Zweite Vorlesung

[23] Der Wiener Congreß. Rückkehr Napoleon's. Die hundert Tage. Waterloo


Der Befreiungskampf war beendigt, Napoleon gestürzt und persönlich beseitigt, zwar, wie wir gehört, mit wenig staatsmännischer Klugheit und Voraussicht, immerhin – das Feld war rein und man konnte und mußte daran denken, in Deutschland wie in Frankreich, auf einem von zwanzigjährigen Kriegen und Schlachten ausgesogenen und zertretenen Boden, neue Bedingungen des Lebens und der Fortentwicklung hervorzurufen. Man mußte suchen, Organisches zu schaffen, welches weiter wachsen und gedeihen konnte, aber dies hatte zu geschehen in einem Augenblick, da die Ideen, welche die französische Revolution in die Welt geworfen, noch im heftigsten Kampfe mit der veralteten und erschütterten, aber noch fest bestehenden Tradition des 18. Jahrhunderts, lagen. Aufgehalten und vertagt waren diese Kämpfe worden durch die Erscheinung Napoleon's, aber wie der Samen gewisser Pflanzen sich an die Sohle des Auswanderers heftet, und an weit entfernten Stätten, wo man sie früher nicht gekannt, aufsprießt, so hatten Napoleon's siegreiche Heere den Samen der Revolutionsideen über ganz Europa getragen und nur der äußersten Gewalt konnte es gelingen, diese wieder auszurotten, das Alte, wenn auch nur theilweise, neu herzustellen, unterstützt durch die natürliche Ermattung, die auch über die Völker gekommen war. Zunächst tritt uns nun dieser[23] Umwandlungs-Prozeß in Frankreich entgegen. – Als die Verbündeten dessen Gränzen überschritten, geschah es ohne klare und bindende Uebereinkunft zwischen ihnen, was nach Napoleon's Entfernung mit dem Lande werden sollte. »Wir führen Krieg gegen Napoleon, nicht gegen Frankreich«, war die unselige und für Deutschland bei dem Friedensschlusse so verderbliche Politik, die sich bei Kaiser Alexander, der ja die Haupttriebfeder von Napoleon's Entfernung war, geltend machte. – Als ob nicht Frankreich Napoleon's Siegen und Triumphen zugejauchzt, als ob es nicht bis zuletzt, und bis zur äußersten Erschöpfung, unter sklavische Furcht gebeugt, aber immer wieder durch das Trugbild der französischen »gloire« geblendet, ihm die Mittel für seine Schlachten und Kriege geliefert hätte. –

Wie sehr also Frankreich geschont wurde, werden wir gleich bei dem Abschlusse des Pariser Friedens sehen; im Uebrigen gab Paris jetzt den Ausschlag für das Verhalten des ganzen Landes, bezüglich der Persönlichkeiten, die das Erbe des Kaiserreichs antreten sollten. Die Würfel fielen zu Gunsten der Bourbonen, der Brüder und des Neffen des hingerichteten Königs Ludwig XVI. Man kann nicht sagen, daß die Verbündeten unter dem Schutze ihrer Waffen Frankreich die alte Dynastie geradezu aufgedrängt hätten; dieselben wußten nur die Umstände schlau für sich zu benutzen. – Zuerst war beabsichtigt, eine Regentschaft der Kaiserin für den kleinen Sohn Napoleon's, und Enkel des Kaisers von Oestreich, den König von Rom, einzusetzen, nur mußte man schnell einsehen, wie schwankend solche Regentschaftsregierungen sind, und Rußland hatte überdem seinen besonderen Throncandidaten in der Person Bernadotte's, des schwedischen Kronprinzen, der nicht umsonst die feindlichen Berührungen mit seinen Landsleuten so sehr gescheut hatte –, denn seinem Ehrgeize däuchte die Kaiserkrone ganz eben so erreichbar, wie sie[24] es Napoleon gewesen war. Aber bald wurde seiner kaum noch gedacht, denn als es zu ernstlichen Verhandlungen über die Thronfolge kam und dabei auch Bernadotte genannt wurde, meinte Talleyrand mit Recht, wenn man einen Soldaten zum Regenten wolle, so werde man den Größeren vorziehen. – Mit Talleyrand habe ich nun die Persönlichkeit genannt, welche jetzt die Karten mischte, und die sich vollkommen als der Mann der Situation herausstellte, mit dem schlauen, verschlagenen Wesen, das ihn charakterisirte und das schon seit den Tagen der großen Revolution, mit jeder Welle zu treiben, mit jedem Winde zu segeln wußte. So hatte der jugendliche Bischof von Antun einst die Messe am 14. Juli 1791 celebrirt, bei dem großen Constitutions- und Föderativfeste, welches das neue Band zwischen Ludwig und seinem Volke besiegeln, den Krater der Revolution schließen sollte; aber als es dann so ganz anders kam, wußte der frivole Mund, der jene Messe gelesen, sich stets mit geschmeidigem Wort oder mit undurchdringlichem Schweigen durch alle Phasen der schrecklichen Zeit durchzuschmeicheln, die jenem Feste folgten, bis er endlich dem siegreichen Consul Bonoparte im Palaste des Luxemburg, nach dessen Rückkehr von Aegypten, wieder die überschwenglichste Lobrede halten konnte, und von da an dessen schlauester und ergebenster Rathgeber blieb. Kam es trotzdem im Jahre 1809 zum Bruche zwischen Talleyrand und dem Kaiser, so fürchtete und schätzte ihn doch der Letztere genügend, um ihn in der Stunde der Gefahr in seinen neuen Regentschaftsrath zu berufen. Jetzt aber, da für Napoleon Alles verloren war, und die Kaiserin gegen Talleyrand's ausdrücklichen Willen Paris verlassen hatte, erblickte er nur noch in der Herrschaft der Bourbonen, nicht so sehr die Rettung für Frankreich, als diejenige für sich selbst und für Alle, die ihm ähnlich waren. Es ist interessant, wie Talleyrand noch am Ende seines sehr langen Lebens,[25] seine verschiedenen Wandlungen mit den Worten zu beschönigen suchte: »Er habe keine Regierung früher verlassen, als diese sich selbst,« wozu er noch den Witz fügte, »nur ein wenig früher als die Andern, da meine Uhr etwas vorging.« – Sein Scharfsinn, der ihn manchmal die Sprache der Kassandra gegen Napoleon hatte erheben lassen, brachte ihn nun nach dessen Sturz vollends in den Ruf eines Orakels, und so stand man auch jetzt nicht an, seine Stimme, die sich für die Bourbonen erhob, als die Stimme Frankreichs zu betrachten. Der Senat, nachdem er Napoleon's Absetzung beschlossen, rief die Bourbonen zurück, durch »die Stimme des Volks«, wie man sich ausdrückte, und sie kamen, mit Freuden, aber so wie es ihrem Sinn entsprach, nicht auf den Ruf des Volkes, sondern nach ihrem »heiligen, angestammten Recht«. Kraft dieses Rechtes, keineswegs durch »freie Wahl«, glaubten sie sich zu neuer Herrschaft berufen. – Zuerst erschien der Graf Artois, und, der Sachlage entsprechend, ließ er sich noch durch Rußland bestimmen, wenigstens seine eigne Ernennung zum Reichsstatthalter durch den Senat, anzuerkennen. Dies war der vorbereitende Schritt zur Herstellung des bourbonischen Königshauses, und war er auch nicht geradezu von den Verbündeten ausgegangen, so hatte ihnen doch die Verkettung der Umstände kaum einen andern Ausweg gelassen, als den, auf das alte Königshaus zurückzugehen, dessen Repräsentanten leider nichts gelernt und nichts vergessen hatten. Die Extravaganzen seiner fanatischsten Anhänger hatten schon bei dem Einzug der Monarchen zur Genüge gezeigt, welche Elemente sich jetzt wieder in den Vordergrund drängten. Die Herzogin von Dino auf der Croupe eines Kosaken reitend, das Kreuz der Ehrenlegion an den Schwanz eines Pferdes gebunden, auf dem ein vornehmer Emigrant paradirte, die Schaustellung der Lilien und die der weißen Fahne des heiligen Ludwig, welche das französische[26] Volk im heiligen Feuer mit der Tricolore vertauscht hatte –, dieß Alles stimmte mit der Weigerung des Grafen von Artois, diese Tricolore, unter der Frankreich seine Freiheit und seine »gloire« erfochten hatte, aber unter der seine Verwandten geblutet hatten, anzunehmen.

Indessen wurde jetzt mit dem Grafen, während dessen älterer Bruder, der Graf von Provence sich nach und nach anschickte, als Ludwig der Achtzehnte sein Königreich anzutreten, ein Waffenstillstand und dann der erste Pariser Friede abgeschlossen, ein Friede, der Deutschland in keiner Weise zufrieden stellen konnte. – Rußland wie England war es bei diesem Friedensschlusse sehr gleichgültig, ob Deutschland dadurch wieder zu seinen, im Revolutionskriege, im Elsaß sowohl wie in Lothringen verlornen Gränzen kommen sollte, überdem hofften die beiden Mächte, die schwierige Lage des neuen Königthums sicherer zu befestigen, wenn Frankreich einen Theil seiner Eroberungen behielte. – Hatte man in Paris Napoleon auch fallen lassen, das was er gewonnen und erobert, wollten die Franzosen darum doch nicht wieder herausgeben. Eben so wenig dachten die beiden genannten Mächte daran, Entschädigung für die ungeheueren Requisitionen, die Plünderung der deutschen Hauptstädte, die furchtbaren Kriegssteuern, die unserm Vaterlande auferlegt waren, zu fordern; nicht einmal die geraubten Kunstschätze holte man zurück. Einzig und allein die Trophäen, welche den Dom der Invaliden schmückten, die Bücher und Handschriften der Wiener Bibliothek, sowie die Victoria vom Brandenburger Thore zu Berlin wurden wieder nach Hause gebracht. Heute noch besitzt Paris auf seiner Bibliothek eines der kostbarsten Monumente mittelalterlicher deutscher Kunst, jene Gedichtsammlung unserer alten Minnesänger mit Miniaturmalereien auf Pergament, bekannt unter dem Namen der Manesse'schen Sammlung, welche die Franzosen gleichfalls weggeraubt. –

[27] Preußen, das in diesem Kriege die größten Opfer gebracht, das die treibende Kraft desselben gewesen war, hatte am meisten Ursache, sich zu beklagen. Seine Staatsmänner wünschten und verlangten eine Entschädigung Preußens durch Abtretung des Königreiches Sachsen, dessen König durch sein verblendetes Festhalten an Napoleon auch noch nach dem Manifest von Kalisch sein Land offenbar verwirkt hatte. In leichtsinnigster Weise jedoch versäumte der Staatskanzler Fürst Hardenberg, dies allsogleich geltend zu machen, und als Preußen nun endlich für die furchtbaren Erpressungen Napoleon's 140 Millionen Franken Entschädigung forderte, sowie einen Ersatz von 132 Millionen für die furchtbare Bürde des Truppen-Durchmarsches im Jahre 1812, geberdete sich das neue französische Königthum so trotzig, daß die übrigen Mächte Preußen mit seiner Forderung allein stehen ließen. So wurden denn auch schließlich, bei dem Friedenstractat Frankreich die Gränzen von 1792 bewilligt, nebst einer Abrundung an der belgischen, deutschen und savoyischen Gränze. Es verblieb ihm somit gegen früher eine Vergrößerung von 150 Quadratmeilen mit 450,000 Einwohnern. – Anstatt wenigstens Straßburg zurück zu nehmen, überließ man Frankreich auch noch alle jene Besitzungen, welche die geistlichen und weltlichen Herren am Rhein und Main vor der Revolution im Elsaß und in Lothringen besessen hatten. Endlich wurde bezüglich der inneren Verhältnisse Deutschlands bestimmt, daß die deutschen Staaten, Jeder für sich unabhängig bleiben und daß sie nur durch ein föderatives Band geeinigt werden sollten. – Zwei Monate nach dem Friedensabschluß war ein Congreß sämmtlicher Mächte in Wien zusammenberufen, um den Pariser Vertrag, dessen Grundlagen wir soeben kennen gelernt, zu vervollständigen und zu ratificiren. –

Ehe dann die Verbündeten Paris verließen, wurden die[28] preußischen Feldherren noch durch Dotationen und Standeserhöhungen belohnt, sowie die Staatsminister Hardenberg und Metternich in den Fürstenstand erhoben.

Nun folgten Alexander und Friedrich Wilhelm einer Einladung des Prinz-Regenten nach England und begaben sich mit einem glänzenden Gefolge über den Kanal, von dem englischen Volke mit Frohlocken empfangen, und, in der That England mochte sich des Sieges freuen, nach dem unerschütterlichen Widerstand, den es 20 Jahre lang Napoleon auf allen Meeren und in allen Welttheilen entgegengesetzt hatte. – Feste folgten auf Feste, ein wahrer Taumel des Glückes hatte das ganze Land ergriffen und der Held des Tages, den man mehr feierte, als alle Monarchen und Staatsmänner, war »Vater Blücher«, wie er sich lieber nennen hörte, als mit seinem neugebacknen Titel: »Fürst von der Wahlstatt.« –

Stein folgte der Einladung nach London nicht: »Ich mag nicht nach England, um mich von dem Prinz-Regenten – dem späteren Georg IV. – begaffen zu lassen,« so äußerte er sich. Trotz aller Erfolge war das Herz ihm schwer; der Feind lag am Boden, aber sollte nun auch das theure Vaterland sich so erheben und sich so entwickeln, wie seine treue Seele es wollte? Nein, nicht einmal amtlich schaffen und wirken konnte er in seinem Sinne dafür, weil ihm jedes bestimmte Dienstverhältniß fehlte. Preußen hatte ihm keine neue Stellung angetragen, die Anerbietungen des Czaaren schlug er aus, denn er wollte seinem Vaterlande und nicht dem Fremden dienen. Wie nöthig aber waren diesem Vaterlande solche Männer, wie Stein, denn das alte Chaos, die alte Unklarheit über das, was nun geschehen sollte und mußte, trat schon wieder an die Stelle frischer Triebkraft und höherer Entschlüsse. Ueberall, in den Kreisen der Gebildeten, herrschte Unzufriedenheit wegen des milden Friedens, und wie richtig bewährten sich die Worte, die damals ein verständiger[29] Zeitgenosse aussprach: »Mag immerhin die Politik fordern, daß Frankreich ein bedeutender Staat bleibe; gewiß fordert sie noch mehr, daß das eigne Vaterland es sei und sicher bleibe gegen die Franzosen. Warum hat Frankreich seit Jahrhunderten Frieden im Innern? weil eine feste Gränze es deckte. Und führte nicht der Friede den Franzosen 200,000 geübte, sieggewohnte Krieger zurück? Mittel genug, um den Kampf gegen das ungeschützte Deutschland zu erneuern!«

Es ist gut, sich solcher Worte zu erinnern, um es recht deutlich daran zu erkennen, wie gerechtfertigt in jedem Sinne es gewesen, daß der Friedensschluß von 1871 uns endlich diese richtige Gränze gegeben..

In gleicher Weise vernehmen wir denn auch schon damals die Mahnungen der bedeutendsten Männer, diesen Zeitpunct zu benutzen, um Deutschland zur Einheit zu verhelfen. Leider waren diese Mahnungen mehr die Aeußerungen eines richtigen Gefühls, als klaren Verständnisses über die Art und Weise, in der zu handeln sei. Ein Volk, welches wie das deutsche, seit so langer Zeit des Gebrauchs seiner eignen Kräfte entwöhnt war, welches nur regiert wurde und seit lange kaum noch irgend einen selbstthätigen Antheil an seiner Gesetzgebung und Verwaltung genommen hatte, konnte es nicht über Nacht lernen, seine eignen Angelegenheiten in die Hand zu nehmen. Als die Wucht des Bedrückers zu groß geworden, da war dieses Volk aufgestanden, wie ein Löwe und hatte die äußere Gewalt durch äußere Gewalt zurückgestoßen, nun legte es sich wieder nieder und wartete auf den Lohn, der ihm kommen sollte. Den Fürsten und Diplomaten blieb somit wieder das Feld offen, aber diese dachten gar nicht daran, den in der Stunde der Gefahr versprochnen Lohn auszuzahlen; im Gegentheil, schon jetzt galten die höflichsten und zahmsten Vorschläge, die man im Interesse der Nation machte, für »demagogische Umtriebe!« –[30]

Unter solchen Stimmungen und Verhältnissen bereitete sich jetzt in Wien das glänzende Schauspiel vor, welches wir als den Wiener Congreß, unseligen Angedenkens, kennen. – Im Jahr 1814 war Kaiser Franz, genau nach Abwesenheit eines Jahres, wieder in seiner Residenz eingezogen, er hatte weder den Einzug in Paris, noch die Reise nach England mitgemacht, aber er bereitete sich jetzt vor, an seinem Hofe alles zu empfangen, was damals Europa in den Spitzen der Gesellschaft an Talent, Geist, Schönheit, Liebenswürdigkeit, aber auch an Verdorbenheit und Verschlagenheit aufzuweisen hatte. Seit Jahrhunderten hatte man keine so glänzende Versammlung gesehen, die zugleich einen Gerichtshof bildete, vor dem sich Alles, was seit Jahren von Napoleon war geschädigt worden, vom Größten bis zum Kleinsten, zusammenfand. – Die Illumination Wiens, begleitet von einem Feuerwerk, wie man es glänzender noch nie gesehen, empfing die Gäste und bildete zugleich den Ausgangspunkt einer wirbelnden Kette von Festen und Vergnügungen, unter derem Geräusch nicht allein der hohe Ernst vergessen wurde, welcher hier am Platz gewesen wäre, sondern die auch den besten Deckmantel abgaben für Intriguen und Ränke aller Art, welche den Congreß zu keinem Resultate kommen ließen. »Le congrès danse, mais il ne marche pas«, dieses bekannte Witzwort des alten Fürsten von Ligne, ist die beste Characteristik jener glänzenden, aber unfruchtbaren und unsäglich frivolen Tage. –

Unsere vaterländischen Interessen nun, die dort sollten berathen werden, bewegten sich hauptsächlich um zwei Fragen, deren Wichtigkeit damals schon vollständig klar eingesehen wurde, die aber dennoch erst 50 Jahre später gelöst werden sollten. – Erinnern wir uns hier einen Augenblick daran, wie 1806 das alte heilige, römische Reich klanglos zur Grube gefahren war, wie der deutsche Kaiser Franz II., sich[31] aus einem östreichischen Erzherzog in einen östreichischen Kaiser verwandelt hatte.

Seitdem fehlte den deutschen Staaten jedes einheitliche Band, und nun handelte es sich darum, ein solches neu zu schaffen, die deutschen Landesgebiete neu zu vertheilen. Nirgends sonst, wie in Frankreich, hatte die französische Revolution so tiefe Spuren zurückgelassen, als in Deutschland. Die siegreiche Republik hatte dort, so weit ihr Arm reichte, die geistlichen Ländereien eingezogen und an weltliche Fürsten vergeben; sie hatte die kleinen weltlichen Fürsten schockweise mediatisirt; sie hatte die Umstürzung aller Feudalrechte bei den Standesherren, die unter ihre Herrschaft geriethen, ganz ebenso vollzogen, wie bei den adeligen Grundbesitzern Frankreichs. – Alle diese Beraubten kamen nun schaarenweise heran und verlangten von Kaiser Franz, wieder in ihre Rechte eingesetzt zu werden. Wie konnte dieß geschehen ohne eine vollständige Rückkehr zum Alten? Aber auch vernünftige, treffliche Vorschläge ließen sich hören und ich betone, namentlich in Hinblick auf unsere neueste Tagesgeschichte, den Antrag des edlen und freisinnigen Wessenberg, des Bischofs von Constanz, auf Bildung einer deutschen, katholischen Kirche, unabhängig von Rom, unter einem deutschen Primas. Damit sollte sich eine gesetzliche Ordnung der Verhältnisse zwischen Staat, Kirche und Schule vereinigen. – Kehrte hier doch derselbe Gedanke wieder, der bereits im Mittelalter unsre kräftigsten Kaiser, und namentlich den Hohenstaufen Friedrich I.2 beschäftigt hatte, der jedoch immer an dem Geist der Zeiten nicht so sehr, als an der Eifersucht der deutschen[32] Fürsten unter einander scheitern sollte. – So langsam reifen oft die Ideen der Geschichte, daß wir erst heute einem vernünftigen Ziele mit Entschiedenheit entgegen zu gehen scheinen.

Die leitenden Staatsmänner in Wien waren eben durchaus nicht dazu angethan, solchen und ähnlichen Gedanken Sympathie und guten Willen entgegen zu bringen. – Fürst Metternich, der glatte, listige Salonmensch, wurde wieder sehr bald der Mittelpunkt aller Verhandlungen und Intriguen, und schnell gesellte sich zu ihm, als verwandtes Element, der Bevollmächtigte Frankreichs, Talleyrand. Beide theilten mit einander die Trägheit und Gleichgültigkeit des Herzens gegen alles Große und Wahre; die Oberflächlichkeit, Sittenlosigkeit und Genußsucht der Kreise, in denen sie sich bewegten, nicht weniger auch den Mangel an jeder fruchtbaren politischen Schöpferkraft. – Kaiser Franz, durch Metternich vollständig beherrscht, war bekanntlich in allen geistigen Dingen eine Null; denk- und arbeitsfaul und stets nur zu kleinlichen Spielereien aufgelegt. Die zahllosen Audienzen, die er ertheilte, die Möglichkeit, daß Jeder zu ihm gelangen konnte, erwarben ihm das Epitheton: Der gute Kaiser Franz! welches hier schlecht genug angebracht war, denn wenn ihn auch zuweilen das Geschick eines Einzelnen zu rühren vermochte, so konnte er doch mit stumpfer Gleichgültigkeit das Schicksal ganzer Völker preisgeben. Dabei hatte sich in ihm mehr und mehr die Frucht seiner italienischen Erziehung entwickelt; die Falschheit, das Mißtrauen, selbst gegen seine eigne Familie –, und so paßte ihm ein Minister, wie Metternich, der in nichts so wohl erfahren war, als in Polizeikünsten aller Art, wie der Handschuh auf die Hand. Alle Zeitgenossen Metternich's stimmen darin überein, daß derselbe im Ganzen ein mittelmäßiger Kopf, von oberflächlichster Bildung gewesen, dagegen ein Meister in allen feinen Formen der Geselligkeit und des Verkehrs, und immer da, wo es sich[33] um tiefer eingehende Fragen handelte, ein »Schweiger«, eine Sorte von Menschen, die, wie wir uns täglich selbst zu überzeugen vermögen, gewöhnlich imponiren, weil man annimmt, sie schwiegen entweder aus überlegner Zurückhaltung oder einem besser unterrichteten Urtheil, die aber nur darum schweigen, weil sie nichts zu sagen wissen. »Einen lackirten Staub«, so nannte Metternich zur Wiener Zeit der Schweizer Merian, aber dieser Staub verbrauchte unsinnige Summen, um seiner Verschwendung und Genußsucht Genüge zu leisten, und es war bekannt, in welchem Grade er darum der Bestechung zugänglich war; nicht weniger empfänglich zeigte er sich für die Einflüsterungen schöner Frauen, die nur zu oft durch seinen Einfluß regierten, und gerade auf dem Wiener Congreß interessirte ihn sein Liebesverhältniß zu der reizenden Herzogin von Sagan weit mehr, als die ernsten Fragen des Tages. Ich mußte etwas eingehender bei der Characteristik dieses Mannes verweilen, denn sie ist zugleich der Stempel einer Politik, die sich bald nur zu verhängnißvoll über die deutschen Geschicke lagern sollte – jeder tieferen staatsmännischen Einsicht, jeder sittlichen Anschauung und Erwägung bar. Mit gerechtem Schmerze schrieb damals Stein: »Es ist jetzt die Zeit der Kleinheiten, der mittelmäßigen Menschen; Alles das kommt wieder hervor, und nimmt seine alte Stellung ein, und diejenigen, welche Alles auf das Spiel gesetzt haben, werden vergessen und vernachlässigt.«

So erging es auch ihm, nur als Zuschauer wohnte er dem Congresse bei, und die leitenden preußischen Staatsmänner hatten nicht die Kraft der Strömung zu widerstehen; Fürst Hardenberg war ja viel zu schwach und characterlos, um etwas durchzusetzen, Wilhelm v. Humboldt wohl nicht warm genug für die deutsche Sache. Er war ein Mann aus der Goethe'schen Schule und mehr der classischen, beschaulichen Ruhe, als dem heißen Partheikampfe zugeneigt. Dieser entbrannte[34] denn nun doch inmitten aller Feste und äußeren Herzlichkeiten über die künftigen Schicksale Sachsens und Polens. Das erstere Land, wie es wohl das Richtige gewesen wäre, mit Preußen zu vereinigen, dazu konnte sich die Eifersucht Oestreichs nicht verstehen: »Es ist halt hart, einen Fürsten vom Thron zu stoßen,« sagte Kaiser Franz in seinem blinden Eifer für die Legitimität seines königlichen Vetters, und eben so hartnäckig vereinigten sich Preußen und Oestreich zum Widerstand gegen Rußland hinsichtlich dessen Plänen auf Polen, namentlich seitdem England sein Gewicht gegen eine neue Vergrößerung Rußlands im Osten in die Wagschaale geworfen hatte. Das Gerechte und Vernünftige wäre es auch hier gewesen, ein neues, unabhängiges Königreich Polen zwischen Deutschland und Rußland zu schaffen, damit den Raub und die Theilungen des 18. Jahrhunderts zu sühnen und Rußlands nächste Berührung mit unsern Gränzen fern zu halten. Wären die hierbei betheiligten Mächte constitutionelle Staaten gewesen, hätten sie ihren persönlichen Willen zugleich einem Volkswillen unterbreiten müssen, so würde dieser vernünftige Weg wohl eingeschlagen worden sein, nun aber überwog das absolute und persönliche Interesse der Einzelnen jede Erwägung einer gesunden Politik. Um jeden Preis verfolgte Kaiser Alexander jetzt in Wien das Ziel seiner Großmutter, der großen Katharina, die Gränze Rußlands bis in das Herz Europa's vorzurücken, und mit Heftigkeit verlangte er die Restaurirung des Großherzogthums Warschau unter russischer Oberhoheit; den Polen versprach er, um diese für sich zu gewinnen, eine Verfassung, doch ohne nur daran zu denken, auch seinen Russen eine solche zu geben. Damit Preußen ihm zu Polen verhelfe, wurde ihm Sachsen versprochen, und es fehlte wenig daran, daß der König sich fangen, und in eine Allianz mit Rußland verflechten ließ, gegen das eigne, nächste Interesse seines Landes. So erbittert[35] wurde der Streit, Alexander zeigte sich in solchem Grate gereizt, daß es beinahe zum Krieg zwischen den Verbündeten gekommen wäre; zu diesem Zwecke hatten bereits am 3. Jan. 1815 sich Oestreich, England und Frankreich miteinander verbunden. Talleyrand versäumte diese günstige Gelegenheit nicht, Frankreich wieder in die Reihe der maßgebenden Staaten zu erheben, ehe noch die Rechnung ganz mit ihm abgeschlossen war, indem er sich in schlauester Weise als Gleichberechtigter in die Unterhandlungen einmischte. »Der König von Sachsen muß sein Land wieder haben, sonst schieße ich!« erklärte Kaiser Franz und so entschloß man sich denn endlich, unter dem Drucke dieser Spannung zu einer Theilung Sachsens. Jener Theil, der heute die Provinz Sachsen bildet, wurde abgetrennt und Preußen übergeben; der Rest des Königreichs blieb unter seinem Souverain fortbestehen. Eine weitere Entschädigung erhielt Preußen am Rhein, und obgleich dies mit der klugen Berechnung geschah, Preußen an der Arrondirung seines Gebietes zu hindern, wurde gerade diese Bildung der preußischen Rheinprovinz ein Glück für Deutschland und bot jetzt eine achtunggebietendere Gränze gegen Frankreich dar, als wenn man diesen Landstrich auf's Neue, wie früher in kleine Theile zersplittert hätte. – Ich darf Sie ja auch kaum daran erinnern, wie jener südliche Theil des Rheingebiets, der zwischen Baiern, Hessen und Baden getheilt ist, im Jahre 1870 den Franzosen den vortheilhaftesten Angriffspunkt darbot. – Immerhin war Preußen damit noch nicht so reichlich entschädigt, wie es nach Maßgabe seiner Anstrengungen verdient hätte; auch Baiern war unzufrieden, obgleich ihm Anspach und Baireuth, was früher zu Brandenburg gehörte, verblieb. – Der Prinz von Oranien erhielt Holland zurück, welches nun, vereinigt mit den flandrischen Provinzen, dem heutigen Belgien, das Königreich der Niederlande bildete, der neue König aber entsagte[36] dagegen seinem Stammlande Nassau; doch blieb er deutscher Bundesfürst und erhielt als solcher die Festung Luxemburg zum Besitz. –

Soweit war man endlich mit den Verhandlungen gediehen, als wie durch einen Blitzstrahl alle Festlichkeiten, alle ernsteren Arbeiten mit einem Male unterbrochen wurden durch die Kunde von der plötzlichen Rückkehr Napoleon's nach Frankreich und dem jubelnden Empfange, der ihn dort begrüßte. – Seitdem wieder ein König aus dem Stamme des heiligen Ludwig den französischen Thron bestiegen, hatte er sowohl, wie die Seinen von der ersten Stunde an nichts versäumt, ihren Abscheu gegen Alles das kund zu geben, was die Zeit der französischen Revolution hervorgerufen und zurückgelassen. Es war ja verzeihlich, daß die schmerzlichsten Gefühle und Erinnerungen die Brust der Zurückgekehrten durchbebten, es war natürlich, daß die Herzogin von Angoulême, die Tochter des hingerichteten Königspaares, in tiefe Ohnmacht sank, als sie zum ersten Male wieder den Fuß in die Tuilerien setzte, dem Schauplatz des entsetzlichsten Angedenkens für ihr Herz, aber dies Alles verstimmte doch die Nation in hohem Grade. Wollten die Bourbonen wieder über Frankreich regieren, so mußten sie die Vergangenheit vollständig ruhen lassen, durften sie jetzt nicht nachträglich ihren Gefühlen der Rache und des Abscheues offnen Lauf lassen. Die öffentlichen Ovationen für das Andenken des hingerichteten Königs, durch Veranstaltung von Processionen, bei denen man mit Ostentation die Embleme der Bourbonen in den Vordergrund stellte, nicht weniger die religiösen Kundgebungen aller Art verletzten das Volksgefühl auf das Peinlichste; nicht minder die Rücksichtslosigkeit, mit der sich der bonapartistische Adel behandelt und zurückgedrängt sah. Auch die Truppen, unter denen naturgemäß noch die größte Sympathie für Napaleon herrschen mußte, wurden durch die sofortige[37] Veränderung ihrer Feldzeichen beleidigt! Sie mußten die weiße Fahne entfalten und die weiße Cocarde anheften, aber sie versteckten ihre Adler und ihr dreifarbiges Abzeichen, und bei dem Schwur für den König setzten sie leise hinzu: »von Rom«.

Napoleon war von Allem, was in Frankreich sowohl, wie auf dem Congresse vorging, genau unterrichtet, auch wußte er, daß die Bourbonen in Wien mit richtigem Instinct seine Entfernung nach St. Helena beantragt hatten. Er mußte handeln, ehe dieses gegen ihn ausgeführt wurde, und so verließ er mit raschem Entschlusse ganz heimlich am 26. Februar 1815 die Insel Elba, um am 1. März, begleitet von 900 Getreuen, bei Cannes wieder den französischen Boden zu betreten. Sein plötzliches Erscheinen überraschte seine Anhänger keineswegs; die allgemeine Unzufriedenheit mit den Bourbonen bildete gewissermaßen eine große, offene Verschwörung für ihn, und mit solcher Zuversicht erwartete man des Kaisers Rückkehr, daß man sogar den Zeitpunkt dafür im Voraus bestimmte. Mit dem Erscheinen der Märzveilchen sah man auch dem seinigen entgegen, und »Père de violette« nannte ihn der Volksmund, als man ihn nun im März wirklich jubelnd begrüßte und ein zwanzigtägiger Triumphzug, der sich immer glänzender entfaltete und die Zahl seiner Anhänger zu Tausenden vermehrte, ihn nach der Hauptstadt zurückführte. Das Veilchen ist bekanntlich seitdem ein Emblem der Napoleoniden geblieben.

Napoleon hatte nicht sobald seinen Fuß wieder auf das Festland gesetzt, als er das gewichtige Wort aussprach: »Der Wiener Congreß ist aufgelöst!« und in der That schien Alles zum früheren Zustande zurückkehren zu wollen. Einen Augenblick hatte Paris an Widerstand gedacht, aber noch schneller als sie die Hauptstadt, gaben die Bourbonen sich wiederum selber auf. In eiliger Flucht entwich Ludwig XVIII. nach [38] Gent, und ließ dem Kaiser Raum, wieder in die Tuilerien einzuziehen. Ein solch glänzender und leichter Sieg rief dem französischen Volke die größten Momente der kaiserlichen Regierungszeit zurück; ein Taumel des Entzückens ergriff die ganze Nation und so furchtbar war die Aufregung jedes Einzelnen, daß Menschen vor Freude starben bei der Kunde von Napoleon's Rückkehr. – Aber so schnell wie er gekommen, so schnell war auch dieser Taumel wieder verflogen; mochte auch die Situation äußerlich der einstigen Rückkehr des General Bonaparte aus Aegypten gleichen, innerlich war sie doch sehr davon verschieden. Vielleicht hätte der Kaiser auch jetzt wieder eine längere Herrschaft an sich gerissen, wenn er seine ganze kaiserliche Vergangenheit weggewischt, und den Rath seines Bruders Lucian, wie auch den des Republikaners Carnot befolgt, und auf's Neue die Republik proclamirt hätte. Doch war wohl selbst dann noch der Ausgang höchst zweifelhaft.

Napoleon hatte mit seiner Despotennatur Alles verbraucht – die Republik, das Consulat, die Dictatur, das absolute Kaiserthum – Niemand glaubte ihm mehr, als er jetzt vorgab, zur constitutionellen Regierungsweise umkehren zu wollen. So glich seine Rückkehr mehr der eines Theaterhelden als der eines achtunggebietenden Herrschers, und die ganze Komödie, die er jetzt aufführte, mit einer neuen Verfassung, mit Volkswahlen, Kammern, Schwurgerichten, freier Presse – ja mit der Herstellung eines Maifeldes, wo das Volk in freier Wahl, nach alter Sitte, die neue Verfassung annehmen oder verwerfen sollte, konnte ihm nichts mehr helfen! – Seine Lage war unendlich schwieriger, als sie vor Elba gewesen, und hatte er auch nicht mit Unrecht große Pläne auf die Zwietracht im Schooße des Congresses gebaut, so wurden diese doch dort schnell vereitelt durch das Gefühl erneuter, gemeinsamer Gefahr, und Napoleon's Rückkehr im Gegentheil ein Sporn der Thatkraft für ihn. –[39] Schon am 13. März erließen die Gesammtmächte ein Manifest an das französische Volk, worin sie es aufforderten, seinem Könige und der neuen Regierungsform treu zu bleiben; sie erklärten, daß sie ihrerseits den Pariser Frieden aufrecht erhalten und nicht gegen Frankreich, sondern nur gegen Napoleon Krieg führen würden. Darauf wurde am 25. März die große Allianz, zum Zwecke Napoleon vollständig unschädlich zu machen, erneuert. Zum zweiten Male stand fast ganz Europa wider ihn in Waffen, und zwar dieses Mal mit lobenswerther Raschheit und Energie; man durfte ihm auch in der That keine Zeit lassen, neue Ränke zu spinnen, wozu er sich eben wieder anschickte. – Die Frage blieb nur noch die, ob man Napoleon gleich angreifen, oder ob man abwarten solle, bis sich die Heere der Mächte vereinigt hatten. Die Lage wurde durch Napoleon selbst entschieden, der wie gewöhnlich die Offensive ergriff, und Blücher und Wellington zu schlagen hoffte, ehe die Andern herankommen konnten. Ersterer stand am Niederrhein, Wellington in Belgien. So kam es, daß der neue Feldzug schon in drei Tagen beendigt sein konnte. Am 16. Juni kämpfte Napoleon auf zwei Schlachtfeldern zugleich, bei Ligny gegen die Preußen, bei Quatrebras gegen die Engländer, deren Vereinigung er dadurch zu verhindern hoffte. Blücher mußte sich auch wirklich zurückziehen, aber nach 40 Stunden erschien er schon wieder kampfbereit. Die Engländer waren nach dem Gefecht von Quatrebras von einem Balle der Herzogin von Richmond, den sie in Brüssel gab, weggeeilt; in die Klänge der Ballmusik mischten sich die fernen, dumpfen Schläge der Kanonen und herzzerreißend war der Abschied, mit dem die Tänzer nun eiligst von ihren Partnerinnen schieden, zum blutigen Tanze auf dem Schlachtfeld. – Die Engländer hatten sich in der Richtung von Brüssel zurückgezogen, Napoleon folgte ihnen und am 18. Juni 1815 erfolgte die entscheidende Schlacht[40] bei Waterloo oder bei Belle-Alliance, so genannt von einer Mühle, die den Mittelpunkt der Action bildete.

Großartig war die unerschütterliche Ausdauer, welche die Engländer bei Waterloo bewiesen. Wellington's Parole lautete: »Blücher oder die Nacht!« und Vater Blücher täuschte seine Zuversicht nicht. Wie entsetzlich auch die Wege in Folge anhaltenden Regens sein mochten, wie ermüdet auch die Preußen nach kaum überstandenem Kampfe sich fühlten, – sie leisteten dennoch das Uebermenschliche. Vater Blücher war mitten unter ihnen und trieb sie an mit Wort und Blick. »Kinder, wir müssen fort; ich habe Wellington mein Wort gegeben; ihr wollt mich doch nicht wortbrüchig werden lassen!« – Und sie verließen ihn nicht, seine treuen, tapfern Soldaten, – gegen Abend, zwischen fünf und sechs Uhr, ging es wie ein erfrischender Hauch durch die gelichteten Reihen der erschöpften Britten von Mund zu Mund: »Die Preußen kommen!« Wellington war mit seinem Widerstand fast zu Ende; seine besten Generale lagen um ihn her, todt oder verwundet, nun aber belebte wieder Alle ein erhöhter Muth, und unterstützt durch Blücher's Schaaren begrüßten die beiden Generale einander als Sieger, nachdem um 8 Uhr die Schlacht sich ausgetobt hatte und die Franzosen in wilder Flucht den Kampfplatz verließen.

Dieses Mal waren die Feldherren gleich einig, Napoleon energisch zu verfolgen und Gneisenau wurde damit betraut. »Wie man siegt, haben wir gezeigt, nun wollen wir auch zeigen, daß man verfolgen kann!« so rief er aus, nahm Füsiliere und Uhlanen und jagte mit ihnen hinter dem flüchtigen Feinde drein. Die Soldaten stimmten das Lieb an: »Herr Gott dich loben wir,« und dann ging es vorwärts wie im Sturm; die Ermüdeten setzte man auf erbeutete Pferde, und nicht eher hielt die wilde Jagd inne, als bis die letzten Reste der französischen Armee total versprengt waren.[41]

Napoleon war, als er sah, wie Alles für ihn verloren sei, in sich zusammengebrochen, ohne Kraft und Willen; französische Jäger entrissen ihn dem Getümmel und führten ihn mit sich fort, erst zu Wagen, dann zu Pferde. Bald stießen die Verfolger auf seine Bagage, seine Equipage und Geldwagen. Auch das ganze Gepäck der Marschälle wurde erbeutet und die Soldaten wühlten in Kostbarkeiten jeder Art, deren Werth sie kaum kannten, wie einst die Schweizer Hirten und Bauern, welche Karl den Kühnen geschlagen und seine Reichthümer erbeutet hatten. – Vielfach hat man später darüber hin und her gestritten, wer eigentlich die Schlacht bei Waterloo entschieden, die Preußen oder die Engländer, wir aber schließen uns wohl gerne Friedrich von Gagern an, der Beiden den Lorbeer ertheilte und wohl am richtigsten sagte: »Bei Waterloo hat Wellington das Meiste gethan, Blücher das Meiste gewagt!« –[42]

Quelle:
Luise Büchner: Deutsche Geschichte von 1815 bis 1870. Leipzig 1875, S. 23-43.
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Deutsche Geschichte von 1815-1870
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Angelus Silesius

Cherubinischer Wandersmann

Cherubinischer Wandersmann

Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«

242 Seiten, 11.80 Euro

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Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

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