Hugo Ball

Zürich

[29] Man lebt in Zürich: Ländlich unter Morphinisten. Viele Franzosen gibt es. Die Soldaten mit ihren schwarzen Tschakkos, schwarzer Uniform und roten Achselaufschlägen erinnern an deutsche Feuerwehr. Die elektrischen Wagen sind blau wie in München. Am Stadthauskai ragen drei große Uhrtürme mit goldenen Zifferblättern. Brückenköpfe breit zwischen italienisch gegiebelten Häuserstaffagen. Singende Aale und Wasserratten von der Limmat her. Dahinter der See: Ein blaugrauer Sack.

Auf der Straße begibt sich: Die larmoyante Musik der Heilsarmee. Vor der Studenten-Wirtschaft »Zur Bollerei« auf grobpflastrigem Platz stehen im Kreis fünf Männer mit Blasinstrumenten. Hüte, Bagage und Instrumentenkästen liegen geschichtet inmitten des Kreises auf einem Haufen. Frauen mit seltsamen Hüten und Brillen (aus Bildern des Quentin Massys) singen eine erbarmenswürdige Melodie vom gekreuzigten Heiland. Auf dem Balkon der »Bollerei« die Studenten: in langer Reihe mit eckigen Köpfen und Quastenpfeifen.

Oder es findet, unter freiem Himmel, eine Versammlung statt, auf dem Münsterplatz. »Gegen den Hunger.« »Schweizerarbeiter, wach auf, bevor es zu spät ist! Nieder mit der Heuchelei des Burgfriedens! Es lebe der Klassenkampf!« Mit Trompetenstoß wird die Versammlung eröffnet. Auf einem Karren stehen die Redner. In kleinen Trupps, die Internationale singend, zerstreut sich die Schar der Protestler unterm Gewitterregen.

Zürich ist die Stadt der Gesangvereine. Vierstimmig, schippelig. »Alles wird sich schon gestalten. Frühling wird es sicherlich.« Gesellenhäuser heißen hier »Zur Käshütte«, »Blaue Fahne«, »Zur Zimmerleuten«. Auch wird viel trompetet, aus sechsten Stockwerken heraus. Man tut etwas für die Lunge. Im Park, auf den Terrassen der großen Hotels, an Kiosken und in den Separès der Kabarette: man spricht viel Französisch, von Genf her. Scheintot ist man versucht die Stadt zu nennen trotz Sonne und Grobheit nach drei Tagen Aufenthalt. Niemand führt Buch über Verbleib und Schattierung geflüchteter Krimineller.[29]

Cabaret Bonbonnière liegt im Mittelpunkte der Stadt, nahe dem Hauptbahnhof. Café des Banques hat eine saftige Kapelle. Die Primgeige stammt aus Moabit, das Cello aus Lyon. Der Flügelmann ist Mexikaner. Im Kabarett tritt auf: Emmy Hennings: Grüne Joppe, schwarze Satinhosen, blonder Schopf.

Das Kabarett ist ein hübscher Raum, sehr besucht. Violette und lila Ampeln in Pagodenform. Höllenrote, entzückende kleine Bühne. Italiener und Franzosen schmunzeln beim Vortrag der »Beenekens«. (Sie sehen, Romain Rolland, es bedarf nicht des esprit religieux der Madame Dr. Elisabeth Rotten noch des Appel humain samaritanisch geneigter Episkopaten.)

Die Zeit ist vorsichtig und langsam. Am Predigerplatz, im kleinen Restaurant »Zum weißen Schwänli«, geschähe auch Ihnen Genugtuung, lieber R. H. Ich folge freundlicher Einladung eines Arztes. Und finde ein stilles, entferntes Kolleg von viermal sechs freien »Genossen« (oft sind es mehr, oft weniger). Sie tagen einmal die Woche, jeden Montag. Jemand verliest eine Disposition der »Kampfesmittel des Arbeitgebers«. Monsieur le directeur Dr. B. führt den Discurs, sachte und einfach, sicher und prinzipiell. Zugegen sind Organisierte und Nichtorganisierte, Propagandisten der Tat und Sozialdemokraten, ein Kondukteur, ein Metallarbeiter, die russische Revolutionärin und der sehr französisch orientierte Redakteur des »Revoluzzer« (eines Blattes, das, nur in der Schweiz, mit sehr direktindirekten Mitteln den italienischen Arbeitern Verweigerung der Militärpflicht nahelegte). »Sagen Sie uns, Genosse H., – Sie haben da Sondererfahrung – was wissen Sie uns von Tarifverträgen?« (folgt Bericht). »Schön. Aber Sie setzen sich da in Widerspruch zu Genosse W. Genosse W. erzählte uns, daß er nur unkündbare Tarifverträge kennt, und daß das Interesse des Arbeitgebers nur unkündbare Tarifverträge verlangt.« (Genosse H. und W. debattieren und einigen sich). »Schön, und die Streiks? Wer erinnert sich noch des Holzarbeiterausstandes bei uns in der Schweiz? Wie war doch die Situation? ...« »Der ökonomische Streik, ganz richtig. Und außerdem?« Sympathiestreiks. »Was kommt wohl in solchen Sympathiestreiks zum Ausdruck?« Man tut sich selbst genug. »Oder? Genosse C.?« Man befriedigt ein seelisches Bedürfnis. »Oder?« Man hat[30] Gefallen an sich selbst. »Gut, das ist es. Es gibt in der Arbeiterschaft Vorgänge von nicht nur materieller Bedeutung. Es gibt auch – man könnte fast sagen – ästhetische Streiks.« Gegen 10 Uhr ist die Disposition komplett. Eine neue Disposition wird einem der Genossen übertragen. Die Versammlung zerstreut sich.

Sehen Sie, lieber R. H., so kultiviert man hier in der Arbeiterschaft und unter Gebildeten: ganz ohne Lärm, ganz ohne Aufsehen. Der deutsche Literat, den ein Zufall in die Versammlung verschlägt, ganz ohne Kontakt, ganz voller Abneigung kommunistischen Dingen gegenüber, ist tief erstaunt und beschämt und dankt einem Kreise von Menschen, in dem sich Gelassenheit und Erfahrung das Rüstzeug schaffen für den sozialen Kampf der Zukunft.[31]

Quelle:
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt a.M. 1984, S. 29-32.
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Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften
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