Das Karussellpferd Johann

[382] Man schreibt den Sommer 1914. Eine phantastische Dichtergemeinde wittert Unrat und faßt den Entschluß, ihr symbolisches Steckenpferd Johann rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Wie Johann sich erst sträubt und dann einwilligt. Irrfahrten und Hindernisse unter Führung eines gewissen Benjamin. In fernen Ländern begegnet man dem Häuptling Feuerschein, der sich jedoch als Polizeispitzel entpuppt. Daran geknüpft historiologische Bemerkung über die Niederkunft einer Polizeihündin in Berlin.


»Eines ist gewiß«, sprach Benjamin, »Intelligenz ist Dilettantismus. Intelligenz blufft uns nicht mehr. Sie schauen hinein, wir schauen heraus. Sie sind Jesuiten der Nützlichkeit. Intelligent wie Savonarola, das gibt es nicht. Intelligent wie Manasse, das gibt es. Ihre Bibel ist das bürgerliche Gesetzbuch.«

»Du hast recht«, sagte Jopp, »Intelligenz ist verdächtig: Scharfsinn verblühter Reklamechefs. Der Asketenverein ›Zum häßlichen Schenkel‹ hat die platonische Idee erfunden. Das ›Ding an sich‹ ist heute ein Schuhputzmittel. Die Welt ist keß und voll Epilepsie.«

»Genug«, sprach Benjamin, »mir wird übel, wenn ich von ›Gesetz‹ höre und von ›Kontrast‹ und von ›also‹ und ›folglich‹. Warum soll der Zebu ein Kolibri sein? Ich hasse die Addition und die Niedertracht. Man soll eine Möwe, die in der Sonne ihre Schwingen putzt, auf sich beruhen lassen und nicht ›also‹ zu ihr sagen, sie leidet darunter.«

»Also«, sprach Stiselhäher, »lasset uns das Karussellpferd[382] Johann in Sicherheit bringen und einen Kantus singen auf das Fabelhafte.«

»Ich weiß nicht«, sprach Benjamin, »wir sollten doch lieber das Karussellpferd Johann in Sicherheit bringen. Es sind Anzeichen vorhanden, daß Schlimmes bevorsteht.«

In der Tat waren Anzeichen vorhanden, daß Schlimmes bevorstand. Ein Kopf war gefunden worden, der schrie »Blut! Blut!« unstillbar, und Petersilien wuchsen ihm über die Backenknochen. Die Thermometer standen voll Blut, und die Muskelstrecker funktionierten nicht mehr. In den Bankhäusern diskontierte man die Wacht am Rhein.

»Wohl, wohl«, sagte Stiselhäher, »lasset uns das Karussellpferd Johann in Sicherheit bringen. Man weiß nicht, was kommen mag.«

Auf himmelblauer Tenne, mit großen Augen, ganz in Schweiß gebadet, stand das Karussellpferd Johann. »Nein, nein«, sagte Johann, »hier bin ich geboren, hier will ich auch sterben.« Das war aber eine Unwahrheit. Denn Johanns Mutter stammte aus Dänemark, der Vater war Ungar. Man wurde sich aber doch einig und floh noch in selber Nacht.

»Parbleu«, sagte Stiselhäher, »hier hat die Welt ein Ende. Hier ist eine Wand. Hier geht es nicht weiter.« In der Tat gab es da eine Wand. Die stieg senkrecht zum Himmel.

»Lachhaft«, sagte Jopp, »wir haben, die Fühlung verloren. Ließen uns da in die Nacht hinein und haben vergessen, Gewichtsteine an uns zu hängen. Natürlich schweben wir nun in der Luft.«

»Paperlapp«, sagte Stiselhäher, »hier müffelt's. Ich gehe nicht weiter. Hier liegen Fischköpfe. Hier waren die Seekatzen am Werk. Hier hat man die Wellenböcke gemolken.«

»Weiß der Teufel«, sprach Runzelmann, »auch mir ist nicht recht geheuer. Man wird uns die Scharlatanenhemden über die Ohren ziehen!« Er schlotterte heftig.

»Das Ganze halt!« befahl Benjamin. »Was steht da? Ein Zeiserlwagen? Grün und mit Gitterfenstern? Was wächst da? Agaven, Fächerpalmen und Tamarinden? Jopp, sieh im Zeichenbuch nach, was das zu bedeuten hat.«

»Fatale Sache«, sprach Stiselhäher, »Ein Zeiselwagen zwischen Agaven. Schon faul. Weiß Gott, wo wir stecken.«[383]

»Unsinn«, rief Benjamin, »wenn es nicht dunkel wäre, könnte man genau sehen was los ist. Der Quacksalber von Roßarzt hat uns den falschen Weg gezeigt.«

»Tatsache«, sprach Jopp, »wir stehen vor einer Wand. Hier geht es nicht weiter. Gundelfleck, steck die Laterne an.« Gundelfleck kramte in seiner Tasche, zog aber nur eine mächtige hellblaue Orgelpfeife hervor. Die trug er immerhin bei sich.

»Kommen Sie näher, meine Herren«, ließ sich plötzlich eine Stimme vernehmen, »Sie sind auf dem Holzwege.« Es war der Häuptling Feuerschein. »Wo tappen Sie nächtlicherweile herum? Und in welchem Aufzug? Nehmen Sie die Zelluloidnasen ab! Demaskieren Sie sich! Man kennt Sie! Was sind das für Schellenbäume, die Sie da bei sich tragen?«

»Das sind Pritschen und Klingelstöcke und Narrenpeitschen, mit Verlaub.«

»Was ist das für ein Blasinstrument?«

»Das ist der Nürnberger Trichter.«

»Und was ist das für ein Watteklumpen da an der Leine?«

»Das ist das Karussellpferd Johann, bestens in Watte verpackt.«

»Larifari. Was wollen Sie mit dem Karussellpferd hier in der lybischen Wüste? Wo haben Sie das Pferd her?«

»Es ist gewissermaßen ein Symbol, Herr Feuerschein. Wenn Sie gestatten. Sie sehen nämlich in uns den sterilisierten Phantastenklub ›Blaue Tulpe‹.«

»Symbol hin, Symbol her. Sie haben das Pferd dem Heeresdienst entzogen. Wie heißen Sie?« »Das ist ja ein entsetzlicher Kerl!« sprach Jopp, »das ist ja die glatte Robinsonade.«

»Mumpitz«, sprach Stiselhäher, »er ist eine Fiktion. Das hat dieser Benjamin angerichtet. Er denkt sich das aus, und wir haben zu leiden darunter ...« »Sehr geehrter Herr Feuerschein! Ihr konföderiertes Naturburschentum, Ihre Latwergfarbe, das imponiert uns nicht. Noch Ihre entliehene Kinodramatik! Aber ein Wort zur Aufklärung: Wir sind Phantasten. Wir glauben nicht mehr an die Intelligenz. Wir haben uns auf den Weg gemacht, um dieses Tier, dem unsere ganze Verehrung gilt, vor dem Mob zu retten«

»Ich kann Sie verstehen«, sprach Feuerschein, »aber ich bin außerstande, Ihnen zu helfen. Steigen Sie ein in den Zeiserlwagen.[384]

Auch das Pferd, was Sie da bei sich haben. Vorwärts marsch, keine Umstände. Eingestiegen!«

Die Hündin Rosalie lag schwer in den Wochen. Fünf junge Polizeihunde erblickten das Licht der Welt. Auch fing man um diese Zeit in einem Spreekanal zu Berlin einen chinesischen Kraken. Das Tier wurde auf die Polizeiwache gebracht.

Quelle:
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt a.M. 1984, S. 382-385.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Tenderenda der Phantast
Tenderenda Der Phantast
Tenderenda der Phantast: Roman

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Bunte Steine. Ein Festgeschenk 1852

Bunte Steine. Ein Festgeschenk 1852

Noch in der Berufungsphase zum Schulrat veröffentlicht Stifter 1853 seine Sammlung von sechs Erzählungen »Bunte Steine«. In der berühmten Vorrede bekennt er, Dichtung sei für ihn nach der Religion das Höchste auf Erden. Das sanfte Gesetz des natürlichen Lebens schwebt über der idyllischen Welt seiner Erzählungen, in denen überraschende Gefahren und ausweglose Situationen lauern, denen nur durch das sittlich Notwendige zu entkommen ist.

230 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon