632. Sankt Georgs Panier

[420] Da Ludwig der Milde, Landgraf von Thüringen, mit Kaiser Friedrich dem Rotbart und vielen andern Fürsten des Deutschen Reichs zum zweiten Male über Meer fahren wollte, das Heilige Grab zu gewinnen, ist es geschehen, daß das Panier des heiligen Ritters Georg durch Gott vom Himmel herab in die Stadt Eisenach gesendet wurde, deren Schutzpatron Sankt Georg war, und welche auch den Heiligen im Kettenpanzer mit der Palme, dem Kreuzesschild und dem Panier in ihrem großen Siegel führte. Der Landgraf kämpfte unter diesem hehren Banner siegreich dem Kaiser vor, da aber beide, sein kaiserlicher Lehensherr und er selbst, die deutsche Heimat nicht wiedersahen, so brachten heimkehrende Ritter Sankt Georgs glorreiches Panier wieder nach Thüringen zurück und legten es auf Schloß Wartburg in sichere Verwahrung. Lange Zeit nachher, als die Markgrafen von Meißen als Herren des Thüringerlandes an die Stelle der alten Landgrafen getreten waren, ward unter einem solchen Herrscher aus unbekannten Gründen Sankt Georgs Panier hinweg und auf die meißnische Burg Tharand ohnweit Dresden gebracht, allwo es lange blieb. Als aber einstmals auf diesem Schlosse ein Feuer ausbrach und es in Flammen stand, da sahe man aus einem Fenster des Schlosses, so gegen Morgen lag, das Panier herausfahren, sich hoch in die Luft schwingen und im Glanze des Ostens verschwinden. Niemand hat es auf Erden wiedergefunden.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 420.
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