592. Die Geißelfahrer

[399] Da sich in deutschen Landen die Geißelfahrer auftraten, so kam diese Volksseuche, welche die Köpfe ergriff wie ein Schwindel, auch nach Thüringen, und da rückte eine Schar von nicht weniger als dreitausend Flagellanten auf Erfurt los. Sie gingen Paar auf Paar, waren alle, bis auf die mit Leinwandschürzen gegürteten Lenden, fasernackt, und der vorderste trug eine Fahne; auf den Köpfen hatten sie weiße Hüte, an jedem hinten und vorn ein weißes Kreuz. Sie sangen das bekannte Geißlerlied, warfen sich kreuzweis auf die Erde, knieten auch hin und peitschten sich mit dreistriemigen Riemengeißeln, die in einem mit eisernen Nägeln gespickten Knoten endeten; zweimal des Tages und einmal des Nachts wurde die Geißelung vorgenommen. Es war eitel das ärmste und armseligste Lumpengesindel, welches dieses scheinheilige religiöse Possenspiel aufführte, Männer, Weiber und Kinder. Geld heischten sie nicht, aber Eßwaren ließen sie sich gern reichen. Wenn sie in eine Kirche kamen, machten sie ein so nichtsnutzes Geplärre, daß alles vor ihnen schweigen und verstummen mußte. Der Stadtrat zu Erfurt ließ diesem faulen Gesindel sein Stadttor vor der Nase zuschlagen, und es mußte Gott danken, daß es bei Jlversgehofen über Nacht lagern durfte. Einer unter diesen Geißelfahrern trieb die Narrheit so weit, zu sagen, er sei Gottes Sohn; möglich, daß er dieses auch von sich glaubte, es gedieh ihm aber übel, er wurde aufgegriffen und ohne weiteres auf dem großen Markt zu Erfurt verbrannt. Damals lebte ein Poet daselbst, der nannte sich Heinrich von Erfurt, der sang von dieser Zeit und bezeichnete mit wahrem Wort der Geißelfahrer Vaganten- und Flegelantenwesen:


Pestis regnavit, plebis quoque millia stravit,

Insolitus populus flagellat se seminudus. –


Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 399.
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