[207] (An Florens.)
Ich saß in meines Daseyns enger Kammer,
Nachsinnend der Gemüther hohen Tiefen,
Und der Verstand' und der Vernünfte Jammer;
Als plötzlich mir aus ihren Gräbern riefen
Vernehmlich alle stummen Herzensgründe
Der Todten, die vorlängst in Gott entschliefen.
Und vor mir stand im härenen Gewinde
Cecilia, mit ihrer heil'gen Zitter,
Und sang: »Das Vließ des Glaubens such' und finde!«
Geweckt nun blickt' ich durch der Träume Gitter,
Und schaute vor mir offne Todesauen,
Voll grüner Stürm' und blühender Gewitter.
Um sieben Hügel, gräblich anzuschauen,
Wand sich ein leichendampfendes Gestade,
Und drauf ein Lamm in eines Löwen Klauen!
[207]
Leu brüllte Rach', und Lämmchen blökte Gnade –
Da sang Cecilia: »Kannst Du's ergreifen,
Wird Deine seyn der Liebe volle Lade!«
Und unwillkürlich fing ich an zu pfeifen.
Schnell auf den Pfiff kam der gebratne Lorenz;
Und eilends ließ der Leu das Lämmchen streifen –
Den heil'gen Braten schnappt' er; o, mein Florens!
Ich sehe noch das Lamm im Grase streifen,
Und den an dessen Statt verschluckten Lorenz.
Ich aber fuhr noch immer fort zu pfeifen,
Und lockte, stets die Augen auf die Lade,
Das Lämmchen, das sich ruhig ließ ergreifen.
Und's Lämmchen sprach: »Jetzt wird Dir große Gnade,
Daß mich gerettet aus des Löwen Klauen
Dein frommes Pfeifen hier am Dampfgestade!
Nimm meine Lade hin! da wirst Du schauen
Der Erdenwüste Stürm' und Ungewitter
Verwandelt in Gedüft der Himmelsauen!
Blick' in das Inn're durch das äußre Gitter,
Und was Du zeitlich suchtest, ewig finde,
Weil fromm Du horchtest jener heil'gen Zitter!«
Ich guckt' hinein. O Pracht! im Lichtgewinde
Von Engeln, die in Lilienwiegen schliefen
Auf Rosenwellen blauer Aethergründe,
Sah ich eilftausend Jungfraun, die mir riefen:
»Halleluja! verschwunden ist Dein Jammer!
Wir öffnen Dir der Seligkeiten Tiefen!«
Und jede zog mich leis' in ihre Kammer,
Mein Herz in heil'ge Wonne zu vertiefen;
Als bei der letzten – Jammer über Jammer! –
[208]
Ich fand eilftausend Jünglinge, die riefen:
»Wir haben zu Geseufz eilftausend Gründe;
»Auch wir sind Märtyrer: wir alle schliefen,
»Entflohen aus dem weltlichen Gewinde,
»Gelockt von der Cecilia heil'gen Zitter,
»Bei diesen Jungfraun. Glaube! such' und finde!
»Erscholl's auch uns. Wir suchten hinterm Gitter –
»Was fanden wir? Du wirst es bald mit Grauen
»Entdecken!« – Wie vom plötzlichen Gewitter
Getroffen, lag ich, ohn' umherzuschauen,
Gleich einem Schifferleichnam am Gestade,
Gepackt auf einmal von eilftausend Klauen.
Vergebens schrie ich: Gnade! Gnade! Gnade!
Die Klauen fuhren fort, mich anzugreifen
Es stinkte, wie in einer Leichenlade –
Ich pfiff, voll Todesangst; doch auf mein Pfeifen
Kam diesmal weder Leu, noch Lamm, noch Lorenz.
Sie fingen an die Haut mir abzustreifen
Bis auf die Knochen. O, mein theurer Florens!
Ich flucht' in diesem Augenblick dem Streifen,
Dem Suchen, Allem, selbst dem heil'gen Lorenz,
Trotz seiner Unschuld, und zumal dem Pfeifen. –
Mir Knochenmann in meiner Todeslade
War endlich gar kein Fleisch mehr anzugreifen;
Doch mein Gerippe selbst ward ohne Gnade
Zerrissen von den unsichtbaren Klauen,
Bis auf die Seel'. Am nämlichen Gestade,
Wo ich zuerst erwacht', und wo zu schauen
Die sieben Hügel waren voll Gewitter,
Fand ich mich jetzt, ganz auf denselben Auen.
[209]
Doch, statt Cecilia, stand dort am Gitter
(Was ich noch immer unbegreiflich finde)
Ich selber, in der Hand, statt einer Zitter,
'Nen Stiefelknecht, mit spanischem Gewinde
Von Schafgedärm. Ich spielt', und Alle schliefen
Um mich herum, und, was ich nie ergründe,
Auch ich schlief ein – als wieder laut mich riefen
Eilftausend Stimmen, ach! zu neuem Jammer,
Aus diesen wunderbaren weiten Tiefen
Zurück in meines Daseyns enge Kammer. –
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