XI

[123] Um zunächst beim Somatischen zu bleiben: eine unbeseelte Welt der Sachen und Kräfte, wenn sie im Menschenbereiche sich denken ließe, wäre eine Welt des Chaos, des Todes und der Atome. Die Bestreitung der Seele, der konsequente Materialismus,[123] ließe sich im Denkbezirke nicht einmal geltend machen, weil der sprachliche Ausdruck, auch in der primitivsten Gestalt, auf Einheiten angewiesen ist, die die Seelentätigkeit voraussetzen. Eine animalische Welt ohne Urteile und Vorurteile, eine Welt der puren Beobachtung und somatischen Funktion ist möglich; niemand aber wird behaupten, daß diese Welt ohne Seele ist. Die Seele wird nur nicht sichtbar werden; sie wird verdrängt, vergessen, unbewußt aber vorhanden sein. Die psychische Welt wird heute nicht bestritten, eher wird sie überbetont. Was bestritten wird, ist der dritte Normbereich, der geistige, in seiner Differenz vom seelischen. Läßt sich eine Welt der Dauer, der ewigen Urform aufrechterhalten, und welche Funktion käme ihr hinsichtlich der ihr untergeordneten seelischen Sphäre zu?

Die Psychologie ›naturwissenschaftlich‹ begründen, das hieße nach unserer Dreiteilung eine Norm auf die andere reduzieren, das hieße aus der Psychologie eine Physiologie machen; in der seelischen Therapie aber hieße es die Kompetenz des Arztes überschreiten. Die Norm des Seelenarztes muß innerhalb des psychischen Bereiches liegen, wie unbedingt immer seine Tätigkeit, seine Funktion beiden, der leiblichen und der seelischen Sphäre, zugleich angehört. Wollte der Psychiater seine Therapie nur nach der individuellen somatischen Norm einrichten, was wäre die Folge? Würde er heilsam wirken können, würde er helfen können? Ohne Zweifel gibt es Neurosen, deren Heilung darin besteht, den Kranken seiner ungestörten sozialen Funktion wiederzugewinnen, wobei man sich aber sofort erinnern wird, daß die soziale Norm heute durchaus nicht feststeht, sondern nahezu dem Gutdünken des einzelnen überlassen ist. Die gesellschaftliche Norm richtet sich nach der ästhetischen, die ästhetische sich nach der geistigen. Die geistige Norm aber gilt, wie wir sahen, für erschüttert. Daher kommen ja gerade die Erkrankungen, die Neurosen, des somatischen Menschen, des Bürgers, sowohl wie diejenigen des psychischen Menschen, des Künstlers. Gewiß, ein Instinkt für die Norm wird nie völlig verschwinden, aber der Willkür ist Tür und Tor geöffnet.

Ich sagte, daß es Neurosen geben könne, die der einfache Arzt zu heilen vermag, weil sie nur auf dem Konflikt einer individuell[124] libidinösen Anlage mit der sozialen Umgebung, auf einem Kontrast naiver, aber verstrickter Sexualtriebe mit ›romantischen‹ Anschauungen des Patienten beruhen. Anders verhält es sich, wo den unbearbeiteten libidinösen Energien Verschärfungen aus der typischen und phylogenetischen Sphäre sich anhängen; wo der Kontrast sich nicht auf die somatische Norm, auf die Gesellschaft, sondern auf die typische Sphäre der seelischen Gestalt, auf die Kunst, bezieht. Solche Fälle können keine Heilung erfahren, indem man die überindividuelle, ästhetische Neigung des Patienten als Romantizismus behandelt, wenn auch zugegeben sei, daß das leibliche Wohl Voraussetzung des seelischen ist. Der Psychiater wird über eine gründliche Kenntnis der Gestaltungsneurose, das heißt der Persönlichkeits-, der Kunstprinzipien, verfügen und diese seinen Bemühungen zugrunde legen müssen, wenn ihm die Heilung gelingen soll. Auch die libidinösen Verfänglichkeiten des Künstlers sind andere, graduell tiefere, als die des Bürgers.

Ganz und gar verlegen wird der Therapeut aber sein, wenn ihm, wie vermutungsweise in der Paranoia und der Schizophrenie, Fälle schwerer Besessenheit begegnen, die auf einem Kontrast zwischen der dritten Normsphäre, des Heiligen, der Sakramente und der Welt der Dämonismen bestehen. Die moderne Seelenkunde ist nun wohl in eine Tiefe eingedrungen, in der die dämonischen Mächte zu Hause sind; darin besteht nicht zum wenigsten ihr sensationeller Erfolg. Keineswegs aber entspricht dieser Entdeckung ein ebensolches Wissen um die Kompensation, nämlich um die kirchliche und göttliche Norm, von der aus die Dämonismen allein zu bewältigen sind. In der Freudschen sowohl wie in der Jungschen Therapie bleibt das reichste Bemühen des Arztes der Natursphäre verhaftet. Mitunter nur, und bei Jung mehr als bei Freud, drängen sich Phänomene der ästhetischen und pneumatischen Therapie vor, deren Einordnung Verlegenheit bereitet.

Bezeichnend ist dann bei Freud (›Das Ich und das Es‹, Internat. Psychoanalyt. Verlag, Wien 1923) die Einführung eines Über-Ichs und des Todestriebes, sowie der fragwürdige Versuch, gleich dem Über-Ich das Schuldgefühl individuell zu begründen. Und bezeichnend ist, daß Jung (›Das Unbewußte im normalen und kranken Seelenleben‹, Rascher & Co., Zürich[125] 1926) gelegentlich eines Falles von komplizierter Homosexualität einer Künstlerin auf eine ›transzendente Funktion‹, auf einen ›Dämonismus‹ stößt, der ihn hier wie in seinen beiden Hauptwerken zwischen einer individuellen und einer Kollektivlibido zu scheiden nötigt. Die Analyse seiner Patientin, auf Seite 116 bis 146 in aller Ausführlichkeit mitgeteilt, läßt erkennen, daß die Subjektstufe der Analyse mit aller Umsicht durchgeführt wurde, der somatische Normbegriff aber versagte. Schon Agrippa von Nettesheim hat übrigens (›De occulta philosphia‹) zwischen natürlichen und übernatürlichen Träumen und Gesichten unterschieden. »Bileam«, sagt er, »war in der Weisheit der natürlichen Träume so erfahren, daß er sie nach Belieben hervorrufen konnte, weshalb man ihn fälschlich für einen Zauberer hielt, denn die Schrift hält keinen Unterschied, sondern nennt alle Zauberer, die in natürlichen Dingen erfahren und nicht auch heilige Leute gewesen sind.«

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Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt a.M. 1984, S. 123-126.
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