703. Das verlorene Kind

[464] Eine andere arme Frau trug auf ihrem Arme ein kleines Kind zum Walde und kam in die Ruine Epprechtstein. Dort setzte sie ihr Kind ins Gras und suchte Waldbeeren. Mit einem Male stand vor ihrem Blick eine prächtige Kirche mit offenen Türen, und darinne stand ein Opferbecken, das war voll Goldstücke. Eilend sprang die Frau hinzu und raffelte von dem Golde in ihre Schürze, so viel als hineinging. Pfeilschnell eilte sie nach Haue, das Gold besaß sie, das Kind vergaß sie. Erst daheim gedachte sie wieder des hilflosen Kleinen; im Fluge eilte sie wieder berghinan – aber da war weder Kind[464] noch Kirche mehr zu erblicken, und vergebens die Trümmer durchirrend und mit Klagegeschrei die Lüfte erfüllend, rief sie nach ihrem Kinde. Es war und blieb verschwunden und verloren. Täglich kam das arme Weib auf den Berg, um das Kind weinend, nach dem Kinde suchend, ihr Gold lag ruhig daheim in der Truhe, sie rührte es nicht an, sie mochte an dasselbe nicht denken – denn es kostete ihr zu viel, es kostete – ihr Kind. – So ging ein ganzes Jahr dahin, die Waldbeeren waren wieder reif; die Beerensammlerin nahete wieder der Burgtrümmer, mit doppeltem Schmerzgefühl, denn es war gerade der Jahrestag ihres Unglücks und Verlustes – da mit einem Male – kaum traut sie ihren Augen – da steht die Kirche wieder vor ihrem Blick, und neben dem Opferstock, der wieder voll vom Golde blinkt, sitzt blühend ihr Kind und reibt sich die Augen – es ist eben aufgewacht und hat sich rote Wänglein geschlafen. Mit freudigem Schreck stürzt die Mutter hinzu, ergreift's, herzt's, trägt's fort – schenkt der Goldfülle keinen Blick. – Endlich einmal wendet sie scheu sich um, ob nichts ihr folge, ob niemand ihr das Kind wieder entreißen wollte, aber da verschwand eben vor ihren Augen die Kirche wieder wie ein Nebelbild und wurde wieder die wüste Trümmer. Nun war die Mutter selig, und da das Wundergold, der Segen der Geisterwelt, ihr blieb, so lebte sie fortan ein beglücktes Leben und erzog ihr Kind zu Gottes Ehre.

Es geht auch noch die Sage vom alten Bergschloß Epprechtstein, daß alle Jahre einmal, aber an keinem bestimmten Tage, wann und solange der Pfarrer auf der Kanzel drunten in Kirchenlamitz das Vaterunser betet, sich ein Fels hebt und auseinanderklafft und große Haufen Goldes blicken läßt, aber sowie das Amen schallt, schließt er sich wieder auf ein Jahr lang zu. Wer ihn offen sieht, muß schnell etwas auf das Gold werfen, dann darf er ein Vaterunser lang zulangen, muß sich aber wohl sputen, denn versäumt er sich zu lange, so schnappt der Fels zu und klemmt ihm beide Hände ab oder gar das Köpfchen.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 464-465.
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