Erster Auftritt

[328] Hubert sitzt in der Mitte des Saales, an einem runden Tisch und arbeitet und hämmert an einem Modell. Der Justitiär steht in seiner Nähe.


JUSTITIÄR. Herr Baldinger ist noch immer nicht zurück?

HUBERT arbeitend. Er läßt nichts von sich hören. Der Prozeß mit der verwünschten Muhme trägt die Schuld. – Da fehlt noch eine Schraube.

JUSTITIÄR. Was machen Sie da, Herr Hubert?

HUBERT. Ein Wasser-Rad. Eine neue Erfindung.

JUSTITIÄR. Glücklich, wer mit Lust in seinem Beruf arbeitet! – Leben Sie wohl! – Doch nein – ich muß reden: es drückt mir das Herz ab. – Herr Hubert! ich bin ein alter, unglücklicher Mann.

HUBERT von der Arbeit weg. Unglücklich? Wie das, Herr Justitiär?

JUSTITIÄR. Weil ich Justitiär bin.

HUBERT. Es war Ihr Wunsch, im Amt zu bleiben; auch hat Herr Baldinger als Gerichtsherr Ihren Gehalt erhöht.

JUSTITIÄR. Das hat er; aber Herr Baldinger ist kein Gerichtsherr.

HUBERT. Kein Gerichtsherr?

JUSTITIÄR. Sehen Sie, Herr Hubert, seit sechsunddreißig Jahren bin ich gewohnt, meinen Gerichtsherrn gnädiger Herr und Euer Hochwohlgeboren zu nennen: Herr Baldinger mag alle guten Eigenschaften haben, aber Hochwohlgeboren wird er doch nun und nimmermehr.

HUBERT. Das ist richtig! Aber was liegt daran?

JUSTITIÄR. Was daran liegt? Alles liegt daran: die gesammte Würde der Gerichtsbarkeit hängt an diesem Wohlgeboren. Herr Baldinger ist erst einige Monate Besitzer der Herrschaft Wildenhain, und schon haben sich die herrschaftlichen Spitzbuben um die Hälfte vermindert.

HUBERT. Das ist so übel nicht.

JUSTITIÄR. Uebel, sehr übel! Wo sind die Spitzbuben hingekommen? In die Fabriken. Sie sind Industrielle geworden, sie arbeiten: und ein Spitzbube, der arbeitet, stiehlt die Arbeit im Grunde den ehrlichen Leuten vom Maule weg.

HUBERT. Wenn er sich aber bessert?

JUSTITIÄR. Ein ordentlicher Hallunke bessert sich nie. Glauben Sie mir: ich bin ein alter Praktikus. – Bessern! – Das ist eine unpraktische Neuerung. Unpraktisch! So sind sie alle. Wissen sie, wie's in der alten Gerichtsform heißt? »Der Richter soll sitzen auf dem Richterstuhl als ein grießgrimmender Löwe und soll den rechteren Fuß schlagen über den linkeren.« – Das ist ein Richter! Ein »grießgrimmender Löwe!« – Wie anders nimmt sich heut zu Tage Richter und Gericht vor den Assissen aus! Der Advokat sagt dem Gerichtshof ungestraft Grobheiten; das Publikum applaudirt wie im Theater; der Angeklagte im schwarzen Frak spielt den großen Mann, den verfolgten Liberalen; jeder Lump ist ein Karl Moor; die Damen auf der Galerie in Hut und Shawl[328] verzehren dabei Eis und Biscuit: die Jury spricht ihr »nicht schuldig« aus. Wo bleibt der »grießgrimmende Löwe?« Zwar auf Wildenhain ist er noch zu finden; ich bin der Löwe.

HUBERT. Und sollen's bleiben, Herr Justitiär, sollen's bleiben.

JUSTITIÄR. Aber wie lange? Da wollen sie auch ein neues Gerichtshaus bauen –

HUBERT. Ich habe den Plan dazu gemacht. Das jetzige ist düster und baufällig. Sie werden in Zukunft hell und freundlich wohnen, Herr Justitiär.

JUSTITIÄR. Hell und freundlich? Wie in einem Lusthaus, nicht wahr? Dünne Wände mit Kupferstichen, Doppelfenster, moderne Tische und Stühle – so recht menschlich und wohnlich – weiß schon! Daß man gar nicht die Courage hat, in all' dem modischen Wesen eine ordentliche Sentenz zu fällen? Nein, Herr Hubert, das neue Gerichtshaus werde ich nicht beziehen. Wenn man anfangen wird, die alten, schwarzen, ehrwürdigen Mauern, die dicken Pfeiler, die Bogenfenster niederzureißen, wenn der große eichene Tisch mit dem Riesen-Tintenfaß und den vierzigjährigen Federn mit den staubigen bespritzten Bärten hinaus geschleppt wird, die Kriminal-Akten und die lateinischen Gesetze – dann wird auch die alte Gerichtsbarkeit zu Grabe getragen: dann macht meinethalben was Ihr wollt, mündliches Verfahren, Geschwornen-Gerichte! Der alte Löwe geht in seine Höhle zurück, und die späten Enkel mögen sich die Mähre erzählen von dem strengen aber gerechten Richter, von dem letzten Justitiär. Gott befohlen, Herr Hubert. Ab.


Quelle:
Dichtung aus Österreich. Anthologie in drei Bänden und einem Ergänzungsband, Band 1, Wien und München 1966, S. 328-329.
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