XIV

[133] Bot die analytische Theorie für den Begriff der Persönlichkeit nur eine spärliche Ausbeute, so bietet sie dafür, unter dem Aspekt einer Vertiefung des seelischen Mechanismus und der menschlichen Natur, eine Entdeckung, die man vom Normcharakter des Pneumatikers aus nicht anders als dämonologisch begreifen kann. Der Hierarchie der Engel und Priester entspricht eine ›Hierarchie‹ der Dämonen. Den Energiebegriff dieser Schichten nennt die Psychoanalyse ›Libido‹. Das subliminale Seelenleben besteht aus einer vielfachen Stufung von Systemen oder Komplexen, einer Stufung, auf die zuerst Janet und Paulhan hingewiesen haben. Freud in seiner Neurosenlehre nimmt in der Hauptsache drei libidinöse Schichten an: die multiforme Perversion der Kinderlibido, eine Zeit der noch nicht oder überall lokalisierten Sexualkraft; den Narzismus mit seinen homosexuellen Komponenten; und den Inzestkomplex als die erste Übertragung der Libido auf ein männliches oder weibliches Objekt. Es ist nur eine Konstruktion, aber man könnte annehmen, daß jeder dieser drei Libidostufen eine typische Neurose (des Heiligen, des Künstlers, des Bürgers) entspricht, wenn die normale Übertragung und Entwicklung gestört wird. Dann dienen Symbole, Bilder und Träume dazu, verdrängte Libidomengen abzustoßen, d.h. in Fehlleistungen zu sublimieren.

Man entdeckte indessen sehr bald, daß die Träume, Bilder und Symbole nicht nur individuelle, sondern kollektive Bedeutung haben können, daß die Konflikte des Individuums unter gewissen Umständen (je nach der Stärke der Verdrängung und der Introversion) eine phylogenetische Bedeutung annehmen, das heißt, daß die Libido dann ihre Symbole aus der Entwicklungsgeschichte nicht nur des Individuums, sondern des Typus und der Menschheit nimmt. Jung hat (in seinem Buche ›Wandlungen und Symbole der Libido‹, Verlag Deuticke, Leipzig und Wien 1925) es sich vorzüglich angelegen sein[133] lassen, die kollektive Traum- und Symbolwelt zu entfalten. Gleich vielen ihm verwandten Forschern (Rank, Reik, Ricklin, Abraham, Jones) zog er besonders die Dichtung und Mythologie zur Deutung der seelischen Konflikte heran. Alles aber hing nun davon ab, eine neue Symbollehre aufzustellen und die kollektiven Imagines, die das Unbewußte mit sich führt, zu lokalisieren. Auf Jungs großangelegte Interpretation der religiösen und ästhetischen Symbolwelt einzugehen, ist hier nicht der Ort. Der Autor versucht überall, zu den sogenannten Urbildern durchzudringen, wobei ihn eine vollkommene Gleichstellung christlicher, heidnischer und prähistorischer Archetypen leitet. Gerade darauf scheint es ihm anzukommen, die gleichartige Funktion der Libido, ihren transzendenten Mechanismus, aufzufinden, der insofern dem Freudschen nachgebildet ist, als er die typischen Vokabeln des Meisters (Verdrängung, Regression, Übertragung) verwendet. Es blieb Jung nicht verborgen, daß es sich bei der Phylogenese in der Mehrzahl um pneumatische Charaktere handelt, also um genau dasselbe, was der Christ ›Dämonen‹ nennt, und diese christliche Bezeichnung taucht bei Jung oft genug auf. Nur eben betrachtet er das Christentum selber bereits dämonologisch, das heißt als ein leeres, dem Untergang überliefertes System. Das macht ihm die Scheidung von göttlichen und dämonischen Charakteren unmöglich.

Die Schichtengliederung dieses heute aus allen Zonen und Zeiten, aus den Neurosen und dem Infantilleben zuströmenden Materials müßte vollzogen sein, um eine neue Tabelle der Unterwelt, eine moderne hiérarchie infernale, darzustellen. Unsere Psyche trägt nach Jung den Symbolschatz der fernsten, versunkensten Zeiten noch in sich, noch immer jene ungeheuren Zeiträume der Sonnengötter und Erdgöttinnen, nach Ferenczi (›Versuch einer Genitaltheorie‹, Intern. Psychoanalyt. Verlag, Wien 1924) sogar die frühesten Schichten der physischen Genesis. Die Schwierigkeit, eine brauchbare Tabelle aufzustellen, wird wohl in absehbarer Zeit eine Lösung finden. Es ist anzunehmen, daß man dann eine Art Norm-Dreiteilung wie für die individuellen Schichten, denen sie entsprechen und an die sie anschließen, auch für die kollektiven Charaktere anzuwenden vermag. Jung bereits nennt einen individuellen[134] (somatischen) und einen kollektiven (symbolischen) Bereich des Unterbewußten. Vielleicht ist es erlaubt, sein ›Kollektives‹ zu trennen, und zwar in dem Sinne, daß man die symbolischen (Typen der Dichter und Künstler) von den pneumatischen (Typen der versunkenen Religionen) unterscheidet. Je tiefer man aber in das atavistische Bilderverließ eindränge und Gliederungen vorzunehmen genötigt wäre, desto höher wäre kompensativ die Persönlichkeitsgliederung zu gestalten. Die Engelshierarchien des Dionysius Areopagita mögen einer der unsern sehr verwandten Zeit des magischen Synkretismus ihre Entstehung verdanken.

Quelle:
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt a.M. 1984, S. 133-135.
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