[H1, Szene 10]

[148] Ein Wirthshaus.

Barbier. Unterofficier Tambour-Major.


BARBIER.

Ach Tochter, liebe Tochter,

Was hast du gedenkt,

Daß du dich an die Landkutscher

Und die Fuhrleut hast gehängt? –

Was kann der liebe Gott nicht, was? Das Geschehene ungeschehn machen. Hä hä hä! – Aber es ist eimal so, und es ist gut, daß es so ist. Aber besser ist besser. Singt.

Branntewei das ist mein Leben,

Branntwei giebt Courage.

Und ein ordentlicher Mensch hat sein Leben lieb, und ein Mensch, der sein Leben lieb hat, hat keine Courage, ein tugendhafter Mensch hat keine Courage. Wer Courage hat ist ein Hundsfott.[148]

UNTEROFFICIER [TAMBOUR-MAJOR] mit Würde. Sie vergessen sich, in Gegenwart eines Tapfern.

BARBIER. Ich spreche ohne Beziehungen, ich spreche nicht mit Rücksicht, wie die Franzose spreche, und es war schön von Euch. – Aber wer Courage hat ist ein Hundsfott!

UNTEROFFICIER [TAMBOUR-MAJOR]. Teufel! du zerbrochne Bartschüssel, du abgestanden Seifbrüh du sollst mir dei Urin trinke, du sollst mir dei Rasirmesser verschlucken!

BARBIER. Herr Er thut sich Unrecht, hab ich Ihn denn gemeint, hab ich gesagt Er hätt Courage? Herr laß Er mich in Ruh! Ich bin die Wissenschaft. Ich bekomm für mei Wissenschaftlichkeit alle Woche ein halbe Gulden, schlag Er mich nicht grad oder ich muß verhungern. Ich bin eine Spinosa pericyclyda; ich hab ein lateinischen Rücken. Ich bin ein lebendiges Skelett. Die ganze Menschheit studirt an mir. Was ist der Mensch? Knochen! Staub, Sand, Dreck. Was ist die Natur? Staub, Sand, Dreck. Aber die dummen Menschen, die dummen Menschen. Wir müssen Freunde seyn. Wenn Ihr keine Courage hättet gäb es keine Wissenschaft. Nur Natur, keine Amputation, [??]. Was ist das? Bein, Arm, Fleisch, Knochen, Adern? Was ist das? Dreck? Was steckt's im Dreck? Laß ich den Arm so abschneide? nein. Der Mensch ist egoistisch, aber haut, schießt, sticht, hurt. Er schluchzt. Wir müssen. Freunde ich bin gerührt. Seht ich wollte unsre Nasen wärn zwei Bouteillen und wir könnten sie uns einander in den Hals gießen. Ach was die Welt schön ist! Freund! ein Freund! Die Welt! Gerührt. Seht die Sonn kommt zwischen de Wolke hervor, als würd e potchambre ausgeschütt. Er weint.

Quelle:
Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1–2, Band 1, Reinbek 1967–1971, bzw. München 21974, S. 148-149.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Woyzeck
Woyzeck: Empfohlen für die Oberstufe. Textausgabe. Text - Erläuterungen - Materialien
Woyzeck. Lese- und Bühnenfassung mit Materialien
Interpretationen: Georg Büchner: Dantons Tod, Lenz, Leonce und Lena, Woyzeck
Woyzeck. Studienausgabe
Woyzeck: Reclam XL - Text und Kontext