Vorspiel

Sturmnacht. Beim Blitzen flammt hinten als Schattenbild das Hochgericht auf. Vorn der Bruder, der den ganz ermatteten Faust nach einer Brandstätte hinführt.


BRUDER.

Sieh dort, ein schwarz Gemäuer – weit und breit

Das einzige! Mag sein, eh's abgebrannt,

Hauste der Henker drin. Nun bricht's den Wind

Doch mehr, als nichts. Mit Gott, laß uns hinein!

FAUST.

Hörst du die Stimmen, die im Winde sind? ...

BRUDER.

Die Luft ist voll von Geistern aller Art,

Und an der Richtstätt hinter armen Seelen

Mit Pfiff und Peitschknall hetzt der Teufel her –

Doch wer bereut, um den steht Gottes Schutz

Mit Schild an Schild aus Stahl. Hier, nimm die Kutte

Noch untern Kopf und schlaf – bei Morgengraun

Begleitest du mich auf dem Weg nach Rom,

Und Gottes Stellvertreter löst die Schuld!

FAUST.

Von solcherlei sprach meine Mutter einst,

Und wie die Hand du drückst, so tat's mein Vater.

's ist lang schon her, sprich weiter, guter Mönch!

BRUDER.

Du sollst doch schlafen! Wie ich dich hier fand,

Ohnmächtig unterm Richtplatz, fieberheiß,

Gebadet naß, durchkältet – Freund, bedenk:

Du stürbst vielleicht, bevor du Rom erreichst,

Und brauchst doch Rom! ...[5]

FAUST.

Hörst du die Stimmen, die im Winde sind? ...

BRUDER.

Ach, laß die Stimmen! Komm, wir beten noch:

Das scheucht den Bösen.


Betend.


Unser Vater du,

Hochheiliger, der du im Himmel bist – (ein stürzender Ast)

Ja, krach nur, Teufel, auch der Herr ist da! –

Vergib uns unsre Schuld, vergib sie, Vater,

Dein ist die Rache, nicht des Bösen ist sie.

Und wenn die ganze Hölle um uns tobt,

Wir schlafen sicher, wie in deinem Schoß.

Dein Name sei gelobt in Ewigkeit!


Laut, wie als Kampfruf.


Amen! Amen!


Kleine Pause. Dann in anderm Ton, behaglich.


He, Fauste, merkst du was?

Die Geister werden leiser! Eia, Bruder,

Sie spüren Ihn! Wie wöffte doch die Meute

Großmäulig, mit gefletschten Zähnen! Jetzt

Kommt Er – und hui, in alle Löcher kriecht's

Mit eingeklemmtem Schwanz ... Eia, gut Nacht!

Heut schläft kein Murmeltier so fest wie ich.


Während sich der Bruder zum Schlafe zurechtlegt und still wird, beginnen sich aus den Stimmen im Winde gesungene und gesprochne Worte einer Einzelstimme zu lösen.


DIE STIMME singend.

»Da Jesus in den Garten ging

Und ihm sein bitter Leiden anfing,

Da trauert alles, was da was.

Es trauert alles Laub und Gras.


»Maria, die hört ein Hämmerlein klingen:

O weh, o weh, meins lieben Kinds,

O weh, o weh, meins Herzens Kron,

Mein Sohn, mein Sohn will mich verlon.


»Maria kam unter das Kreuz gegangen,

Ihren Sohn, den sah sie am Kreuze hangen ...«
[6]

Die Stimme sprechend.


Gelt, das hab ich damals gesungen,

Im Garten, im Mai?

War aber kein rechte Andacht dabei.

Wie der Riegel klang,

War erst der rechte Gesang!

Und dann das Nachtvöglein im alten Baum ...

Und der Mond im blauen Raum ...

Und wir zwei ...


Wieder singend.


»Johannes, liebster Diener mein,

Laß dir mein Mutter befohlen sein.« ...


Wieder sprechend, fragend und klagend.


Heinrich, wo ist das Mütterlein? ...

Heinrich, wo ist der Bruder mein? ...

Heinrich, wo bin ich selber? ...


Singend.


»Nun bieg dich, Baum, nun bieg dich, Ast,

Mein Kind hat weder Ruh noch Rast«


Sprechend, immer erregter.


Ich kann das Lied nicht mehr singen.

Willst du mich dazu zwingen?

Sonst hab ich bei den Küssen

Doch grade schweigen müssen ...

Magst mich noch küssen?

Auf den Mund?

Der ist nun wund –

Ich hab ihn zerbissen.

Magst du noch auf die Augen?

Werden dir nicht mehr taugen –

Seit zweien Wochen

Sind sie gebrochen!

Streicheln willst du mir noch den Zopf?

Den schnitt ja der Henker vom Schopf!


Ängstlich.


Du, sieh dich vor, faß mich nicht so am Kopf –


[7] Aufschrei.


Du behältst ihn ja in den Händen! ...


Gelächter im Wind.


FAUST aufstöhnend.

Enden ... enden!


Plötzlich steht Mephistopheles da.


MEPHISTOPHELES.

Hier war's. Hier ritt ich schon einmal zu Zwein

Mit dir vorbei, zur Nacht, am Rabenstein.

Wo sie die Kindesmörderin verscharrt,

Treibt's dich nun um, wie wen der Drehwurm narrt!

Erwache, Doktor, scheint dir das ein Bett?

Lebendig sind ja Sünderinnen nett,

Gerichtet sind sie braven Leuten Pack.

Die du so hoch trugst, deine weise Nase,

Was schnüffelt sie, wie Trüffeln nach, im Grase?

Da unten stinkt's, Verehrter – hab Geschmack!


Kleine Pause.


Ja so, das ist zur Kondolenz kein Ton:

Du trauerst um die liebe Weibsperson!

Zwar treib ich mich manch tausend Jahr herum

Und bin am End' nicht grade extra dumm.

Allein, mein Doktor, was mir nicht erblüht,

Verständnis ist's für menschliches Gemüt.

Erst heißt's: »Das Mädel her schon heut zur Nacht –

Ich bin drauf geil!« Man springt! Und ist's vollbracht

So malt ihr euch aus eignem Farbenglanz

Ein Himmelsschwangefieder auf die Gans –

Dann wird sie, sozusagen, aufgezehrt,

Doch wenn der Braten euch den Leib beschwert,

So barmt ihr: »Heilige Schönheit, die verglüht,

Wärst du noch da!« – und nennt das dann Gemüt.


Vertraulich näher an Faust.


Wer wollt' in den Tiefen der Sinnlichkeit

Glühende Leidenschaften stillen?

Bester Doktor, Ihr seid so weit,

Und bekamt es nach Eurem Willen!

Wer wollte Schmerzen doch und Genuß,[8]

Wer Gelingen und Verdruß

Wechseln lassen, wie's eben kann –

»Nur rastlos betätigt sich der Mann!«

Wollte sich keinem Schmerze verschließen,

Um alles in sich selbst zu genießen,

Häufen in sich die Tief und Höh

Mit Wohl und Weh,

Um so sein Ich im Dunkeln wie im Heitern

Zum Ich der ganzen Menschheit zu erweitern?


Faust richtet sich halb auf.


Wer war's, der sprach vom Rauschen der Zeit,

Vom Rollen der Begebenheit?

Wer, der von Zaubermänteln sprach

Zu Wolkenflügen

Über den Ländern, den Meeren, den Vogelzügen

Nachts unter den kreisenden Sternen hin,

Tags der wandernden Sonne nach

Zum neuen Tag ...

Ei nein, das erste, was der Rede wert,

Zum sanften Büßer hat's den Herrn bekehrt:

Der Übermensch schöpft aus dem Tatenstrudel

Die Götter-Weisheit vom gebrannten Pudel:

Du, Doktor Faustus, als ein Pilger trabst,

Ein Mönchlein neben dir, zum Papa Papst!

FAUST langsam und schwach.

Höhne die Kirche! Selber tat ich's oft.

Und liebt' sie doch nicht bloß zur Osternacht.

Was Ahn auf Ahn in ehrlichem Gebet

Vom Leuchtenden herniederzog: Geschlechter

Sie bauten's in der Dome Dämmern ein –

Seit ich ein Frevler, singt's als Sehnsucht drin

Und tastet klagend am Gestein hinauf.


Er weckt den Mönch.


Der meiner sich erbarmt, da ich zum Fraß

Für Wölfe dalag, komm, du guter Mönch,

Und geht's noch mühsam, mag es mühsam gehn!

Komm, eh der Morgen Menschen herführt, komm:

's ist stiller worden, laß uns fürbaß ziehn!


Der Mönch erwacht, springt rasch auf und bemüht sich helfend[9] um Faust. Da sieht er Mephistopheles. Mißtrauen erwacht in ihm. Er stützt Faust und geht mit ihm. Wie er zurückblickt, sieht er, daß Mephistopheles nachgehen will. Da wendet er sich und hebt mit beiden Händen das Kreuz seines Rosenkranzes gegen ihn. Mephistopheles zuckt zurück, dann folgt der Bruder Faust.


MEPHISTOPHELES mit dem Fuße stampfend.

Mich beißt's wie Flohbiß, das verdammte Kreuz!

Ich pfeif, ich spuck drauf, ich zerknack's, das Luder,

Wo ich den Dreck nur an den Kleidern seh ...


Auflachend.


Was, alter Herr, Dich selbst belügst du auch?

Das laß den Pfaffen! Ich veracht' es nicht:

Ich haß das Kreuz: der, dem es dient, hat Macht,

Und ihm beliebt's, mich seiner Macht zu ducken,

Verachtend er ... verachtend er ...


Stummes Spiel der Wut. Achselzucken. Sichfassen.


Da geht der Narr und meint: ich find ihn nicht!

Und trinkt doch schon mit seinem nächsten Schluck

Den Löffel Lethe, den ich dreingemischt,

Daß ihm das Weibsbild blasser Nebel werde,

Das jetzt rumorend meine Kreise stört.

Wo fänd ich nicht, was es zu töten gibt?

Zwar hast du Recht, am Kreuz du, das stirbt nicht,

Was Herbstens welkt. Ja, wär' das Saatkorn tot!

Doch das Gerippe mit der Sense pfuscht.

Bohr dich ins Hirn, in die Gedanken ein,

Erwürge die gesunden, bläh die kranken,

Kriech du ins Herz und saug und seuche drin,

Daß der Gefühle Kinder schon verderbt

Zu neuem Samen werden deinem Gift –

Langsamer wirkt's, mein hastiger Sensenmann,

Als dein Getölpel, doch es rottet aus.


Zwischen den jagenden Wolken ist der abnehmende Mond mehr und mehr zur Geltung gekommen. Jetzt steht er kalt am Himmel. Mephistopheles gewahrt ihn.


Du in die Nacht gehenkter Schädel da,

Du hast's erreicht. Einst warst du auch solch Ding[10]

Wie das hier: grün und bunt von frechem Leben.

Jetzt bist du Eis. Sie sind zu dumm für dich,

Sie girrn zu dir und rammeln unter dir –

Verständen sie die Zukunft, die du zeigst:

Sie hielten heulend sich die Augen zu.

Du meinen Sieg versicherndes Symbol,

Dir bet' ich dankend, du mein Augentrost!

Vorhang.


Quelle:
Avenarius, Ferdinand: Faust. Ein Spiel. 3. Tausend, München 1919, S. 5-11.
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