Aufhelfen.

[41] Eines Tages ging Jakob in's Feld, da sah er Magdalene vor einem Kleebündel stehen; sie hielt die Hand vor die Stirn gestemmt und schaute sich weit um nach Jemand, der ihr aufhelfe. Jakob war es jetzt plötzlich, als ob sie einem Menschen ähnlich sehe, den er gern aus seiner Erinnerung verbannt hätte; er schüttelte den Kopf wie verneinend und ging vorbei; kaum war er aber einige Schritte gegangen, als er sich wieder umkehrte und fragte:

»Soll ich aufhelfen?«

»Ja, wenn's sein kann.«

Jakob hob Magdalenen die schwere Last auf den Kopf, dann reichte er ihr die Sense. Magdalene dankte nicht, aber sie blieb wie festgebannt stehen.

»Da hast ein' schwere Traget, das hättst du nicht allein aufladen können,« sagte Jakob.

»Drum hab' ich auch gewartet, bis Einer kommt. Dazu ist es ja, daß mehr als Ein Mensch auf der Welt ist, daß Einer dem Andern aufhilft. Man kann doppelt soviel tragen, wenn man sich nicht selber aufladen muß.«

»Du bist gescheit. Warum bist denn allfort so lustig und machst vor den Leuten Possen?« fragte Jakob.

»Narr, das ist Pfui-Kurasche,« erwiderte Magdalene. »Es kann's kein Mensch auf der Welt schlechter[41] haben als ich: die halb' Nacht am Backofen stehen und verbrennen, den Tag über kein' ruhige Minut' und nichts als Zank und Schelten, und wenn ich was nicht recht thu', da heißt's gleich: Du Zuchthäuslerin, du ... Da ist kein Wort zu schlecht, das man nicht hören muß. Es ist kein' Kleinigkeit, so einen Korb voll Brod zum Verkauf herumtragen und oft kein' Bissen im Magen haben. Wenn dein' gut' Meisterin die Adlerwirthin, nicht wär', die mir allbot was zuschustert, die Kleider thäten mir vom Leib abefallen. Ich weiß nicht, ich hab' das noch keiner Menschenseel so gesagt; aber ich mein' als, dir dürft' ich's sagen, du mußt's wissen wie's Einem ums Herz ist. Ich bin nicht so aus dem Häusle, wie ich mich oft stell'. Fortlaufen darf ich nicht, sonst heißt's gleich, die ist nichts nutz, und zu todt grämen mag ich mein jung Leben auch nicht, und ... da bin ich halt lustig. Es gibt Einem doch Niemand was dazu, wenn man sich das Herz abdruckt; es laßt ein Jedes das Andere waten, wie's durchkommen mag. Ich weiß gewiß, es muß mir noch besser gehen. Ich bin vom Fegfeuer in die Höll' kommen, es kann nicht ewig währen, ich muß einmal erlöst werden. Ich weiß nicht, warum mich unser Herrgott so hart straft; was ich than hab', kann dem rechtschaffensten Mädle passiren. Ich mein' als, ich muß für mein' Mutter büßen, weil sie meinen Vater genommen hat.« – So schloß Magdalene lächelnd und trocknete sich große Thränen ab.

Jakob sagte: »Genug für jetzt. Du hast schwer auf dem Kopf, mach' daß du heim kommst. Vielleicht[42] sehen wir uns ein Andermal wieder, oder ... heut Abend, oder ... morgen.«

Jakob ging rasch davon, als hätte er etwas Schlimmes begangen. Auch fürchtete er in der That auf freiem Felde mit Magdalenen gesehen zu werden; er kannte die Blicke und Worte der Menschen in ihrem Tugendstolze.

Jakob kehrte sich bald um und sah Magdalenen nach, bis sie zwischen den Gärten verschwand und man nur noch den Kleebündel zwischen den Hecken sich fortbewegen sah.

Bei der Arbeit beunruhigte ihn immer der Gedanke, welch ein Verbrechen wol Magdalene begangen habe; er hätte sie gern ganz unschuldig gewußt, nicht um seinetwillen, gewiß nicht; nur um ihretwillen, damit sie so harmlos leben könne wie es für sie paßte.

Jakob hatte sich vorgesetzt, fortan allein und getrennt von aller Welt sein Leben fortzuführen; er hatte nicht Freunde und nicht Verwandte auf dieser Welt. Er hatte einst gewaltsam eingegriffen in die gewohnte Ordnung oder Unordnung der Gesellschaft, und die Gesellschaft trennte ihn aus ihrer Mitte und gab ihn der Einsamkeit preis. So schmerzhaft auch diese Vereinsamung war, sie ward ihm jetzt fast eine liebe Gewohnheit. Zurückgekehrt in die Genossenschaft der Menschen, blieb er aus freien Stücken allein und frei, ließ sich von keinem Bande der Neigung und Vereinigung mehr fesseln. Jetzt schien es unverhofft über ihn zu kommen; er wehrte sich mit aller Macht dagegen. Er war nicht leichten Sinnes genug, um sich sorglos[43] einem Verhältnisse hinzugeben; er gedachte alsbald des Endes. Das Leben hatte ihn gewitzigt.

Wie stürmten jetzt diese Gedanken, bald klarer bald verworrener durch die Seele Jakobs. Das aber ist der Segen der schweren Leibesarbeit, daß sie die marternden Gedanken alsbald niederkämpft; das ist aber auch ihr uralter Fluch, daß sie nicht frei aufsteigen läßt in die Klarheit, um dort den Sieg zu holen. Wie viel tausend Gedanken ruhen gedrückt und verkrüppelt hinter der Stirn, die jetzt die schwielige Hand bedeckt; wie viel peinigende fliehen aber auch, wenn diese Hand sich regt. Jakob empfand Beides.

Anfangs wollte Jakob den Entschluß fassen, nie mehr irgend ein Wort mit Magdalene zu reden. Mit seiner früheren Bannformel »sie geht dich nichts an« wollte er das Wogen seines Innern beschwichtigen; aber diese Formel war schon längst nicht mehr wahr, schon damals nicht, als er noch kein Wort mit Magdalene gesprochen hatte. Wendete er den Blick auch ab, wenn er an ihr vorbeiging; im Innern hegte er doch eine tiefe Theilnahme für sie.

Wie klug ist aber die stille Neigung, die sich vor sich selbst verhüllt! Jakob kam endlich mit sich überein, daß Magdalena seiner als Stütze bedürfe; er konnte sich ihr nicht entziehen. Sie hat ja selbst gesagt: man trägt leicht eine doppelte Last, wenn ein Anderer aufhilft.

Jakob gehörte der Welt wieder an. Er ließ sich freiwillig einfügen, freiwillig und doch von einer höheren Macht getrieben. Er fühlte sich frisch und kräftig bei diesem Entschlusse, denn er trat durch denselben wieder[44] in den Einklang mit sich und der Welt. Das jedoch gelobte er sich hoch und heilig, daß er auf der Hut sein wolle; vor acht Tagen, mindestens aber vor Sonntag, das heißt vor übermorgen, wollte er Magdalene nicht sprechen.

Wie leicht aber wirft ein Mann den Liebesfunken in die Seele eines Mädchens und geht dann sorglos hin, sein selbst und des Andern vergessend, während es dort weiter glimmt und zur Flamme auflodert.

Magdalene war nach Hause gegangen und ihr Angesicht lächelte. Sie hatte gar keinen Gedanken, es war ihr nur wohl; sie wußte nichts von der Last auf ihrem Kopfe. In der Scheune stand sie noch eine Weile so still, gleich als wollte sie die Stimmung noch festhalten, die jetzt in dieser Lage in ihr lebendig war; dann aber warf sie den Kleebündel weit vor sich hin, strich sich die Haare zurecht und ging an die Küchenarbeit. Das Belfern der Bäckenfrau fand heute gar keinen Widerpart, Magdalene war geduldig wie ein Lamm. Träumerisch sah sie in das lodernde Feuer und dachte an Alles und an Nichts. Einmal sprang sie plötzlich auf, wie wenn sie gerufen worden wäre, rannte die Treppe hinauf in ihre Schlafkammer, betrachtete mit Wohlgefallen ihre neue Haube mit dem hohen von schwarzem Felbel überzogenen Draht, auch das schöne weiße Goller mit den Hohlfalten probirte sie an, legte Alles schnell wieder in die Truhe, schaute eine Minute in sich vergnügt zum Dachfenster hinaus nach dem blauen Himmel und eilte wieder, eben so schnell als sie gekommen war, zurück an den Herd.[45]

Wie staunte sie aber, als Jakob am Abend und am andern Tage ohne Gruß an ihr vorüberging.

Mit Thränen in den Augen zog sie am Sonntag Nachmittag das schöne Goller an und setzte die neue Haube auf; sie wischte hastig den halbblinden kleinen Spiegel ab, der allein die Schuld tragen sollte, daß man nicht recht sehen konnte.

Quelle:
Berthold Auerbach: Gesammelte Schriften, 2. Gesammtausgabe, Band 3, Stuttgart 1863, S. 41-46.
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