Die Adler und die Raben

[651] Auf einem großen Gebirge lagen zwei weite Wälder nachbarlich einander gegenüber, fern den Gegenden, welche Menschen bewohnten, und in einem dieser Wälder horsteten eitel Adler, im andern aber nisteten bloß Raben, und[651] jedes dieser Vogelgeschlechter stand unter einem Könige von demselben Stamme, welche über ihr Volk als Alleinherrscher regierten.

Da geschah es, daß alter Haß aufs neue rege ward unter den Adlern gegen die Raben, und in einer Nacht der Adlerkönig sich mit einer Schar der Seinen erhob, hinüber flog nach dem Rabenwalde, dort die schlafenden und keines feindseligen Angriffes sich versehenden Raben überfiel und ihrer eine große Anzahl tötete, ohne daß der Rabenkönig nur etwas von diesem Überfall erfuhr, bis am Morgen, als er erwachte und sich von seinem Neste erhob. Da vernahm er den Schaden und großen Verlust der Seinen mit ernster Betrübnis und versammelte all seine Räte, und gedachte mit ihnen zu beratschlagen, wie man am besten diese untreue Tat der Adler rächen könne und solle. Da die Raben, wie die Naturgeschichte lehrt, merklich gute Redner sind, so fehlte es auch dem Rabenkönige nicht an der rechten Redegabe, und er sprach zu seinem versammelten Rate also:

»Meine lieben Getreuen! Euch ist kund geworden, wie ohne vorherige Absagung und Kriegserklärung zuwider allem Völkerrechte die Adler, unsere Nachbarn, uns heimlich bei nächtlicher Weile überzogen und viele der unsern gemordet haben, ohne daß wir zur Zeit noch erfahren können, warum sie solches getan haben? Werden wir das dulden und es ohne Wiedervergeltung geschehen sein lassen, so wird es mehrmals geschehen, darum laßt uns ratschlagen, auf welchen Wegen wir das tun, was für uns und unser Staat das Beste ist. Übereilt euch nicht mit eurem Rate, sondern überleget ihn wohl, denn unser aller Wohl oder Wehe hängt davon ab, ob wir weisen oder unweisen Rat schöpfen. Sinne ein jeder eine gute Weile nach über den unerhörten Fall, der unsers Reiches bisherige Wohlfahrt stört, ja sie mit Vernichtung bedroht, wenn wir nicht Mittel finden, dem feindseligen Tun der Adler zu steuern.«

Auf diese Rede des Königs erfolgte eine geheime Sitzung bei verschlossenen Türen, welcher nur die fünf Geheimräte des Königs beiwohnten, den König an ihrer Spitze. Diese Raben waren mehrenteils von Alter ganz grau, einige waren sogar weiß befiedert, mancher hatte einen völlig kahlen Kopf, und fast alle gingen gebeugt einher, unter der Last ihrer Jahre, die, wenn man sie zusammen zählte, sich auf eine hohe Summe beliefen. Der König war weit jünger als[652] sie alle. Als der letztere nun das geheime Conseil eröffnete, so nahm der erste, der Vorsitzende im Geheimen Staatsrat, als Minister-Präsident das Wort, und sprach: »Großmächtigster König und Herr! Die alten Weisen haben schon ausgesprochen, was ich zu raten mir gestatte: Wenn ein Feind dir an Macht überlegen ist, und du nicht vermagst, ihm zu widerstehen, so weiche ihm, und vermiß dich nicht mit einem eitlen und stolzen Herzen mit ihm zu kämpfen, sonst wirst du des Schadens noch mehr von ihm erleiden, denn zuvor.«

Der König faßte den Sinn dieser Rede vollkommen wohl, äußerte seine Meinung aber nicht, sondern wendete sich an seinen zweiten Geheimrat und fragte: »Was sagest du?«

»Allergnädigster König und Herr!« antwortete der Gefragte, »meiner ohnmaßgeblichen Meinung nach kann ich die Absicht meines geehrten Freundes, der vor mir gesprochen, nicht teilen. Sollte es wohlgetan sein, so ohne weiteres uns als besiegt zu erklären und unsere Heimat ohne den mindesten Versuch einer Verteidigung aufzugeben? Nein, lasset uns in Eintracht bereit sein zu mannhaftem Widerstande, wehrhaft gerüstet und allewege wachsam. Hüter und Späher lasset uns aussenden, die uns alles künden, was sie vom Beginnen der Adler gewahren, und kommen sie wieder, uns feindlich anzufallen, so laßt uns ihnen tapfer entgegen ziehen mit aller Macht. Vielleicht entweichen sie, wenn sie wahrnehmen, daß wir mit gleicher Münze ihnen zu zahlen bereit sind, wie sie uns. Schimpflich wäre uns Flucht mit Weibern und Kindern, und das Verlassen dieses unseres durch unsere Väter geheiligten Waldes und Wohnsitzes. Den laßt uns behaupten und verteidigen auf Tod und Leben; zu schimpflicher Flucht bleibt immer noch Zeit, wenn im Kampfe wir unterliegen.«

Schweigend hörte der König auch diesen Rat, und gab dem dritten seiner Geheimräte das Wort. Dieser erhob mit Würde sein ernst gesenktes Haupt und öffnete seinen Schnabel bedachtsam. »Allergnädigster König und Herr! Die verehrten Vorredner haben gewiß nach ihrer beiderseitigen, wenn auch entgegenstehenden Überzeugung gesprochen. Mir scheint es schwierig zu sein, gegen die Adler mit Hoffnung auf Sieg zu streiten, denn offenbar sind sie stärker, streitbarer und mächtiger, aber auch ich rate nicht schimpfliche Flucht und freiwilliges Exil an. Sende, o König, einen[653] weisen, redekundigen Mann deines Vertrauens zu den Adlern hinüber, der ihren König als dein Gesandter in deinem Namen frage, ob er Kenntnis von dem Überfalle gehabt, was dessen Grund sei, und womit wir denselben verschuldet? Vielleicht läßt sich das Geschehene als ein Mißverständnis sühnen und auf dem Wege der Verhandlung gütlich beilegen. Vielleicht läßt sich auch von unserer Seite der Friede mit den Adlern erkaufen, damit wir ruhig im Schoße unserer Heimat verbleiben, denn das ist das Wort der alten Weisen:

Besser ist Friede denn Krieg, und nicht schimpflich ist es, Tribut zu entrichten dem unbesiegbaren Feinde!«

Der Sprecher schwieg, und schweigend gab der König dem vierten Rate das Wort. Dieser, minder hochbetagt, wie seine Vorredner, hob sein Haupt mit kühner Bewegung und sprach mit männlicher Kraft: »Keiner der verehrten Ratgeber hat ausgesprochen, was uns in Wahrheit frommen mag! Ich stimme gegen das gänzliche Aufgeben und Verlassen unseres heimatlichen Wohnsitzes, ich stimme gegen den ungleichen Kampf, der nur mit unserer schmählichen Niederlage und Knechtung enden würde, ich stimme gegen Verhandlung mit jenen nichtswürdigen Adlern, und vor allen stimme ich gegen einen Tribut, der uns ihnen gleichsam unterordnet. Mein unmaßgeblicher Rat ist, eine Zeitlang zu weichen, uns draußen Bundesgenossen zu werben, und dann unversehens mit Heeresmacht zurückzukehren, den Adlern zu tun, wie sie uns getan, um unsern Wohnsitz uns wieder zu gewinnen. Die alten Weisen sagten: Wer sich seinem Feinde unterwürfig macht, der hilft ihm wider sich selbst.«

Der König wiegte bedächtig sein Haupt hin und her; er faßte und wog den Sinn aller vernommenen Worte in seinen Gedanken, und winkte dem fünften seiner Räte, zu sprechen. Dieser begann: »Meinem Bedünken nach frommt uns keiner von allen den bisher gegebenen Ratschlägen vollkommen. Ich kann zwar ebenfalls nicht dafür stimmen, gegen einen uns überlegenen Feind zu streiten. Ich fürchte die Aaren. Niemand soll seinen Feind allzu gering achten! Ich kann aber auch nicht zu schimpflicher Flucht raten, eben so wenig zu schimpflichem Tribut, und noch minder möchte ich den Adlern die Ehre einer Gesandtschaft unsererseits angetan sehen, denn einer solchen würden sie sicherlich spotten. Die alten Weisen geben den Rat: Niemand nahe sich seinem Feinde, so er nicht eigenen Vorteil gewahrt. Mein Rat und[654] Vorschlag ist der, abzuwarten mit List und Vorsicht, was weiter von Seiten der Adler gegen uns vorgenommen werden will, keine Furcht zu zeigen, aber auch keine Herausforderung, keine Demütigung, aber auch keinen Übermut. Ein Weiser sieht seinen Schaden voraus, und bewahrt sich vor ihm, bevor er ihm naht. Denn unwiderruflich ist, wenn es nahe schon kam, uns das Unheil. Mit sanfter Gewalt durch List und Verstand vermeiden wir vielleicht den Krieg und die Unterjochung.«

Jetzt nahm der König fragend das Wort: »Wie meinst du das? Welche List willst du brauchen gegen die Adler? Sprich es ganz aus, was du im Sinne hast.«

Der Sprecher erwiderte: »Höre mich, mein König und Herr! Wenn ein König seine Räte befragt, die er als Weise erkannt, und welche Kenntnis von allen Dingen besitzen, so wird sein Reich wohl bestehen und seine Macht wird gemehrt und gestärkt. Verschmäht aber ein König den Rat seiner Weisen, und folgt, selbst wenn es ihm an eigener Klugheit und Einsicht nicht mangelt, nur seinem eigenen Willen und Vorsatz, der wird selten ein glückhaftes Ende seiner Ratschläge sehen, und sein Reich wird nicht zur Blüte gelangen. Lasset uns unser aller Rat so lange prüfen und weislich durchdenken, bis wir das finden, was das gemeinsame Beste ist. Mein Rat ist dieser: Zum ersten, daß wir uns des Eindrucks entschlagen, den der Schreck des unvermuteten feindlichen Überfalles in unsere Herzen goß, und mit gestärktem herzhaften Gemüte Beschlüsse fassen. Zweitens, daß wir uns völlig klar werden über die Ursache des Überfalles und die Feindseligkeit der Adler gegen uns, eine Ursache, die im geschichtlichen Boden wurzelt. Ohne diese Ursache zu kennen und reiflich zu erwägen, ist unsererseits ein vernunftgemäßer Entschluß nicht möglich.«

»Aber wie sollen wir diese Ursache ergründen?« fragte der König.

»Sie ist ergründet, ich kenne sie, mein König«, antwortete der Sprecher.

»So sage sie!« gebot der König.

»Sie ist ein Geheimnis, mein königlicher Gebieter!« entgegnete der weise Ratgeber. »Die alten Weisen gaben aber das schöne Rätsel auf: Was ist für einen zu wenig, für zwei genügend, für drei zu viel? Das Geheimnis, und was ich dir zu sagen habe, ist nur für zwei Zungen und für vier Ohren[655] tauglich. Wie weise auch mancher Herrscher sei, alles kann er doch nicht wissen, darum heißen der Herrscher vertraute Räte Geheime, daß er ihnen seine Heimlichkeit anvertraue und sie ihm hinwiederum mitteilen, was nicht ein jeder andere zu wissen braucht.« –

Auf diese Worte hob der König die Sitzung seines Geheimratskollegiums auf und hieß den weisen Rat ihm in ein abgesondertes Gemach folgen, und fragte ihn dort: »Was weißt du von der Ursache des gegen uns offenbar gewordenen Hasses der Adler?«

»Die ganze Ursache wurzelt in einer Rede, mein König, die einmal ein Rabe gehalten hat« – antwortete der Geheimrat.

»Setze dich nieder, und erzähle mir das!« sprach der König, und ließ sich ebenfalls nieder, um aufmerksam zuzuhören, und der Ratgeber erzählte.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Sämtliche Märchen. München 1971, S. 651-656.
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