, in diesem entwürdige ich mich selbst; dort fällt die ganze Schmach auf den Besiegten, hier noch weit mehr auf die Siegerin. Trotzdem, Gräfin, würde ich – schon aus Gefälligkeit für meine Freunde – nicht abgeneigt sein, mit dem Fürsten anzubinden, wenn ich nicht sonst – gebunden wäre – –

– Ich verstehe Sie nicht – rief die Gräfin erstaunt aus.

– Nehmen Sie es wörtlich, was ich gesagt habe.

– Und das soll für mich als Grund gelten? Sie wollen mich zum Besten haben.

– Die Fäden könnten sich kreuzen, und dann kann man für die Folgen nicht stehen. Doch, sagen[185] Sie mir, liebe Gräfin, warum wollen Sie selbst nicht diese Rolle übernehmen?

– Ich? – Unmöglich.

Alice dankte mit einem ironischen Lächeln für diese indirekte Schmeichelei.

– Erstlich würde ich zu ungeschickt dazu sein und dann ist meine Stellung eine viel zu offene, als daß man mir nicht leicht in die Karten sehen sollte.

– Ich glaube gerade, daß je offener Ihre Stellung ist, desto leichter sollte es Ihnen werden. Nächst dem entlegensten Schlupfwinkel gewährt Nichts eine größere Sicherheit als Orte, die Allen zugänglich sind. Man sieht nicht, wo man nichts vermuthet. Indeß ich gebe zu, Sie mögen Ihre Gründe haben. Um so mehr hoffe ich Nachsicht bei Ihnen für die meinigen zu finden. Und dann – soll ich Ihnen noch einen Grund sagen? Ich habe eine unbezwingliche Abneigung gegen alle Politik.

– Ich will nicht weiter in Sie dringen. Die Sache ist abgethan, sprechen wir nicht mehr darüber.[186]

Die beiden Frauen erhoben sich, um sich in den großen Gesellschaftssaal zu begeben.

– Ich werde Sie en passant mit unseren Notabilitäten bekannt machen – sagte die Gräfin, während sie Arm in Arm mit Alicen durch die Säle schlenderte, und sich beide eben im Zeitungszimmer befanden. – Sehen Sie dort den schmächtigen jungen Mann mit der feinen Nase und den klugen Augen, welcher den Pariser Constitutionel studirt, das ist der Professor Lips, der sich durch seine Reisen nach Aegypten einen Namen und durch die Heirath mit einem reichen Gänschen ein glänzendes Vermögen erworben hat. In seinem Nachbar zur Rechten, ich meine jenen kurzen, dicken Herrn mit der grünen Brille, die fast das halbe hochrothe Gesicht bedeckt, erblicken Sie einen unserer bekanntesten Millionärs, der das doppelte Verdienst besitzt, in eben so naher Verwandtschaft zu der weiland berühmten Sängerin S...., als zu der nicht minder berühmten Hofbuchdruckerei von D... zu stehen. – Ihm gegenüber sitzt der Prinz A.. Betrachten Sie ihn genau und antworten[187] Sie mir dann aufrichtig, ob Sie sein Gesicht interessant finden. Herr von St. Just, mit dem ich gestern über den Prinzen sprach, ist freilich vernarrt in ihn.

A propos, kennen Sie Herrn von St. Just? Doch nein, das ist ja unmöglich, da er erst seit kurzer Zeit hier ist und Sie kaum von der Eisenbahn gestiegen sind. Desto besser, so steht Ihnen noch eine interessante Bekanntschaft bevor. Ich hoffe, Ihn noch heute hier zu sehen, dann werde ich ihn Ihnen sogleich vorstellen.

In diesem Moment öffneten sich die Flügelthüren des großen Saals, in welchen die beiden Frauen eben eintraten, und der Jäger meldete den »Chevalier Arthur von Saint Just

Unwillkührlich erhoben sich die Blicke Alicens auf den Neuangekommenen und blieben erstaunt einige Sekunden auf seinem Gesichte ruhen. Fast in dem nämlichen Augenblicke begegnete ihrem Auge auch schon das blitzende Auge des Chevaliers, und Alice wendete sich mit scheinbarer Gleichgültigkeit zu ihrer Begleiterin.[188]

– Wohlan, folgen wir dem Winke des Schicksals – sagte sie lächelnd – das uns in derselben Minute den Chevalier entgegentreten läßt, in welcher Sie mich auf seine interessante Bekanntschaft neugierig machen.

Nachdem der Chevalier der Gräfin begrüßend die Hand geküßt hatte, stellte sie ihn ihrer Freundin vor, und verließ darauf Beide, um sich der übrigen Gesellschaft zu nähern.

Um den Grund des Erstaunens zu erklären, mit dem Alice auf den Chevalier St. Just geblickt hatte, müssen wir den Leser benachrichtigen, daß Herr von St. Just Alicen keineswegs unbekannt war, da sie auf den ersten Blick in ihm die Person erkannte, mit der sie heute bereits eine Zusammenkunft gehabt hatte, um ihr einen Brief des Fürsten Lichninsky zu überreichen. Die Adresse des Briefes lautete aber nicht an den Chevalier St. Just, sondern schlichtweg an Herrn – Gilbert.

– Was soll ich von Allem dem denken, Chevalier? – sagte sie fast beleidigt.

– Hoffentlich nichts Anderes, als daß ich ein[189] vorsichtiger Mann bin. Setzen Sie den Fall, daß der Brief von Ihnen verloren – oder Ihnen genommen und von dem neuen Besitzer an mich abgegeben worden sei, um, wer weiß, welche Geheimnisse bei mir zu spüren, wäre ich nicht in große Verlegenheit gekommen, wenn ich ohne Weiteres meinen Namen genannt hätte? Gilbert und der Chevalier St. Just haben Nichts mit einander gemein. Auch kennt mich hier Niemand unter jenem Namen.

– Selbst die Gräfin nicht? – fragte Alice hingeworfen.

– Am allerwenigsten.

– So habe ich mich also an den Absender zu halten, und gerade bei diesem ist mir dieser Mangel an Vertrauen unerklärlich.

Gilbert lächelte.

– Vielleicht hatte er einen ähnlichen Grund, die Furcht, der Brief möchte verloren gehen.

– So konnte er mir den rechten Namen mündlich mittheilen – sagte Alice zornig.

– Das war unmöglich.[190]

– Und warum? wenn ich bitten darf – fragte Alice stolz.

– Weil er ihn selbst nicht kannte. Se. Durchlaucht, der Präsident des Wiener akademischen Vereins, kennt keinen Chevalier von St. Just.

– Und wozu denn dieses Verstecken spielen mit doppelten Namen? Wissen Sie wohl, Chevalier, daß dies abgeschmackt und lächerlich erscheinen kann?

– Wenn nichts weiter dahinter steckt, als Geheimnißkrämerei, allerdings. Aber die Nothwendigkeit werden Sie schon einsehen. Doch davon ein ander Mal. Jetzt will ich vor allen Dingen Rapport abstatten. Die Achtzehner erwarten Sie mit Sehnsucht, ja mit Begeisterung. Ich habe in Ihrem Namen versprochen, daß Sie morgen in ihrer Mitte erscheinen werden. Die Vorbereitungen sind getroffen: es bedarf nur eines Winks und die Bombe platzt. Uebrigens muß noch in dieser, spätestens im Anfange der künftigen Woche etwas geschehen, um die Stadt[191] im Allgemeinen in Bewegung zu bringen, und die Gemüther auf den entscheidenden Punkt hin zu concentriren. Geschieht dies nicht durch uns, so geschieht es von selbst: und dann gleitet uns der Faden aus den Händen.

– Sie haben recht in der Sache. Ueber das »Wie« sprechen wir morgen. Ich habe Ihnen Vorschläge zu machen, die Ihnen gefallen werden. Aber nun wünschte ich, Ihre Meinung, Ihre wahre Meinung – Alice betonte diese Worte – zu hören über die Richtung, welche wir der Bewegung geben. – Sie verstehen mich nicht, wie es scheint.

– Nicht ganz.

– Wohlan, ich will deutlich sein. Wer wird die Früchte davon genießen: die Aristokratie oder das Proletariat? Was ist Ihre Parole, Gilbert, Revolution oder Contrerevolution, Demokratie oder Absolutismus?

– Sprechen Sie nicht so laut, ich bitte Sie. Man ist schon aufmerksam auf uns geworden. Eine solche Frage ist meiner Meinung nach kaum[192] zu stellen, geschweige zu beantworten. Oder erlauben Sie mir die Gegenfrage: Sind Sie schon für das Eine oder Andere entschieden?

Alice senkte den Kopf, als besönne sie sich, ob sie antworten sollte oder nicht. Dann sagte sie kurz und entschieden: Ja! –

Es lag in der Weise, wie sie den Kopf stolz emporrichtete und in dem Ausdruck, mit dem sie dieses »Ja« aussprach, eine solche Energie des Willens und eine solche Kraft der Ueberzeugung, daß Gilbert sich nicht enthalten konnte, das schöne, schmächtige Weib mit einem Blicke zu betrachten, der seine volle Bewunderung aussprach.

– Ich muß gestehen – sagte er leise – daß ich mich dieser Entschiedenheit nicht rühmen kann. Worin wir aber, wie ich hoffe, übereinstimmen, das ist der Haß und die Verachtung gegen die Bourgeoisie und alle Erbärmlichkeiten, die an dem Zopf des Philisterthums hangen.

Alice reichte ihm schweigend die Hand, die er fest drückte. –[193]

– Haben Sie meine Bitte wegen des jungen Mädchens erfüllt? – fragte sie, nach einer Pause zu einem andern Thema übergehend.

– Ja wohl. Sie werden sie morgen früh bei sich sehen. Ich weiß weder, woher Sie dies junge Mädchen kennen, noch warum Sie sich gerade dafür interessiren. Aber ich fürchte, daß – wenigstens für mich – Unannehmlichkeiten daraus entstehen können.

– Wie so? –

– Sie ist die Schwester eines Führers aus der Gesellschaft der Achtzehner, welcher mich schon seit mehreren Tagen mit eifersüchtigen Blicken betrachtet, weil er sich einbildet, daß ich darauf ausgehe, ihm seine Popularität zu rauben.

– Meinen Sie Ralph?

– Sie kennen ihn? – fragte Gilbert erstaunt.

– Natürlich. – Sie vergessen, daß ich in vergangenem Herbst hier war und die Gesellschaft, welche früher dem Handwerkervereine angehörte, organisiren half. Ich begreife Ihre Besorgniß.[194] Doch haben Sie nichts zu fürchten. Nehmen Sie meinen Dank für Ihre Bemühungen und vergessen nicht, morgen zu mir zu kommen. Jetzt aber lassen Sie uns der Gesellschaft uns anschließen. Ich habe schon mehrere forschende Blicke sich hieher richten sehen.

Sie waren eben im Begriff, sich zu trennen, als der Prinz A.. auf der Schwelle der nach dem Journalzimmer führenden Thüre erschien. Jetzt war es des Prinzen Blick, welcher dem Alicens begegnete. Aus der Richtung, welche diese und der Chevalier eingeschlagen hatte, um sich dem Gros der Gesellschaft anzuschließen, konnte der Prinz erkennen, daß sie mit einander gesprochen hatten. Dem fragenden Ausdruck, welcher in Folge dieser Bemerkung im Auge des Prinzen sich zeigte, antwortete Alice mit fast unbemerkbarem Schütteln des Kopfs. Des Prinzen Stirn verfinsterte sich, doch nur einen Augenblick. Im nächsten näherte er sich wie zufällig dem Chevalier und bald waren Beide in einem politischen Gespräche vertieft.[195]

– Nun, wie finden Sie ihn? – fragte die Gräfin Alicen.

– Welche Frage! Würde ich Ihnen nicht gerechten Grund geben, an meinem Geschmack zu zweifeln, wenn er mir nicht eminentes Interesse einflößen müßte, da er sogar das Ihrige zu erregen verstanden? antwortete Alice mit ironischem Doppelsinn.

Die Gräfin schien die Ironie zu fühlen. Sie senkte den forschenden Blick, welchen sie auf das feine Gesicht Alicens geworfen hatte, das in diesem Augenblick von einem melancholischen Lächeln überglänzt wurde.

– Und der Prinz? fragte sie weiter – Sie erinnern sich, daß Sie mir noch eine Antwort schuldig sind.

– Da Sie nach Ihrer Aeußerung von vorhin über den Prinzen eine andere Ansicht haben als der Chevalier, so bin ich in Verlegenheit, wem ich recht geben soll. Ich fürchte in beiden Fällen, Ihnen wehe zu thun. –[196]

Die Gräfin erröthete, denn es lag in den Worten und besonders in dem Lächeln, die nicht undeutliche Vermuthung ausgesprochen, daß das Interesse der Gräfin für den Chevalier von etwas tieferer als blos socialer Natur sein mochte. Alice wollte aus der Antwort der Gräfin beurtheilen, ob ihre Vermuthung richtig sei. Als die Gräfin schwieg, war Alice ihrer Sache gewiß. – Sie sah den Prinz scharf an – und wurde verstanden.

Bekanntlich hat Solon das Gesetz gegeben, daß derjenige, welcher in politischen Parteikämpfen sich zu keiner Partei schlüge, mit dem Tode bestraft werden solle. Es ist meine Aufgabe nicht, die Weisheit dieses Gesetzes an den Tag zu legen; doch kann ich nicht umhin, an dem Beispiel des Chevalier St. Just die darin enthaltene Wahrheit zu versinnbildlichen.

Er hatte aufrichtig gesprochen, als er Alicen erklärte, daß er über die zu ergreifende Partei noch unentschieden sei; aber die Strafe dieser Unentschiedenheit zeigte sich schon jetzt. Da er es vorläufig noch mit beiden Parteien hielt, es weder[197] mit dem Proletariat noch mit der Aristokratie verderben wollte, so mußte er sich in beiden Lagen für etwaigen Rückzug eine Thüre offen erhalten. Diese Rücksicht legte ihm aber Fesseln an und verhinderte ihn, nach einer der beiden Seiten die ganze Energie zu entwickeln, deren er fähig war, und welche ihn bald über alle Eifersüchteleien von Nebenbuhlern hätte triumphiren lassen – und Eifersüchteleien sind gefährlicher als offne Angriffe von erklärten Feinden. Auf der einen Seite stand Ralph – auf der andern – freilich ohne seine unmittelbare Schuld, – der Prinz A. ihm gegenüber. Der Prinz A. liebte die Gräfin und haßte in Folge dessen den Chevalier, weil dieser – wie es ihm schien – mehr Glück bei der Gräfin hatte als er selbst sich rühmen konnte. Es könnte auffallen, daß Alice gegen Gilbert zu intriguiren schien, indem sie den Prinzen in seinem Verdachte von einem innigeren Verhältniß zwischen dem Chevalier und der Gräfin bestärkte. Allein wir kennen Alicen hinlänglich, um nicht den Grund dieses scheinbaren Verrathes zu durchschauen –[198] sie – die selbst ohne Leidenschaft, oder wenigstens von keiner Leidenschaft jemals übermannt, mit der Leidenschaft Anderer zu spielen gewohnt war, um aus dem daraus gewonnenen Triumpfgefühl sich eine Staffage für ihre eigene materielle Unabhängigkeit und geistige Selbstständigkeit zu gewinnen – mußte – vor allen Dingen dahin zu gelangen suchen, diejenigen, welche die leitenden Fäden der im Spiel begriffenen Intrigue in Händen hielten, ihrem Willen zu unterwerfen, und ohne daß sie es merkten, von sich abhängig zu machen, damit sie selber das Centrum würde, in welchem alle die verschiedenen Fäden wieder zu einem Knoten zusammenliefen. Sie wußte, daß die Gräfin Rücksicht auf den Prinzen nehmen mußte, weil ihre Existenz, ihre jetzige glänzende Existenz, hauptsächlich sein Werk war: deshalb ließ sie jene Andeutung fallen, aus welcher die Gräfin zu ihrem größten Erstaunen ersah, daß ihre Theilnahme für den Chevalier dem scharfen Auge ihrer Freundin keineswegs entgangen war. Die Gräfin begann Alicen zu fürchten und diese Furcht war der erste Ring zu[199] einer Kette, welche sie an dieselbe fesselte und ihrem Willen gehorsam machte. Den Prinzen zog nicht nur das Gefühl der Dankbarkeit für die erhaltene Aufklärung, sondern auch das weit kräftigere des Beistandes, dessen er bedurfte und das allein sie ihm gewähren konnte, zu Alicen hin; vielleicht kam noch ein drittes Moment hinzu: nämlich die Erinnerung an eine noch nicht gar lange verschwundene Zeit, in welcher er die schöne Frau einst sein eigen genannt hatte.

Und Alice verstand die große Kunst, diejenigen, welche sie einst geliebt hatten, sobald diese Liebe verschwunden war, als ihre wärmsten und aufrichtigsten Freunde sich zu erhalten. Sie zeigte allen diesen Verhältnissen und Personen gegenüber dieselbe anmuthige Liebenswürdigkeit, welche es ihr möglich machte, oft Wahrheiten zu sagen, die aus anderm Munde verletzt haben würden, in dem ihren aber nur dazu beitrugen, das Band noch fester zu knüpfen, welches Alle, die sich einmal in ihre Nähe gewagt hatten, an sie fesselte. Was Gilbert betraf, so war er schon durch ihre Mitwissenschaft[200] von seiner Theilnahme an der Verbindung der Achtzehner ein Sklave ihres Willens. Mit ihm brauchte sie am wenigsten Rücksicht zu nehmen. Es gab unter allen denen, die sie kannten, nur zwei Personen, für welche sie ein innigeres Gefühl in sich trug; und grade diese beiden befanden sich nicht im Salon der Gräfin:


es waren Lichninsky und – Ralph, der Fürst und – der

Arbeiter.


Das Gespräch, in welchem der Prinz A. mit dem Chevalier begriffen war, schien für Beide ein großes Interesse zu haben. Ersterer hatte von der Gräfin gehört, daß der Chevalier am 23. Februar in Paris gewesen; es war mithin natürlich, daß es ihn interessirte, dies Ereigniß von einem Augenzeugen geschildert zu hören. Aber der Prinz hatte – vielleicht unbewußt – noch einen andern Zweck dabei im Auge. Gilbert war für Alle, mit denen er Umgang hatte, ein räthselhafter Mensch. Niemand konnte sich seines besonderen Vertrauens rühmen, Niemand kannte den Zweck[201] seines Aufenthalts in Berlin und den Grund, weshalb er Paris grade in jener denkwürdigen Zeit verlassen hatte – Ursache genug, um den eifersüchtigen Prinzen mit Mißtrauen gegen ihn zu erfüllen und um den Versuch zu machen, den Absichten dieses fahrenden Ritters – dafür hielt ihn der Prinz – auf die Spur zu kommen. Der brave Chevalier merkte jedoch bald, wohinaus die Fragen des Prinzen zielten, und wich geschickt jeder bestimmten Antwort aus. Dennoch würde es ihm auf die Länge schwer geworden sein, dieses gefährliche Frag- und Antwortspiel fortzusetzen, hätte ihn nicht seine schöne Freundin aus der Noth geholfen. Die Gräfin rief ihn mit einem entschuldigenden Blick auf den Prinzen zu sich, um einen Streit zu schlichten, der zwischen ihr und dem Professor Lips über Classicität der ägyptischen Kunstdenkmäler ausgebrochen war.

Gilbert, der längere Zeit im Orient sich aufgehalten, konnte wohl als Autorität in dieser Streitfrage gelten.[202]

Während an dem hellerleuchteten Gesellschaftstisch die ästhetische Frage über die hohe Entwickelung der ägyptischen Kunst erörtert wurde, blieb der Prinz nachdenklich in der Fenster-Nische stehen, halb verdeckt durch die faltigen dunkel gelbseidenen Gardinen, die das Lichtmeer des Saales fast zu einem Halbdunkel abschwächten. Da fühlte er plötzlich einen leisen Druck auf seinen Arm. Er sah sich überrascht um.

– So tief in Gedanken, Königliche Hoheit? – sagte eine tiefe Stimme. Es war der Polizei-Präsident v. M.

– In der That, die Zeit giebt uns hinreichenden Stoff zum Denken, sollt' ich meinen – erwiederte lächelnd der Prinz. Ich danke Ihnen, daß Sie mich daraus erweckt haben, denn meine Gedanken waren nicht erfreulicher Natur.

– Ich wußte das. Sonst hätte ich mir nicht erlaubt, Sie darin zu stören, mein Prinz.

– Sie kannten meine Gedanken? – fragte ironisch der Prinz.[203]

– Nicht nur, weil ich sie kenne, sondern weil ich auf die Fragen, die Sie in diesem Augenblicke bewegen, antworten kann, weckte ich Sie aus Ihrem Nachdenken.

– Verzeihen Sie – versetzte der Prinz – ich vergaß, daß zu Ihrem Beruf gehört, ein wenig allwissend zu sein, oder in Ermangelung dessen, es wenigstens zu scheinen.

– Als Antwort auf Ihren Spott sage ich Ihnen nur ein Wort.

Er flüsterte dem Prinzen einen Namen ins Ohr, der diesen sichtbar überraschte.

– Wohlan – sagte dieser nach kurzem Nachdenken – und Ihre Antwort?

Daß der Stern nicht das Irrlicht zu fürchten hat. Ihr Mißtrauen gegen diesen Menschen ist vollkommen gerechtfertigt, um so mehr gerechtfertigt, als ich es theile. Ihnen kann ich es gestehen, daß auch ich noch nicht ganz klar über ihn bin.[204]

– Und warum, wenn es so gefährlich ist, befindet er sich noch auf freien Füßen?

– Eben weil ich nicht klar bin. Ich habe Indicien über ihn, die sich widersprechen. Daß er conspirirt, darüber habe ich zahllose Beweise, aber für welche Partei er conspirirt? – das weiß ich nicht. – Entweder ist er ein sehr gewandter Diplomat – oder ein charakterloser Schwachkopf.

– Und was gedenken Sie zu thun?

– Ihn beobachten und sobald ich Gelegenheit habe, ihn unschädlich machen.

Der Prinz wandte sich unbefriedigt ab.

– Dieser Zeitpunkt ist näher als Sie glauben, fuhr der Polizeipräsident mit geheimnißvoller Miene fort. – Schon Morgen wird sich Vieles entscheiden. – Eine Frage erlauben mir Königliche Hoheit?

– Nun?

– Baronin Alice ist Ihre Freundin?[205]

Der Prinz sah Herrn v. M. mit großem Blicke an. – Ich verstehe Sie nicht, Herr Polizeipräsident, – sagte er – auf den Titel einen Nachdruck legend.

Herr v. M. lächelte.

– Sie sind sehr mißtrauisch, mein Prinz. Fast so mißtrauisch, wie ein – Polizeipräsident. Ich that jene Frage nur, um Sie zu bitten, Ihrer Freundin den gutgemeinten Rath zu geben, daß Sie es unterlassen möge, in dieser Woche das bewußte Haus vor dem Hamburger Thore zu besuchen, weil ich in Verzweiflung gerathen würde, wenn sie einen Beleg zu der Wahrheit des Sprüchworts geben sollte: »Mitgefangen – Mitgehangen«. Zugleich fällt mir auch ein, daß Ihre Freundin sicherlich noch besser als ich selbst über den Chevalier unterrichtet ist. In Rücksicht darauf, daß ich besser im Stande wäre, Ihnen mit meiner Hülfe zu dienen, würden Sie mich sehr verbinden, wenn Sie diese Quelle prüften und mir das Resultat Ihrer Untersuchungen mittheilen wollten.[206]

Mit diesen Worten empfahl sich Herr von M. dem Prinzen, um mit dem Banquier S. eine gründliche Untersuchung über die Ursache der gegenwärtigen Finanzkrisis anzustellen.

Der Prinz trat aus der Nische heraus und mischte sich wieder unter die Gesellschaft. Unwillkürlich suchte sein Blick Gilbert, dessen forschendes Auge dem seinigen begegnete. Einen Moment hafteten ihre Blicke auf einander, worauf beide zu gleicher Zeit und mit gleicher Indifferenz sich nach andern Seiten richteten.

Als der Prinz vor dem Stuhle Alicens vorbeikam, beugte er sich zu ihr herab. Was er ihr zuflüsterte, konnte Niemand verstehen. Alice aber, welche dem alten süßlichen General von Klausewitz eine Beschreibung des Wiener Salonlebens in dem verflossenen Winter machte, zuckte bei den Worten des Prinzen etwas zusammen, ohne indeß den Satz, welchen sie eben begonnen hatte, zu unterbrechen. Im nächsten Augenblicke war sie wieder vollkommen Herrin ihrer selbst; nur[207] eine schwache Röthe auf ihren Wangen und ein leises Zittern der langen Augenwimpern bewies dem genauen Beobachter die Bewegung ihres Innern.

Es war indeß spät geworden. Viele Gäste hatten sich bereits zerstreut. Die Zurückgebliebenen, meist aus den bekannten Personen bestehend, hatten sich zu einem engern Zirkel um den Tisch gruppirt. Doch schien sich grade über die, welche sonst den meisten Stoff zu lebhafter Unterhaltung dargeboten, heute eine trübe Wolke gelagert zu haben, die sie in sich gekehrt und schweigsam machte. Jeder schien sich mit seinen eigenen Gedanken zu unterhalten und so sehr die schöne Gräfin etwas Leben in die Unterhaltung zu bringen sich bemühte, hatten ihre Anstrengungen doch so wenig Erfolg, daß sie sich endlich bewogen fühlte, das Zeichen zum Aufbruch zu geben.

Der Prinz A. bot Alicen seinen Arm und verließ unmittelbar nach dem Chevalier den Saal. Sie gingen zusammen hinaus. An der[208] nächsten Straßenecke trennten sie sich. Der Prinz geleitete Alicen in ihre Wohnung; Gilbert kehrte auf einem Umwege nach dem Hause der Gräfin zurück.[209]

Quelle:
Louise Aston: Revolution und Contrerevolution. Bde. 1–2, Band 1, Mannheim 1849, S. 176-210.
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