264. Die heilige Dorothea

[193] Es war im Preußenlande eine fromme Wundertäterin Dorothea; die Gabe der Weissagung war ihr verliehen, und sie hat auch den Fall des Deutschen Ordens vorausgesagt. Als sie unzählige Wunder getan und viele Wallfahrten verrichtet hatte, verschloß sie sich in eine Bußzelle am Dom zu Marienwerder, und als sie ihr Ende herannahen fühlte, ließ sie den Domherrn Johannes von Marienwerder rufen, daß er ihre letzte Beichte höre. Als die Mitternachtstunde kam, umwogte eine himmlische Helle das enge Gemach der frommen Büßerin, und Engelstimmen erklangen in harmonischen Chören zwei Stunden lang um ihre Zelle. Währenddessen ward Dorotheas Seele zu Gott enttragen, und es fingen des Domes Glocken von selbst zu läuten an, und das dauerte so lange, bis jener himmlische Gesang zu Ende ging. Im kleinen Chor der Domkirche zu Marienwerder wurde Dorothea beigesetzt, und noch an ihrem Grabe geschahen große Wunder, und Scharen frommer Pilger wallten zu demselben. Das Volk sprach sie heilig, wenn auch nicht der Papst zu Rom. Denn die römische Kirche hatte schon eine Heilige dieses Namens, die unter Diokletian ihr Martyrium empfing.

Eine zweite Heilige des gleichen Namens wurde unter Kaiser Nero enthauptet samt ihrer Schwester Euphemia, und eine dritte litt dieselbe Strafe ihrer Glaubenstreue zu Cäsarea in Kappadozien.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 193.
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