Die sieben Raben

[132] Wie in der Welt gar viele wunderliche Dinge geschehen, so trug sich's auch einmal zu, daß eine arme Frau sieben Knäblein auf einmal gebar; und diese lebten alle und gediehen alle. Nach etlichen Jahren bekam sie auch noch ein Töchterchen. Ihr Mann war gar fleißig und tüchtig in seiner Arbeit, deshalb ihn auch die Leute, welche Handarbeiter bedurften, gerne in Dienst nahmen, wodurch er nicht nur seine zahlreiche Familie auf ehrliche Weise ernähren konnte, sondern so viel erwarb, daß auch noch bei genauer Einrichtung seine brave Hausfrau einen Notpfennig zurücklegen konnte. Doch dieser treue Vater starb in seinen besten Jahren, und die arme Witwe geriet bald in Not, denn sie konnte nicht so viel erschaffen, um ihre acht Kinder zu ernähren und zu kleiden. Dazu wurden die sieben Knaben immer größer, und brauchten immer mehr, und wurden aber auch zur größten Betrübnis ihrer Mutter immer unartiger, ja sie wurden sogar wild und böse. Die arme Frau vermochte kaum zu ertragen, was sie alles bekümmerte und drückte. Sie wollte doch ihre Kinder gut und fromm erziehen, und ihre Strenge und Milde fruchtete nichts, der Knaben Herzen waren und blieben verstockt. Darum sprach sie eines Tages, als ihre Geduld ganz zu Ende war: »O, ihr bösen Raben-Jungen, ich wollte, ihr wäret sieben schwarze Raben und flöget fort, daß ich euch nimmer wieder sähe.« Und alsbald wurden die sieben Knaben zu Rabenvögeln, fuhren zum Fenster hinaus und verschwanden.

Nun lebte die Mutter mit ihrem einzigen Töchterlein recht stille und zufrieden, sie verdienten sich mehr noch als sie brauchten. Und die Tochter wurde ein hübsches gutes und sittsames Mädchen. Doch nach etlichen Jahren bekamen beide, Mutter und Tochter, gar herzliche Sehnsucht nach den sieben Brüdern, und sprachen oft von ihnen und weinten: wenn doch die Brüder wieder kämen, und brave Bursche wären, wie könnten wir durch unsere Arbeit uns so gut stehen und untereinander so viele Freude haben. Und weil die Sehnsucht nach ihren Brüdern im Herzen des Mägdleins immer heftiger wurde, sprach sie einst zur Mutter: »Liebe Mutter, laß mich fortwandern und die Brüder aufsuchen, daß ich sie umlenke von ihrem bösen Wesen, und sie dir[132] zuführe zur Ehre und Freude deines Alters.« Die Mutter antwortete: »Du gute Tochter, ich kann und will dich nicht abhalten, die fromme Tat zu vollführen, wandre fort, und Gott geleite dich!« Gab ihr darauf ein kleines goldnes Ringelein, das sie schon als kleines Kind am Finger getragen, wie die Brüder in Raben verwandelt wurden.

Da machte sich das Mädchen sogleich auf und wanderte fort, gar weit, weit fort, und fand lange keine Spur von ihren Brüdern; aber einmal kam sie an einen sehr hohen Berg, auf dessen Höhe ein kleines Häuschen stand, da hatte sie sich drunten niedergesetzt um auszuruhen und blickte sinnend immer hinauf nach dem Häuschen. Dasselbe kam ihr bald vor wie ein Vogelnest, denn es sah grau aus, als ob es von Steinchen und Kot zusammengefügt wäre, bald kam es ihr vor wie eine menschliche Wohnung. Sie dachte: ob nicht da droben deine Brüder wohnen? Und als sie endlich sieben schwarze Raben aus dem Häuschen fliegen sah, bestätigte sich ihre Vermutung noch mehr. Sie machte sich freudig auf, um den Berg zu ersteigen; doch der Weg, der hinauf führte, war mit so seltsamen, spiegelglatten Steinen gepflastert, daß sie allemal, wenn sie mit großer Mühe eine Strecke hinan war, ausglitt und wieder herunter fiel. Da wurde sie betrübt, und wußte nicht, wie sie nur hinauf kommen könnte. Da sah sie eine schöne weiße Gans, und dachte: wenn ich nur deine Flügel hätte, so wollte ich bald droben sein. Dann dachte sie wieder: kann ich mir denn ihre Flügel nicht abschneiden? Ei, dann wäre mir ja geholfen! Und sie fing rasch die schöne Gans, schnitt ihr die Flügel ab, und auch die Beine, und nähte sich dieselben an. Und siehe, wie sie das Fliegen probierte, ging es so schön, so leicht und gut, und wenn sie müde war vom Fliegen, lief sie ein wenig mit den Gänsefüßen, und glitt nicht einmal wieder aus. So kam sie schnell und gut an das lang ersehnte Ziel. Droben ging[133] sie hinein in das Häuschen, doch war es sehr klein; drinnen standen sieben winzig kleine Tischchen, sieben Stühlchen, sieben Bettchen, und in der Stube waren auch sieben Fensterchen, und in dem Ofen standen sieben Schüsselchen, darauf lagen gebratene Vögelchen und gesottene Vogeleier. Die gute Schwester war von der weiten Reise müde geworden, und freute sich nun, einmal ordentlich ausruhen zu können; auch fühlte sie Hunger. Da nahm sie die sieben Schüsselchen aus dem Ofen, und aß von einem jeden ein wenig, und setzte sich auf jedes Stühlchen ein wenig, und legte sich in jedes Bettchen ein wenig, und in dem letzten Bettchen schlief sie ein, und blieb darinnen liegen, bis die sieben Brüder zurückkamen. Diese flogen durch die sieben Fenster herein in die Stube, nahmen ihre Schüsseln aus dem Ofen und wollten essen, merkten aber, daß schon davon gegessen war. Nun wollten sie sich schlafen legen, und fanden ihre Bettchen verrückt, und einer der Brüder tat einen lauten Schrei, und sprach: »O was liegt für ein Mägdlein in meinem Bett!« Die andern Brüder liefen schnell herbei, und sahen erstaunt das schlafende Mädchen liegen. Da sprach einer um den andern: »Wenn es doch unser Schwesterchen wäre!« und wieder rief einer um den andern voll Freude: »Ja, das ist unser Schwesterchen, ja, das ist es! Solche Haare hatte es, und solch ein Mündlein hatte es, und solch ein Ringlein trug es damals an seinem größten[134] Finger, wie es jetzt am kleinsten eins trägt!« Und sie jauchzten alle, und küßten das Schwesterchen alle; aber dieses schlief so fest, daß es lange nicht erwachte.

Endlich schlug das Mädchen die Äuglein auf, und sah die sieben schwarzen Brüder um ihr Bett sitzen. Da sagte sie: »Oh, seid herzlich gegrüßt, meine lieben Brüder, Gott sei gedankt daß ich euch endlich gefunden habe; ich habe euretwegen eine lange, mühevolle Reise gemacht, um euch wieder aus eurer Verbannung zurückzuholen, wenn ihr nämlich einen bessern Sinn in euern Herzen gefaßt habt, daß ihr eure gute Mutter nie mehr ärgern wollet, daß ihr fleißig mit uns arbeitet, und die Ehre und Freude eurer alten Mutter werden wollet.« Während dieser Rede hatten die Brüder bitterlich geweint, und sprachen nun: »Ja, herzige Schwester, wir wollen gut sein, und nie wieder die Mutter beleidigen, ach, als Raben haben wir ein elendigliches Leben, und ehe wir uns dieses Häuschen erbaut, sind wir oft vor Hunger und Elend bald umgekommen. Dazu kam die Reue, die uns Tag und Nacht folterte: denn wir mußten die Leichname von den armen gerichteten Sündern fressen, und wurden dadurch stets an des Sünders schauerliches Ende erinnert.«

Die Schwester weinte Freudentränen, daß ihre Brüder sich bekehrt hatten, und so voll frommen Sinnes sprachen. »Oh!« rief sie aus, »nun ist alles gut, wenn ihr nach Hause kommt, und die Mutter vernimmt, daß ihr besser worden seid, wird sie euch herzlich verzeihen, und euch wieder zu Menschen machen.«

Als nun die Brüder mit dem Schwesterchen heim reisen wollten, sprachen sie erst, indem sie ein hölzernes Kästchen öffneten: »Liebe Schwester, nimm hier diese schönen goldenen Ringe und blitzenden Steinchen, die wir draußen so nach und nach fanden, in dein Schürzchen und trage es mit nach Hause, denn dadurch können wir als Menschen reich werden. Als Raben trugen wir sie nur um des schönen Glanzes willen zusammen.«

Das Schwesterchen tat so wie die Brüder wollten, und hatte selbst Freude an dem schönen Schmuck. Auf der Heimreise trugen die Rabenbrüder einer um den andern das Schwesterchen auf ihren Flügeln, bis sie an die Wohnung ihrer Mutter kamen; da flogen sie zum Fenster hinein und baten ihre Mutter um Verzeihung und gelobten, fortan stets gute Kinder zu sein. Auch die Schwester half bitten und[135] flehen, und die Mutter war voll Freude und Liebe und verzieh ihren sieben Söhnen. Da wurden sie wieder Menschen und gar schöne blühende Jünglinge, einer so groß und so anmutvoll wie der andre. Dankend herzten und küßten sie die gute Mutter und die liebevolle Schwester. Und bald darauf nahmen alle sieben Brüder sich junge sittsame Frauen, bauten sich ein großes schönes Haus, denn sie hatten für ihre Kleinodien sehr vieles Geld bekommen. Und des neuen Hauses erste Weihe war der Brüder siebenfache Hochzeit.

Dann nahm auch die Schwester einen braven Mann, mußte aber auf der Brüder Flehen und Bitten bei ihnen wohnen bleiben.

So hatte die gute Mutter noch viele Freude an ihren Kindern, und wurde von denselben bis in ihr spätes Alter liebevoll gepflegt und kindlich verehrt.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Sämtliche Märchen. München 1971, S. 132-136.
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