627. Kreuz und Kelch

[418] Unter Annaberg liegt am Flüßchen Zschopau die kleine Stadt Wolkenstein und über ihr das gleichbenamte Schloß auf hohem Fels. In dieses Felsen schroffe Wand gewahrt der Wanderer ein großes Kreuz und einen Kelch tief eingehauen, und es geht die Sage, daß zu jener Zeit, als die Hussitenschlacht bei Aussig im Jahre 1426, welche für Sachsen so verderblich war, erfolgte, der Feind in das Sachsenland eingebrochen sei und auch das Erzgebirge verheerend überschwemmt habe. Da haben sie auch das Städtlein Wolkenstein berannt und eingenommen und sodann die Burg gestürmt, in welcher ein Priester die Besatzung zu mannhafter Verteidigung anfeuerte. Er hielt ein Kreuz in seiner Hand statt des Schwertes und kämpfte mit dem Schwert des Wortes für den alten Glauben. Als nun endlich auch Burg Wolkenstein überwältigt war und der mutige Priester in der Feinde Gewalt, da bedrängte ihn der Hussitenführer, überzugehen zu den Brüdern des Kelchs und dadurch sein Leben zu retten. Aber der Priester blieb unerschütterlich standhaft, er wollte seinem alten Glauben leben und sterben. Letzteres widerfuhr ihm schnell genug; die Feinde stürzten ihn samt seinem Kreuze die senkrechten Felsen von Wolkenstein herab, daß im jähen Sturz des Frommen Gebeine zerschmetterten, und schwangen jubelnd von der Mauer dicht darüber das Banner des Kelchs. Hernachmals, als die Hussiten die Gegend wieder verlassen, haben fromme Hände zum Andenken des Martyrers das Kreuz und den Kelch tief in den Felsen eingegraben.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 418.
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