833. Bamberger Waage

[546] Da Kaiser Heinrich II. gestorben war, bereitete man ihm im Dome sein Grab und legte seinen Leichnam in einen weiten Sarkophag, darin Raum war für zweie. Als nun nach langen Jahren Kunigunde, seine Witwe, auch starb, so sollte sie neben dem Gemahle an seiner Seite ruhen. In feierlicher Prozession trug man ihren Leichnam zum Dome und hob den schweren Steindeckel von Heinrichs Sarkophage; da lag inmitten dessen noch unversehrt des Kaisers Leichnam. Und da ward eine laute Stimme durch das Domschiff hallend gehört, welche rief: Cede, vire, virgine! – gib Raum, Mann, der Jungfrau! – und alsbald rückte Heinrichs Leichnam von der rechten Seite nach links und machte ihr Platz, und lagen nun tot beisammen, die im Leben solches nie gepflogen. Hernach ward über des Kaisers Grabe ein Bild der Gerechtigkeit erhöht, wie die alten Heiden selbe gebildet, als weibliche Gottheit, in der Hand eine Waage haltend. Aber dieser Waage Zünglein steht nicht inmitten, wie das der Waage der Gerechtigkeit stehen soll, sondern hängt nach einer Seite nieder, dieweil auf Erden nichts vollkommen und die irdische Gerechtigkeit auch gar oft einseitig züngelt. Es geht aber die alte Sage, wann sich das Zünglein der Bamberger Waage in die Mitte stellen werde, alsdann werde der Welt Untergang nahe sein. Dieser Sage Deutung ist nicht schwer. Wann auf Erden alles so vollkommen, daß selbst die Gerechtigkeit und ihre Diener stets das volle Recht üben und nicht nach links überschnappen, dann ist die Welt vollkommen, das irdische Reich zu Ende, und das himmlische bricht an.

Quelle:
Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Meersburg und Leipzig 1930, S. 546.
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