581. Der Stadtpfeifer aus Orlamünde

[394] Zu Orlamünde war ein Stadtpfeifer, sie nannten ihn den Hausmann, ein munterer Geselle, doch ein ehrlich Blut, nicht mehr ganz jung an Jahren, aber frischen Gemütes und kein Verächter des edeln Rebensaftes, der Gottesgabe. Nun war einstmals besagter Hausmann mit seinen Leuten zu Heilingen, andere sagen, in einem Dorfe unterm Schauenforst, gewesen und hatten bei einer Hochzeit aufgespielt, waren auch schön bewirtet worden, zogen daher, als der Tag graute, fröhlich und wohlgemut am alten Schloß vorbei, oder an dem Schauenforst, und da sprach der Hausmann: Wir wollen doch heute den Tag mit einem Morgenlied anblasen, und zugleich dem weißen Fräulein da droben! Sie stellten sich also auf und bliesen mit frommem Sinne frisch drauflos. Noch waren sie mit ihrem Choral nicht fertig, da trat das weiße Fräulein heraus, auf die Musikanten zu und bot freundlich auf einem Teller, nach der Zahl der Leute, so viele Becher Weines. Sie tranken, und aus Dankbarkeit bliesen sie noch ein Stück. Das Fräulein kam zum zweitenmal, reichte aber auf dem Teller eine Anzahl Knochen dar. Mochten sie da auch große Augen machen, so hatte doch keiner das Herz, die wunderliche Gabe auszuschlagen. Sobald sie aber den Turm aus den Augen hatten, warfen die Gesellen ihr Teil in den nächsten Kornacker. Ehrbar aber hatte der Hausmann seinen Knochen in die Tasche gesteckt, und so wurde er bei der Heimkehr mit dem Rocke in den Kleiderschrank gehängt. Am nächsten Sonntag verlangte der Mann seinen Staatsrock. Die Frau holte ihn. Aber, fragte sie, was hast du denn eingesteckt? Das ist ja schwerer als ein Klumpen Eisen! – Ich wüßte nicht, war seine Antwort, wer mir etwas gegeben hätte, zeig doch her! – Sie langte eine lange Rolle Gold aus der Tasche, in die der fromme Stadtpfeifer den Knochen gesteckt hatte.

Das war den Gesellen, die ihre Knochen weggeworfen hatten, außer dem Spaß, als sie das hörten; sie liefen spornstreichs nach dem Kornacker zurück, und o Freude, sie fanden die Knochen und trugen sie jubelnd nach Hause. Als sie sie dort aus der Tasche zogen, hatte jeder ein Stück beinerne Flöte – ihr gehofftes Glück war flöten gegangen, und konnten sich nun selbst was pfeifen.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 394.
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