Zweite Handlung

[42] Deutsche Hochschulstadt. Ein Lehrsaal des Professors. Vorn rechts der Domherr mit dem Bruder im Gespräch, im Hintergrunde links auf einem langen Tisch eine Leiche, um welche präparierende Studenten beschäftigt sind. Faust als Prosektor unterweist sie und hilft ihnen. Zwischen den Studenten sitzt, sich beteiligend, der Professor, ein schon älterer Mann als Faust. Während sie hinten schweigend arbeiten, spricht der Domherr vorn gedämpft auf den Bruder ein. Wenn sie hinten sprechen, lauscht vorn der Domherr.


FAUST hinten; zu einem der Präparierenden, den er unterweist.

Ein Nerv ist zart, üb' Vorsicht mit dem Nerv –

Nicht gleich das Messer, das Skalpell zuvor! ...

Nun zur Aorta ...


Sie arbeiten weiter.


DER BRUDER vorn; zum Domherrn.

Ihr ängstigt mich, Ihr sprecht so gar gelehrt ...

DOMHERR.

Es ist doch einfach, was wir wünschen, Freund!

Der Papst, der jetzt auf Petri Throne sitzt,

Ruft anders, als der Vorfahr. »Helft mir«, ruft er,

»Für Jesu Kirche! Wo ihr Altarraum

Beschmutzt, da fegt den Unrat aus, wo Spalten

Im Mauerwerk, prüft bis ins Fundament

Und richtet's mit dem Ganzen eurer Kraft,

Denn eure Ewigkeit ist in Gefahr.«

BRUDER.

Doch nicht nur durch den Luther in Gefahr!

DOMHERR.

Auch andre Irrlehr, ja Gottlosigkeit

Im Doktormantel ...[43]

BRUDER.

Den Professor meint Ihr?

Herr, eine rein're Seele kennt Ihr nicht!

DOMHERR.

Und grade so ist ja des Teufels Art,

Daß er ins Beste seinen Samen legt.

Und Gute fördern ihn! Wer unterscheidet

Von Edelblumen Unkraut, wenn es jung?

Der Gärtner kann's, im Garten Christi sind

Die Gärtner wir ...

FAUST hinten; beim Aufzeigen.

Nun hebt den Beutel sacht

Vom Herzen weg, und in die Kammern jetzt

Entschloss'nen Schnitt! Was wir am Tier gelernt,

Am Menschen seht ihr's da, als wär' er Tier ...

Der rechte Vorhof frei! Die Ader führt,

So sagen sie: Luft aus der Lung' ins Herz ...

Bei der Aorta die Verschlüsse dort

Mit ihren Klappen meisterklug gebaut ...

Das Bind- und Zugwerk hier aus Seil und Strang

Feinstkennerisch gewebt ...


Erklärt weiter.


BRUDER vorn; zum Domherrn.

Sagt klar mir, was Ihr wünscht!

DOMHERR.

Die Jugend kennt

Sich leider da nicht aus. Sie ißt, was schmeckt.

Nur einer der Studenten kam zu mir,

Ein ältrer schon, er hinkt ...

BRUDER.

Da kenn' ich keinen ...

DOMHERR.

Ihr übersaht's. Bevor er heimwärts zog,

Kam er zu mir: »Herr«, sprach er, »mein Gewissen

Bedrückt mich: eine Menschenleiche jetzt

Zergliedert unser Lehrer, darf er das?«

BRUDER unruhig.

Der Nachbarherzog hat sie ihm geschenkt.[44]

DOMHERR.

Der Humanist. Gleichviel, es wird verziehn.

Ich konnte den Studenten leicht beruhigen.

»Da atm' ich auf«, so sprach er, eh' er ging,

»Nur hab' ich Sorgen wegen jenes Fremden,

Der zum Besuch beim Meister eingekehrt

Und den der Meister schätzt. Er hat verdächtigen

Verkehr – daß ich's gesteh: selbst an den Teufel

Dacht' ich bei einem, den ich mit ihm sah.

Doch ist der weg, und der geblieben ist,

Sieht nicht nach Teufel aus.« Da meint er Euch.

»Gebt dem die Weisung«, sagt er, »und er dient

Als treuer Wachthund uns'rer Kirche.« – Tut's!

BRUDER.

Herr, einen andern wählt! Den armen Sünder,

Den Doktor Faust, den fand ich einst in Not,

Und ich gelobte Gott: genest er, will

Ich ihn behüten, daß er gläubig bleibt.

Nun weilt er hier ...

DOMHERR.

Und das gefährdet ihn?

BRUDER.

Wie sprecht Ihr nur! Herr, sorgt' ich mich einmal,

Wenn ich's in Ruh' bedacht, war's falsch verstanden.

So räumt' ich jüngst des Meisters Werkstatt auf

Und stäubt' auch eine große Kugel ab,

Die im Gestell im Messingreifen hing.

»Ei«, scherzte der Professor, »sagt' ich nun:

Solch eine Kugel ist die Sonn', und drum

Kreist wie ein Steinchen an der Schleuderschnur

Die große Erde – wie gefiel dir das?«

O, ich erschrak, dann aber sprach ich: »Herr,

Die Erde kann doch keine Kugel sein,

Sonst sähen ja am Jüngsten Tag die unten

Den Herrn nicht thronen droben zum Gericht«. –

Da nickt' er lächelnd: »Glaube, was du glaubst!«


[45] Hinten sind sie aufgestanden. Der Professor zu Faust.


Da, sagt das Volk nun, wohnt die Seele drin!

Sie wohnte dann in adligem Palast –

Wie denkst du drüber, Faust?

FAUST.

Daß nichts ich weiß.

PROFESSOR.

Doch manches Neue wissen wir durch dich.

Sie sind im Süden älter, was du drüben

Gewannst, du hast es sorglich hergetragen

Und frei verschenkt – ich, der so lang der Jugend

Ein Lehrer war, dein Schüler ward auch ich –

Nimm unsern Dank denn zum Semesterschluß!

FAUST.

Du sprichst von Dank, ich weiß, du höhnst mich nicht.

Vor aller Jugend hier will ich dir danken ...


Gebärde des Professors.


Ach nein, nicht dafür, daß mir Flücht'gem du,

Mir Armem Amt du gabst und Heim – ich danke

Für das, was du uns allen bist: ein Eins

Von Wort und Tat, und das heißt: Vorbild.


Die Studenten drängen sich froh um den Professor.


Ich,

Ich bin euch keins.

EIN STUDENT.

Wir danken Euch auch, hochgelehrter Mann!

FAUST.

Weil ich Gelerntes an euch weiter gab?


Auf den Professor weisend.


Der fragt die Dinge, die er lehrt, und was sie

Ihm sagen, lebt er dann in euch hinein.

Mich fragen sie, daß ich an euch vorbei

Hin zu den Dingen lausche – die mich narrn.

PROFESSOR.

Doch wenn sie fragten, zeigtest du: dort frag es,

Dann sah'n auch wir die Frage. Als ein Licht[46]

Vor einem Gang, den wir noch nie entdeckt,

Und in ihn zog's hinein und zog uns nach,

Das Fragen, das ein Leuchten war ...

FAUST.

Doch sorgt' ich

Für euch? Ich sorgte nur für mich.


Bewegung.


Für mich!

Ich spreche hart? Ich rede wahr. Du Jugend

Willst lernen, wie du hilfst. Ich suche Hilfe

Für mich.


Die Studenten betroffen, der Professor tritt an ihn heran.


PROFESSOR.

Und bist doch keiner, dem die Liebe fehlt!

FAUST.

Die hatt' ich einst, und da mißbraucht' ich sie.

Mag sein, sie wartet wo im warmen Licht,

Und schaut nach mir mit Mitleidaugen aus.

Doch trennt von ihr ein Panzer mich von Nacht,

Der hart wie Stahl ist. Nah' ich ihm, so bohrt

Er folternd Fragestrahlen in mich ein –


Auf den Leichnam zeigend.


Wie dort aus dem, den selbst sie jüngst zerbohrt.

PROFESSOR.

Laß das Vergang'ne, Faust ...

FAUST bitter.

»Und leb' im Heute,

Das nichts vom Gestern weiß«. – So sprach der Spuk.


Träger haben die Bahre mit der Leiche aufgenommen.


DOMHERR tritt vor.

Das Ebenbild des Herrn, und ob den Leib

Die Seele selbst zerstört hat, ist nicht da,

Damit der Neugier Messer darin wühlt.

Die Kirche fordert diesen Leib für sich!


Erregung. Faust will dem Domherrn entgegnen.
[47]

PROFESSOR mit einer beruhigenden Gebärde.

Domherr, wenn Jesus seinen Jüngern rief:

»Helfet einander«, lehrte dieser Tote,

Wie kein Lebendger kann, den Leidenden

Zu helfen. Was er nützen konnte, hat

Er nun genützt. Hätt' er's noch nicht, ich dürft'

Ihn Euch nicht übergeben, denn auch unser

Mandat ist Gottes. – Tragt den Leichnam dorthin,

Wohin der Domherr euch befiehlt.


Kalte Verneigungen, Domherr, Träger ab.


EIN STUDENT ein junger, der sich eben eifrig mit andern besprochen hat.

Sollen wir helfen, Meister, so befehlt!

PROFESSOR.

Ein seltsamer Semesterschluß! Doch: helfen?

Wer tut mir was? Ein eifriger Prälat,

Ein übereifriger vielleicht – er hat,

Was er begehrt, – wir warten auf den nächsten!

An eure Jugend, Junge! Laßt die Sorgen

Grauköpfigen, Kahlköpfigen, uns Alten,

Die's in der Jugend nicht gehabt, wie ihr.

Wie feiert ihr den Ferienbeginn?

EIN JUNGER.

Den Wurfstab in der Hand auf der Palaestra.

ANDRE.

Wir mit Musik und Tanz.

WIEDER ANDRE.

Wir wollen reiten.

Weit über Land, ach, weit!

PROFESSOR rings vertraulich zwischen dem Schwarm.

Fürs Hirn habt ihr die Wochen her gesorgt

So einigermaßen, meine Stubenhocker, (Fröhlichkeit)

Übt Arm und Schenkel, Lunge nun und Nerv!

EINER.

Und, Meister, auch das Herz.


Lachen.
[48]

PROFESSOR.

Das hast du, Nasweis,

Auch hier schon nicht versäumt ... ja, werd nur rot:

Ich weiß Bescheid. Und gönn' dir's, Junge! Liefen

Nur zwischen Hecken Bub und Dirn getrennt,

Irrgarten wär's – und ihr vergeßt ja nie,

Daß ihr vom Adel seid. Der kann in allen

Vom Schöpferodem sein bei Bursch und Magd,

Und ihr erkennt euch, grüßt ihr euch mit dem!

Schaut nach dem Volk, das unsre Heimat ist ...

EINIGE.

Wir wollen wandern, Meister!

PROFESSOR.

Klopft an Hütten,

Nicht nur an Kauf- und Pfarrhaus und Palast –

Was von uns Weisen an der Hochschul keiner

Verhandeln kann, sie schenken's euch zum Dank! –

Und ihr zwei beiden?

DIE ZWEI.

Ei, wir wollen nichts

Als Schönheit suchen.

PROFESSOR.

Gebt dem Auge Trank

Aus Gottes Quellen selbst, statt nur von Spiegeln

Aus Leinwand und Papier! Übt es als Auge,

Doch mit dem Auge übt die Seele mit!

Fühlt eure Arme in den Eichbaum ein,

Der durch Jahrhunderte die Äste reckt,

Schwingt mit der Lerche eure Lieb ins Blau,

Baut mit den Wolken aufwärts euren Stolz,

Laßt euer Sehnen stürmen mit dem Wind

Und euer Hoffen leuchten im Gestirn!

EINER vortretend, jäh.

Ich, Meister fühl' mich alt genug zur Tat.

Die Unterdrückten rüsten sich zum Kampf,

Nicht lange, und die Bauern schlagen los.

Freiheit dem Volk ...[49]

PROFESSOR.

Vielleicht, vielleicht auch Knechtschaft,

Noch schlimmre, als schon heut. Ich kenn dich, Franz,

Weiß, du bist reif, und weiß: du mußt so tun.

Denn dir befiehlt's dein Ich. Gott schütze dich ...


Sich aus ernsten Gedanken zurückrufend, herzlich.


So lebt denn alle, alle, alle wohl!

DIE STUDENTEN.

Auf Wiedersehn! Auf Wieder-, Wiedersehn!


Die Studenten gehn, der Professor bleibt mit Faust allein.


PROFESSOR blickt ihnen versonnen nach; für sich.

Auf Wiedersehn! Wie töricht, daß dies Wort

Mir heute schwer zu sprechen wird! Da kauert

In irgendeiner Höhl' ein Aberglaube,

Ein dummer, kindischer, und kommt uns was

Für quer, so quäkt er sein: »Berufe nichts!«

Weg, Maulwurf, in dein Loch! Auf Wiedersehn,

Ihr, die mir Jugend gebt: auf Wiedersehn!


Dann zu Faust.


Was bist du heut so stumm? Das kann ja doch

Nicht sein, daß dich's verärgert, wenn einmal

Besonnener ich bin als du? Der Domherr

Mußte so reden, wie er's tat.

FAUST.

Du, der mich schon so viel gelehrt, du warst

Auch hier im Recht. Ich seh's, doch fühl ich's nicht.

PROFESSOR.

Ja, was dir aus dir selber nicht erstand,

Das läßt dein Kopf herein, doch nicht dein Herz,

Seltsamer du! Dafür, du Quellender,

Wie vieles schon, das am Vertrocknen war,

Auf grünt es, seit du kamst![50]

FAUST.

Werde dir das, daß echtes Grünen sei,

Wo immer Grün du siehst! Doch spürst du selbst,

Wie durch das große Lenzen dieser Zeit

Ein Frösteln geht.

PROFESSOR.

Ich fühl' den Frühling rings.

FAUST.

Und nicht den Frost?

PROFESSOR.

Den Frost im Frühling mit.

Doch willst du, daß ich mich drum grämen soll

Und andre grämen machen? Ach, Freund Faust,

Dazu fand ich den Frost zu oft im Mai!

Der prickelte und stach, der schnitt und knickte,

Der brach und würgte – die Poetlein sangen:

Weh, weh, der Spätfrost mordet uns den Lenz –

Und doch, mein Doktor, sahst du einen Frost,

Nur einen einzigen, dem kein Sommer folgte?

Das Grün wuchs stets dem Froste übern Kopf!

FAUST.

Ach, wächst es langsam!

PROFESSOR.

Doktor Ungeduld,

Du treibst und treibst, auch wo kein Treiben hilft!

Ich schütz in meinem Garten vor dem Frost,

So gut ich kann – ihn heizen kann ich nicht.

FAUST.

Und wieder sag ich: ja, du bist im Recht,

Und trotzdem wieder: mir gefällt das schlecht!

Und bästl' ich selbst am heutigen Vernünftigen,

Im Herzen pocht das Sehnen nur zum Künftigen.

Am Horizonte überm Meere fern,

Da schimmert's auf, ist's Insel, ist's ein Stern?

Ich weiß nur das: in diesem Funken glüht

Gesammelt alles, was mein heiß Gemüt

Mein ganzes Leben lang hinausgesprüht:[51]

Dort ist die Jugend, dort die Manneskraft,

Dort, was verschenkt, und dort, was Neues schafft,

Gesammelt wartet's mein, und fest und dicht

Mit seinen Händen hält's empor das Licht,

Ein Ausblick dorther, und mir wär' erhellt

Die Welt ...

Fliegt, ihr Gedanken, dorthin, rastlos fliegt

Ihm nach, dem Blinken –

Wenn ihr nicht siegt,

Was liegt daran, wenn wir im Meer ertrinken?

PROFESSOR.

Und ich, mein Freund, ich lobe mir das Schiff:

Das zimmr' ich tüchtig gegen Well und Kliff,

Und wie mich auch im West der Schimmer lockt:

Erst wird gebaut, gesichert und gedockt.

Mit derben Rippen strammt sich schon der Rumpf,

Und hebt sich endlich auch der Mast als Trumpf,

Dann ist es Zeit, dann über festem Kiel

Mit Jakobstab und Kompaß hin zum Ziel.

»Methode« heißt mein Schiff, und wenn ichs nicht vollende

Führt Sohn und Enkel Bau und Fahrt zum Ende.

FAUST.

Du singst Geduld! Du hast ihn noch, den Glauben

An Hebel und an Schrauben.

PROFESSOR.

Mein Faust, die Frage wär' wohl gar zu leicht,

Was denn mit deinem Glauben du erreicht –

Sie wär auch krumm,

Denn was für mich gescheit, für dich wär's dumm.

Du bist kein Forscher, Faust, du bist ein Dichter –

Die zwei beisammen, und die Welt wird lichter!

Zeig du uns Ziele, flieg dahin, wie nie

Ein andrer kann, den Flug der Phantasie.

Und wenn dein Erdbild so zum Sternbild wird,

Doch dient's dem Schiffer, der sich sonst verirrt!


Der Bruder kommt, scheu und unruhig.
[52]

BRUDER.

Ein Bote möcht Euch sprechen.

PROFESSOR.

Laßt ihn ein!

Was fragst du denn so scheu?


Bruder ab. Professor zu Faust.


Ein seltsam Wesen

Hat unser Guter heut. Ja, wüßt' ich nicht,

Daß seine Frommheit Übles nicht vermag –

Ich meint', er hätt' ein schlecht Gewissen.


Ein fahrender Schüler, verneigt sich tief. Dann mit einem Blick auf Faust.


Der mich gesandt und den Ihr nie gesehn,

Wie er Euch nie, er sprach zu mir: den Meister,

Ersuch ihn, daß er dich allein empfängt ...

PROFESSOR.

Was sich ergänzt, das ist ein Einzges nur,

Ein Einziger sind Faust und ich. Sprich so,

Wie du zu mir sprächst, ständ' sonst keiner hier.

SCHÜLER.

Zu sprechen hab' ich nichts, zu geben nur,

Doch sollt' ich geben, daß es niemand sieht.

PROFESSOR.

Du bist geheimnisvoll – was bringst du denn?

SCHOLAR.

Herr, ein versiegelt Buch!

PROFESSOR.

Und welch ein Buch?

SCHOLAR.

Das weiß ich nicht, mein Meister sprach: der Reife

Verstünd' es erst. Ich sei nicht reif. – Darf ich

Jetzt gehn?[53]

PROFESSOR.

Du kamst in weiter Fahrt!

So labe dich und wohn bei uns.

SCHOLAR.

Ich möchte

Doch lieber gehn.

PROFESSOR betroffen, kurz.

Was heißt das?

SCHOLAR.

Herr, ich möchte ...

PROFESSOR.

Du willst mich nicht beleidigen, das seh ich,

Und nur ein Wille kränkt, der kränken will –

Sprich und erkläre!

SCHOLAR.

Herr, ich war im Dom,

Der Mutter Gottes für den Schutz der Reise

Zu danken ... Herr, ein Priester sprach darin,

Ein strenger Mann ... und hart klang, was er sprach ...

Vom Aufruhr sprach er, der jetzt Tag und Nacht

Auf allen Straßen umgeh, von den Bauern,

Die sich empören gegen Obrigkeit,

Die Gott gesetzt. Doch – sprach er – wären sie

Nicht gar so keck, wenn nicht der Aufruhrgeist,

Und er erwähnt auch Euch ... man solle, sprach er,

Den Umgang mit Euch meiden ... Herr, ich bin

Ein treues Kind der Kirche ...

PROFESSOR aufgerichtet.

Geh mit Gott!


Der Scholar mit tiefer Verneigung ab.


Das war noch nie.


Nach einem Schweigen.


Ich fühl den Spätfrost, Faust.[54]

FAUST.

Kühlt er dein eignes Herz, daß du gelassen

Bei solchem Treiben bleibst? Ein frecher Pfaff

Hetzt gegen dich ...

PROFESSOR.

Ein frecher Hetzer? Glaubt er,

Daß ich die Seelen ins Verderben reiße,

So muß er mich bekämpfen! Daß er's glaubt,

Das ist das Stück vom Winter noch im Mai.

Doch daß er so mich von der Kanzel her

Bekämpfen durfte ... Weg, Gedanken! Her

Das rätselhafte Buch!


Er betrachtet das Siegel.


Das Zeichen da

Sah ich doch schon.


Interessierter.


Wie, wär's von dem?


Das Buch öffnend.


Ach, Faust:

Tabellen, Ziffern, mathematische Zeichen –

»Hebel und Schrauben« – nichts für dich! Es wird

Ein Doctorandus sein, der mich ersucht,

Ihm nachzurechnen, ob's auch stimmt. Da steckt

Ja auch der Brief! Was, ohne Unterschrift?


Mit wachsender Beteiligung.


»Der dieses schreibt, ist nun ein alter Mann,

Als er sein Werk begonnen, war er jung.

Bei vierzig Jahren hat er dran gedacht,

Beobachtet, gerechnet und geprüft.

Wenn Ihr sein Buch zur Hand nehmt, ist er tot:

Ein Fremder schickt's in seinem Auftrag Euch.

Gleichgültig ist mein Name. Daß mein Werk

Fortzeuge, Ihr verbürgt es, wenn Ihr's kennt.

Den Denker grüßt der Denker. Lebet wohl!«

Faust! Faust! Das ist von ihm!


Der Professor ist in höchster innerer Erregung mit dem Buche an einen Tisch geeilt, wo er nun fieberhaft blättert, Stichproben nachrechnet, vergleicht, einzelne Blätter Faust zureicht und mit diesem gemeinsam prüft. Plötzlich stürzt des Professors Gattin herein, ihre zwei weinenden Kinder hinter ihr.


Um aller Heiligen willen, flüchte dich!

Belarvte Männer suchten dich im Haus,[55]

Bei uns im Haus, um Gott, was kann das sein?

Ich lief voraus zur Werkstatt, dich zu warnen,

Flieh, flieh!

PROFESSOR ganz ohne Aufmerksamkeit.

Ja, ja, ich flieh ...


Das Buch hochhaltend.


Hier ist es, Faust, hier ist,

Was uns gefehlt!


Jauchzend.


Faust, nun erleben wir's!

FAUST.

Muß ich besonnen sein für dich? Entflieh!

PROFESSOR.

Sprich, wenn du das gelesen hast, mein Faust!

Den Mann, den kenn ich, da ist nicht zu zweifeln,

Nichts nachzurechnen – siebenmal gesetzt

Und vierzehnfach begründet baut' er stets

Für jedes Wort wie Felsen den Beweis,

Und was er schließt, wie Zahn in Zahn, so greift's

In alles ein, was du und ich gedacht:

Die Räder gehn, Faust, – und die Erde geht!


Der Bruder schwankt herein. Die Gattin des Professors weicht ihm mit einem Schaudern der Empörung aus.


DER BRUDER.

Ich bin kein Judas, Herr, ich mußte sprechen,

Ich hätte Gott belogen, log ich jetzt!


Die Diener der Inquisition, an ihrer Spitze der Domherr.


PROFESSOR.

Sprecht nicht erst viel, ich weiß es, was ihr wollt!

Ich schein euch ketzerisch, ihr wollt mich fragen –

»Peinlich« vielleicht, wie meine Lehre sei.

Mag sein, vorhin noch käm' ich von euch los,

Von ungewissem Hoffen sprach ich nie

In Schrift, in Wort, in Blick Unmündigen,

Denn ein Vermuten werf' der Mensch nicht hin,

Wenn andrer Glück darüber stürzen kann.

Jetzt aber weiß ich es: die Erde dreht

Sich um die Sonne.


[56] Größte Bewegung. Des Professors Gattin schreit auf und reißt die Kinder an sich. Die Diener wollen den Professor ergreifen, der Domherr wehrt sie heftig ab. Der Professor geht zu seiner Gattin und den Kindern. Er macht eine Gebärde, um ihnen beruhigend über die Haare zu streichen. Die Frau bebt, auch ihre Kinder vor ihm schützend, zurück.


Meine lieben drei,

Durft' ich die holden Stunden euch verwirrn

Mit Ungewissem?


Zur Sonne, die glühend untergeht.


Ja, du Herz der Welt,

Vielleicht zum letzten Male grüß ich dich,

Da ich zum ersten Mal im Wissen

Von dem dich grüße, was du bist ...

Ich war ein Kind, als durch die Schlummerkammer

Der Mond sein schüchtern Wächterlichtlein trug,

So warst du damals die »Frau Sonne« mir,

Die gute, runde, die behäbige

Verwalterin im Haushalt Welt,

Die das Lebendge weckt und auferzieht,

Ernährt, betreut und noch den Greisen wärmt ...

Ich wuchs, da merkt' ich, daß der Blumenteppich

Sich auf- und einrollt, wie du Sommers bliebst

Und Winters gingst, kam deine Zeit, so sangen

Die Wälder auf, und schiedest du, so hob

Das Feld sein goldnes Dankgeschenk zu dir.

Ich lernt – da lernt' ich: über Land und Meer

Wölbe sich reinster blauender Kristall

Zum Himmelsbau, und die Planeten schritten

Wie Priester und wie Zauberer dran hin

Mit gut und böser Kraft, und so auch du ...

Ich sann. Die Zweifel flüsterten. Umsonst

Versuchte stillzuschmeicheln sie der Glaube,

Sie stillzukünsteln die Befangenheit.

Sie runzelten die Stirn, sahn in die Nacht

Und suchten, suchten ...

Faust, da fand ich dich.[57]

FAUST.

Im Herzen krank und irr im Geist, so kam

Ich zu dir, Forscher, und du lehrtest mich,

Du Mensch, mitsammen laß uns auch zum Tod!

PROFESSOR.

Uns gab es Gott: was wir erreichten, bleibt.

Du Fernenschauer zeigtest mir das Ziel,

Zu unsern Fahrten baute ich am Schiff,

In einem andern aber saß am Steuer


Auf das Buch weisend.


Der schon, der Einsame ...


Wieder in die Sonne vertieft.


Nun sprang die blaue Kuppel,

Die uns umengt: und unermeßlich dehnt

Nach allen Seiten sich das Ewige.

Nun wuchsest, Sonne, du millionenfach

In einem Ruck, und die Planeten biegen

Aus ihren wirren Pfaden ein zum festen

Wandel um dich, du Aller Königin.

Um dich, ein Kind an seiner Mutter Hand,

Vom Lenz zum Herbst geht auch die Erde hin ...

DOMHERR.

Ich ließ Euch sprechen, denn ein Geist wie Eurer

Verrät von sich im eignen Feuer mehr,

Als bei des Foltrers Glut ...

PROFESSOR überhört ihn.

Du aber, Sonne, nun du dich enthüllt:

Die Mauern, die um unser Denken auf

Mit harten Quadern starrten, taust du weg

Wie schmutzgen Schnee, frei wird die Welt und warm

Und leicht und weit! Faust, sieh zum Horizont

Nach Ost und West, nein, um die Kimmung sieh

Nach aller Richtung, daß der Erde Rund

Vor deines Geistes Aug zur Fläche wird,

Drauf alle Völker wohnen – allen Völkern

Von diesem Tag ab wird ihr Geist befreit ...[58]

DOMHERR.

Zum End! Zum Ende!

PROFESSOR.

Mann, mein Ende ist,

Denn meines Daseins Dursten ist gestillt.

Ich fühl' ihn, Faust, den höchsten Augenblick!

FAUST fast schreiend.

Der dich entreißt?

PROFESSOR.

Wo Lieben ist, ist Gott,

Und den zerreißt kein Mensch.

FAUST.

Die Freiheit fehlt!

PROFESSOR ruhig.

Die Freiheit, Werdender, die wächst aus sich.

DOMHERR.

Hin jetzt zum Kerker!

PROFESSOR.

Stellt mich auf den Stoß,

In seiner Flamme spür' ich noch die Sonne –

Was könnt ihr tun, am Schluß ist doch die Ruh.


Er schreitet hinaus, gefolgt vom Domherrn und seinen Dienern. Faust regungslos im Vordergrund links. Die Frau verzweifelt bei den Kindern. Der Bruder betend.


Vorhang.


Quelle:
Avenarius, Ferdinand: Faust. Ein Spiel. 3. Tausend, München 1919, S. 42-59.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Angelus Silesius

Cherubinischer Wandersmann

Cherubinischer Wandersmann

Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«

242 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon