[327] Virginia. Numitorius. Albina. Die Vorigen.
VIRGINIA.
Ach Vater! Dich erblick' ich wieder! kann
dein Knie vor meinem Tode noch umfassen!
Kaum hofft' ich mehr auf dieses Glück.
VIRGINIUS.
Warum
geliebte Tochter? Was beraubte denn
der Hoffnung dich?
VIRGINIA.
Ach Vater! eine Reihe
furchtbarer Ahndungen, beängstigend
Im Tempel mich, seitdem du mich verließest;
Erscheinungen – vielleicht der Götter Werk,
mein Schicksal mir in Bildern anzuzeigen.
Doch Dank sey deinem Blick! vor ihm entweicht
schon jedes Schreckenbild aus meinem Sinn.
VIRGINIUS.
Sprich! was für Schreckenbilder könnten dich ...
VIRGINIA.
Ach Herr! Im wärmsten Eifer des Gebeths
schien plötzlich mir ein Strom des Lichtes (doch
viel sanftern Lichts als das Phöbeische)
die Göttin zu umwallen. Statt des Ernstes[327]
Den sonst ihr Antlitz zeigt, trat augenblicklich
der wehmuthsvollste Gram in ihre Miene.
Sie öffnet ihren Mund, und ich vernehme;
»Virginia! Du rettest Rom – Dich nichts!«
Erschreckt durch diesen fürchterlichen Spruch,
sank ich ohnmächtig in Albinens Arme.
Doch in der Ohnmacht selbst erhielt ich Trost.
Sie stellte leibhaft (nicht als Schattenbild)
mir die Gewalt der theuern Mutter vor,
die liebreich Schutz in ihren offnen Armen
mir bot. Wie schön, elysisch schön, war sie!
Ich flog an ihre Brust: und – welche Wonne
genoß ich da! Gerettet bin ich nun!
schrie laut ich auf (Albin' und Numitor
Behaupten dieß) Gerettet in den Armen
Der theuern Mutter! – Doch – nicht lange währte
mein Glück; denn sie verschwand: und ich erblickt'
an ihrer Statt – Dich liebster Vater! Dich,
der einen blut'gen Dolch – in Seiner Hand –
mit Blicken der Verzweiflung besah.
Entsetzt vor diesem schaudervollen Bilde,
will ich dich fragen, welches Frevlers Blut
dein aufgereizter Arm vergossen habe;
doch in dem Augenblick erschallt der Ruf
um schrecklichen Gericht – er meinen Traum
so schnell, als ein Orkan den Rauch, verjagt;
der mir die Freude schafft, dein Angesicht,
anstatt erzürnt, hier liebevoll zu sehn.
VIRGINIUS sie umarmend.
O meine Tochter!
VIRGINIA.
Ah mein Vater! – – Doch
was seh' ich! deinem Aug' entrollen Thränen?
Ach Vater! tröste dich! was mich geschreckt,
war nur ein Traum, ein Bild der Phantasie![328]
Du selbst hast mich belehrt, Erscheinungen
seyn bloß die Zeichen einer kranken Seele,
wo nicht verwirrter Sinne Mißgeschöpfe;
sind sie wohl, Vater, deines Kummers werth?
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