|
[195] Als die schöne und ehrwürdige Pfarrkirche zu Kulm erbaut wurde, gedachte der Baumeister sie nach dem Stil seiner Zeit mit zwei hohen Türmen nebeneinander von gleicher Höhe zu versehen, war aber verpflichtet worden und hatte das versichern müssen, zu einer bestimmten Zeit den Bau ganz vollendet zu haben. Allein beim Bauen geht es, wie jedermänniglich weiß, nie so geschwind, als die Leute meinen, die nichts davon verstehen, und kann niemals alles pünktlich an einem bestimmten Tage fertig sein. Also erging es auch beim Kirchenbau zu Kulm, und als der Endtermin herannahte, war wohl die Kirche und der eine Turm fertig, der zweite aber kaum bis zur Hälfte. Der Meister wollte sein Wort halten und es zwingen, nahm der Arbeiter mehr und ließ arbeiten Werktag und Sonntag und Feiertag ohne Aufhören. Und wirklich wurde noch zu rechter Zeit der Turm fertig, und das Weihefest sollte begangen werden. Aber da umdüsterte sich der Himmel, ein Wetter zog heran mit grauenvollem Gewölk, und aus dem Gewölk heraus zuckte der Engel des Herrn mit flammendem Schwert und traf des letzten Turmes Krone, und der Turm brannte aus und nieder bis auf den Grund. Das übrige Gebäu blieb aber alles unversehrt. Hernach ist aber mals der Turm wieder erbaut worden, allein kaum war er vollendet, so traf ihn der Feuerstrahl des Himmels aufs neue, und so blieb der Turm hierauf für alle folgenden Zeiten unvollendet.
Ausgewählte Ausgaben von
Deutsches Sagenbuch
|