Zehnter Auftritt.

[83] Graf. Marzelline. Bartholo. Figaro. Friedensrichter.


MARZELLINE in einen Sessel sinkend. Mir fällt ein Stein vom Herzen.

FIGARO auf der anderen Seite der Bühne sich ebenfalls setzend. Mir ein Fels auf die Brust.

GRAF in der Mitte unmuthig auf- und abgehend, für sich. Ich bin wenigstens gerächt, das ist mein Trost.

FIGARO. Wo bleibt Basilio's Einsprache gegen Marzellinens Ehe? Er läßt sich nicht wieder blicken. Zum Grafen, der abgehen will. Excellenz verlassen uns?

GRAF. Das Urtheil ist gefällt.

FIGARO. Der Dickbauch von Friedensrichter ist an allem Schuld.

FRIEDENSRICHTER. Ich ein Di-Di-Dickbauch!?

FIGARO aufspringend. Excellenz, ich heirathe sie doch nicht.[83]

GRAF. Du kennst den Urtheilsspruch.

FIGARO. Ohne die Einwilligung meiner höchst edlen Aeltern darf ich nicht heirathen.

BARTHOLO. So nennt sie doch, zeigt sie doch, eure höchst edlen Aeltern.

FIGARO. Ich suche sie seit fünfzehn Jahren. Man gönne mir noch vierundzwanzig Stunden, sie zu finden.

BARTHOLO. Eitler Geck! Was werdet Ihr anders sein, als ein Findelkind?

FIGARO. Nicht doch, kein gefundenes, sondern ein verlorenes, ein geraubtes Kind.

GRAF. Beweise!

FIGARO. Die kostbaren gestickten Windeln, in denen ich gefunden ward; ein Spitzenhäubchen; eine goldene Kinderklapper; und mehr als das, ein geätztes Zeichen auf meinem Arm, beweisen, mit welcher Sorgfalt ich gezeichnet ward, um nicht verwechselt zu werden.

MARZELLINE aufmerksam werdend. Ein Zeichen auf eurem rechten Arm?

FIGARO. Auf dem rechten Vorderarm ... Er will den Aermel aufstreifen.

MARZELLINE hastig einfallend. Eine Rose?

FIGARO. Woher wißt Ihr das?

MARZELLINE. Himmel! Er ist's!

FIGARO. Freilich bin ich's!

BARTHOLO. Wer? Er?

MARZELLINE. Emanuel!

BARTHOLO. Zigeuner stahlen dich?

FIGARO. Ganz nah bei einem Schloß. O Doktor, wenn Ihr mich meiner edlen Familie zurückgebt, werden mich meine Aeltern mit Gold aufwiegen.

BARTHOLO. Da steht deine Mutter. Er zeigt auf Marzelline.

FIGARO zurückweichend. Pflegemutter?

BARTHOLO. Leibliche Mutter!

MARZELLINE. Da steht dein Vater. Sie zeigt auf Bartholo.

FIGARO. O weh, o weh![84]

MARZELLINE. Hat es dir die Stimme der Natur nicht hundert Male zugerufen?

FIGARO. Nicht ein Sterbenswort!

GRAF halblaut. Marzelline seine Mutter!

FRIEDENSRICHTER. Nun hei-hei-heirathet er sie nicht, das ist kla-klar.

BARTHOLO. Ich aber auch nicht!

MARZELLINE leidenschaftlich. Du auch nicht? Und unser Sohn? Und deine Schwüre?

BARTHOLO. Thorheit! Wenn dergleichen Versprechungen bindend wären, müßte man hundert Male heirathen.

FRIEDENSRICHTER. Oder ga-ga-gar nicht, wenn's Einer genau nimmt.

BARTHOLO. Nach solchen Fehlern, nach einer so zweideutigen Vergangenheit ...

MARZELLINE immer heftiger. Ich will meine Fehler nicht läugnen; der heutige Tag hat sie zu gut bewiesen. Aber wie hart ist es doch, nach dreißig Jahren der Besserung sie büßen zu sollen! Ich war zur Tugend geboren und übte sie, sobald ich zur Vernunft und zur Freiheit gelangte. Aber was kann ein junges Mädchen, unerfahren, voll Wünsche und Täuschungen, vom Elend bedroht, von Verführern umgeben, ihnen für Widerstand leisten? Wohl mancher verurtheilt uns, der im Leben ein Dutzend von uns unglücklich gemacht hat.

FIGARO. Die Schuldigsten pflegen die Strengsten zu sein.

MARZELLINE. Undankbare Männer, die ihr das Spielzeug eurer Leidenschaften, euere Opfer noch obendrein verachtet! euch sollte man für unsere Jugendsünden bestrafen, euch und die ganze gesellschaftliche Einrichtung, die uns durch ihre Nachlässigkeit und Ungerechtigkeit ohne jedes anständige Mittel der Selbsterhaltung läßt. Frauen haben ein Recht auf Arbeit. Nur sie sollten für Frauen arbeiten dürfen, und unsere Gesellschaft erzieht Tausende von Frauenschneidern und Putzmachern.

FIGARO. Sogar Soldaten hält man zum Stricken an.

MARZELLINE. Selbst in den höchsten Ständen genießt die Frau nur eine geheuchelte Achtung, zum Schein gehätschelt, in[85] Wahrheit geknechtet, als unmündig in ihrem Vermögen angesehen, als volljährig nur in der Zurechnungsfähigkeit ihrer Fehler. In jeder Hinsicht ist die Stellung, die der Mann dem Weibe macht, eine verächtliche oder bemitleidenswerthe.

FIGARO. Sie hat Recht.

GRAF für sich. Nur zu sehr Recht.

FRIEDENSRICHTER. Ga-ga-ganz Recht hat sie.

MARZELLINE. Doch, mein Sohn, was verschlägt uns die Weigerung eines ungerechten Mannes? Sieh nicht zurück, woher du kommst, sondern vorwärts, wohin du gehst; nur darauf kommt es an im Leben. In wenig Monaten wird deine Braut unabhängig. Sie nimmt dich, ich stehe dafür. Lebe mit einer Gattin, einer Mutter, die wetteifernd dich lieben werden. Sei nachsichtig mit ihnen, glücklich für dich, frei, heiter und brav mit aller Welt, – dann fehlt deiner Mutter nichts zu ihrem vollen Glück.

FIGARO. Goldene Regeln, Mama, die ich befolgen werde. Ist man nicht ein Narr? Seit tausend und aber tausend Jahren dreht sich die Welt, und ich soll in diesem Wirbel nach einer kurzen Spanne Zeit herlaufen, die ich verloren habe, ohne zu wissen, von wem ich abstamme? Ein Thor, wer darum sich kümmert! Sein Leben in Sorgen verlieren, heißt noch auf den Strang drücken, wie die unglücklichen Pferde thun, welche ein Schiff stromaufwärts ziehen, Lastthiere, auch wenn sie ruhen. Wir wollen's in Geduld abwarten.

GRAF. Ein unbequemer Querstrich in meiner Rechnung.

FRIEDENSRICHTER zu Figaro. Wo bleibt aber der A-A-Adel und das Schloß? Lü-Lügen vor der Justiz!

FIGARO. Schöne Justiz, die mich um's Haar gezwungen hätte, meine Mutter zu heirathen, nachdem ich vor Jahr und Tag wegen einhundert lumpiger Thaler meinen Vater schier umgebracht hätte. Da nun der Himmel meine Tugend vor so schweren Sünden bewahrt hat, so verzeihen Sie mir, Herr Vater, und du, Mama, umarme mich, – so mütterlich wie möglich. Marzelline fliegt in seine Arme.[86]


Quelle:
Beaumarchais [Pierre-Augustin Caron de]: Figaro's Hochzeit. Leipzig [o. J.], S. 83-87.
Lizenz:
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