36. Vater und Sohn

[38] Es war ein Graf im Oberelsaß, Herr Hug von Egisheim, dem gebar sein Ehegemahl einen Sohn, der ward Bruno genannt in der heiligen Taufe. Aber ein böser Argwohn umdüsterte des Grafen Herz, als sei das Söhnlein nicht sein eigen, und da befahl er einem Knecht, daß er es hinaustrage in den Wald, es töte und ihm sein Herz, der Tat zum Zeugen, darbringe. Den Knecht aber jammerte des unschuldigen Kindleins, und konnte solchen Mord nicht über das eigene Herz bringen. Er gab das Kind in sichere Hut, erlegte ein Rehkälbchen und brachte dessen Herz seinem grausamen Herrn. Der Knabe erwuchs und kam weit hinweg, die Jahre vergingen, und über den alten Grafen kam die Reue, denn es war ihm klar und offenbar geworden, daß er damals im Irrwahn befangen die schrecklichste Sünde begangen hatte. Und da litt es ihn endlich nicht länger mehr in der Heimat, er verließ seine Schlösser und sein Land und ging in Pilgertracht über die Alpen und wandelte gen Rom, dem Heiligen Vater seine schwere Schuld zu bekennen und eine Buße sich auferlegen zu lassen. Und er kam zum Papste und kniete zu dessen Füßen und beichtete sein Verbrechen und flehte zerknirscht um Entsündigung. Da erhob sich von seinem Thronsitz der Heilige Vater und sprach: Graf Hugo von Egisheim! Der allbarmherzige Gott hat nicht gewollt, daß Bruno, dein Sohn, sterbe, sondern hat ihn aufbehalten zu hohen Dingen. Und Gott verzeiht dir durch mich, den Knecht seiner Knechte, den grausamen Vorsatz. Deine Reue soll deine Buße gewesen sein. Stehe auf, Graf Hugo, umarme mich, ich bin es, der dir Verzeihung kündet, ich bin Bruno, dein Sohn, Leo der Neunte geheißen auf St. Petri heiligem Stuhle! – Dem alten Grafen war, als ob er träume, als ob der Himmel sich ihm erschließe.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 38.
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