XII

[232] Es war ein heiterer Wintertag in der ersten Hälfte des Januars. Die Familie des Grafen war ohne den General, der in seinem Zimmer einsam mit dem Schicksale grollte, im Saale beim Frühstück versammelt. Der Graf sprach von den Fortschritten der Verbündeten in Frankreich und las einen Brief seines Vetters, des Grafen Robert, vor, den dieser Gelegenheit gefunden hatte dem Oheim zu senden, und aus dem sich ergab, daß die Stimmung in Frankreich gar[232] nicht so allgemein für den Kaiser wäre, wie es der General auf's Hitzigste zu versichern pflegte. Diese friedliche Unterhaltung wurde unterbrochen, indem Jemand mit Heftigkeit die nach dem Vorzimmer führende Thür aufriß.

Die Schwäche des Alters hatte den Haushofmeister vermocht, darauf Verzicht zu leisten, seine Herrschaft beim Frühstück zu bedienen, denn er mußte länger ruhen, als es sich mit diesem Geschäft vereinigen ließ. Nichts konnte ihn aber dahin bringen, daß er nicht die wenigen Ueberreste seiner silberweißen Haare jeden Abend in Papilloten gelegt, und am andern Morgen gehörig frisirt und gepudert hätte, um alsdann im stattlichsten Anzuge gegen Mittag vor der Gräfin zu erscheinen, ihre Befehle zu vernehmen. Wie sehr mußten also alle Anwesenden erstaunen, als sie Dübois erblickten, der mit einem ihm fremden Ungestüm die Thüre aufriß und dessen Anblick bewies, daß er das Werk, sein würdiges Haupt mit einer anständigen Frisur zu schmücken, erst halb vollendet habe, denn nur die rechte Seite war in gewohnter Ordnung; über dem linken Ohre aber flatterten noch die Papilloten, die seine wenigen Haare gefesselt hielten. Auch trug er noch seinen Morgenrock und erschien in gelben Pantoffeln. Das Ungewöhnliche dieses Anblicks wurde noch durch die unnatürlich funkelnden Augen des Greises und die tiefe Röthe seiner Wangen erhöht. Erschrocken waren alle Anwesenden[233] aufgestanden, und der Graf trat dem alten Manne besorgt entgegen, der nicht sprechen konnte und um dessen Lippen ein ängstigendes Lächeln schwebte. Endlich keuchte er mühsam hervor: Nachrichten, Nachrichten von unserm Grafen! Wo? durch Wen? tönte es von allen Lippen, und Alle umringten den Greis, der auf die Thür deutete. Der Graf stürmte nach dem Vorzimmer und führte gleich darauf einen jungen Husarenoffizier in russischer Uniform in den Saal. Lebt er? Ist er gesund? Nicht verstümmelt? Haben Sie ihn gesehen? so tönten die Fragen, ihn betäubend, rund um den jungen Mann. Ich habe, sagte er endlich, für Sie, Herr Graf, Briefe von Herrn Evremont.

Vom Grafen Evremont, verbesserte Dübois laut, der sich etwas erholt hatte, aber noch nicht so sehr, daß er das Unschickliche seiner Kleidung hätte bemerken können.

So lebt mein Sohn! sagte die Gräfin mit bebender Stimme und drängte sich zu dem jungen Krieger. O! sprechen Sie, wo lebt mein Sohn, und ist er gesund? Werden wir ihn mit reiner Freude in unsere Arme schließen?

Der junge Mann, den, wie es schien, die vornehme Umgebung und alle die Anzeichen des Reichthums, die er vielleicht mit Evremont in seinen jetzigen Verhältnissen niemals in Verbindung gedacht hatte, etwas in Verwirrung setzten, sagte: Wenn es derselbe ist, von dem ich Ihnen Briefe[234] bringe, der lebt, und ich habe ihn gesund bei meinen Eltern verlassen. Er ging hierauf nach dem Vorzimmer zurück und brachte ein versiegeltes Paket, das er dem Grafen reichte. Alle drängten sich hinzu, auch Dübois; Alle erkannten sogleich die Züge der geliebten Hand. Ein allgemeiner Ausruf der Freude entschwebte allen Lippen. Der Graf hielt seine Thränen nicht zurück und sagte: Sie sind uns ein Bote des Himmels, Sie bringen nach jahrelangen Leiden Trost und Ruhe meiner kummervollen Familie.

Die Gräfin faßte mit ihren bebenden Händen die Hand des jungen Mannes und sagte fast schluchzend: Im Hause Ihrer Eltern lebt mein Sohn? O! wenn Sie nach überstandenen Gefahren zu Ihrer Familie zurückkehren, dann wird Ihre Mutter fühlen, welchen Trost Sie mir heute gebracht haben. Emilie hob ihr schönes Kind empor und sagte, indem sie die Thränen ungehindert fließen ließ, die wie Perlen über die in erhöhter Farbe brennenden Wangen flossen: Sieh, Adalbert, dieser Herr bringt Nachricht von Deinem Vater. Der Kleine mißverstand die Mutter, und indem er die zarten kleinen Arme um den Nacken des jungen Mannes schlang und mit den rothen Lippen, wie mit frischen Rosen, die gebräunten Wangen des fremden Kriegers berührte, fragte er: Bringst Du meinen Vater mit?

Vom Gefühle der Rührung überwältigt, zog der junge[235] Mann das Kind von den Armen der Mutter, und dessen schöne Augen küssend, sagte er: Wie sprechend sieht er seinem Vater ähnlich! Das Kind, das die Frage, die es eben gethan, schon wieder vergessen hatte, spielte ruhig an der Brust des Fremden mit den sich vielfach kreuzenden Schnüren an dessen Uniform, die seine ganze Aufmerksamkeit erregte.

Der Sturm des Entzückens legte sich endlich. Der übermäßig quellende Strom der Freude floß sanfter, und Dübois bemerkte mit Entsetzen, wie sehr er durch seine unanständige Kleidung die gewohnte Ehrerbietung gegen die gräfliche Familie verletzt habe. Er entfloh beschämt, um seinen Anzug eilig zu vollenden.

Der fremde Offizier machte endlich eine Bewegung sich zu entfernen, doch die ganze Familie bestürmte ihn mit Bitten diesen Tag zu bleiben. Er gestand, daß er zwei Nächte gereist sei, um seinem Freunde Evremont Wort halten zu können und dessen Briefe selbst zu überreichen, daß er aber nun einiger Ruhe bedürfe und dann schleunig aufbrechen müsse, um zur bestimmten Zeit bei dem General einzutreffen, der ihn nach Petersburg gesendet habe und zu welchem er nun zurückkehre. Der Graf berechnete die Zeit, und versprach für Courierpferde zu sorgen und eine ziemliche Strecke ihn durch eigene Pferde zu befördern, und so ließ es sich[236] machen, daß der junge Mann bis zum andern Morgen bleiben konnte. Dübois, der nun völlig gekleidet und gehörig gepudert wieder eingetreten war, übernahm mit großer Freude den Auftrag, für die Bequemlichkeit des Fremden zu sorgen, und es versteht sich, daß er diese Pflicht auf's Beste erfüllte.

Als der junge Offizier sich entfernt hatte, um einige Ruhe zu genießen, ergriff ein Jeder die für ihn bestimmten Briefe, um nur Einiges flüchtig zu lesen, und sich vorläufig von Evremonts Wohl und der Fortdauer seiner Liebe zu überzeugen. Der Graf besonders konnte das an ihn gerichtete Schreiben nicht so bald beendigen, da es den ganzen Lauf der Begebenheiten enthielt, die den Schreiber seit der Schlacht bei Borodino betroffen hatten. Man beschloß also, dieß alles in seinem ganzen Umfange gemeinschaftlich nach der Abreise des Fremden zu lesen, um gegen den, der so hoch beglückende Nachrichten gebracht hatte, die Erfüllung der Gastfreundschaft nicht zu versäumen.

Auf seine Erkundigungen erfuhr der Graf, daß sein Gast in einen sanften, tiefen Schlaf versunken war. Er befahl ihn nicht zu stören, da der junge Krieger dieser Erholung vor Allem zu bedürfen schien, und begab sich zu dem General Clairmont, um ihm die Freude mitzutheilen, die so eben die Familie beglückte. Gott sei gelobt, daß er lebt![237] rief der General, den eigenen Trübsinn bei dieser Nachricht vergessend. Ich gestehe Dir, fuhr er fort, ich habe oft im Stillen gefürchtet, wir würden nie wieder von ihm hören, und mochte nur meine Furcht nicht zeigen, um Euch nicht die Hoffnung zu nehmen, die Ihr, wie es mir schien, aller Wahrscheinlichkeit zuwider hegtet.

Willst Du nun nicht wieder Theil an der Gesellschaft nehmen? fragte der Graf; willst Du nicht den jungen Mann selbst über Evremont sprechen?

Nein! rief der General verdrüßlich nach kurzem Schweigen. Ich will den Russen nicht sehen. Nun eilen sie alle nach Frankreich, und meinen dort leicht Lorbeeren zu gewinnen und unsern Ruhm zu verdunkeln; ich mag solchen anmaßenden Menschen gar nicht sprechen. Morgen, wenn er abgereist ist, dann theile mir aus Evremonts Briefen alles mit, was nicht allein für die Familie gehört, und Du wirst sehen, daß ich mich Euers Glückes freuen kann; aber heute erlaube mir allein zu bleiben. Der Graf, der die Freiheit seiner Gäste nicht zu beschränken wünschte, fügte sich in den Willen seines Freundes, und als er diesen nach einiger Zeit verließ und in den Saal zurückkehrte, fand er die Gesellschaft dort versammelt und den fremden Krieger durch den kurzen Schlaf gestärkt, von den Frauen umringt, die alle verlangten, er solle von Evremont erzählen, und ihn deßhalb[238] mit tausend Fragen bestürmten. Der junge Mann wußte eigentlich nichts weiter zu sagen, als daß er als Courier nach Petersburg gesendet worden, und da ihm die Zeit bestimmt sei, in welcher er wieder bei seinem General eintreffen müsse, und man ihn in Petersburg sehr schnell wieder abgefertigt, so habe er durch angestrengte Eile es so einrichten können, daß ihm Zeit geblieben sei, einen kurzen Besuch auf zwei Tage bei seinen Eltern zu machen, deren Güter in unbedeutender Entfernung von der Straße lägen, die er habe verfolgen müssen. Hier habe er Evremont als Hausgenossen gefunden, indem ihn sein Vater als Kriegsgefangenen bei sich aufgenommen habe. Den Abend vor seiner Abreise habe ihn der liebenswürdige, von der ganzen Familie geliebte junge Mann dringend gebeten, ein Paket an den Grafen Hohenthal zu besorgen, und da er sich überzeugt habe, daß sein Weg ihn nahe bei dessen Schlosse vorbeiführen müsse, so habe er sich entschlossen, das Paket, an dessen Beförderung dem Hausgenossen seiner Eltern so viel zu liegen schien, selbst zu besorgen, obgleich ihm dieser nicht gesagt, daß er der Sohn des Hauses sei.

Die Frauen waren über diese Zurückhaltung Evremonts sehr erstaunt. Den Grafen, der das an ihn gerichtete Schreiben flüchtig durchgesehen hatte, schien sie weniger zu befremden; er sagte nur lächelnd: Die Umstände, unter welchen[239] mein Sohn das Haus Ihres würdigen Vaters betrat, würden vielleicht Zweifel an seiner Wahrheitsliebe erregt haben, wenn er sich Obrist und den Sohn eines Grafen hätte nennen wollen. Ich habe sein Schreiben noch nicht ganz gelesen, aber ich glaube nach dem, was ich schon daraus ersehen habe, daß wir nie im Stande sein werden, die ganze Schuld der Dankbarkeit gegen Ihre Familie abzutragen. Der junge Mann schwieg etwas verwirrt; er mochte es nicht sagen, daß ihm während des kurzen Aufenthalts im Hause seiner Eltern Evremonts Dasein völlig unbedeutend vorgekommen war, daß er kaum ein Wort mit ihm gewechselt habe und nur beim Abschiede erst aufmerksam auf ihn geworden sei, als dieser ihn so dringend gebeten, ein großes Paket Briefe an einen deutschen Grafen zu besorgen, und daß Neugierde mehr als Theilnahme ihn bestimmt habe, selbst der Ueberbringer zu sein, indem er zu erfahren gehofft habe, in welchem Zusammenhange Evremont mit diesem Grafen stehe, ohne daß er irgend erwartet habe, ihn als Sohn des Gräflichen Hauses bei dieser Gelegenheit kennen zu lernen.

Der Tag verschwand, den man dem Gaste so angenehm als möglich zu machen strebte, und am folgenden Morgen führten ihn des Grafen schnellste Pferde seiner Bestimmung entgegen. Der General, der den Fremden hatte abreisen sehen, erschien nun sogleich und erinnerte den Grafen an sein[240] gestriges Versprechen, ihm alles über Evremont mitzutheilen, was die Theilnahme des Freundes erregen könne. Der Graf, der die Blätter schon durchgesehen hatte, war bereit sie vorzulesen, da sie Evremont, wie er oft that, in französischer Sprache geschrieben hatte.

Evremont beschrieb seinen Eltern den Einzug der Franzosen in Moskau, wie sie in ihren Erwartungen sich getäuscht gesehen hätten, als sie die beinah gänzlich von den Einwohnern verlassene Stadt betraten, den furchtbaren Brand und den noch furchtbarern Rückzug. Mein Regiment, fuhr er in seinem Berichte fort, war gänzlich auseinander gesprengt und vernichtet, ehe wir die Beresina erreichten. Der Mangel, die Kälte rafften Tausende hin, und die Ueberlebenden dachten nur daran weiter rückwärts zu kommen, ohne mehr dem Befehle ihrer Officiere zu gehorchen. Der alte Bertrand, der Schwager des jungen Lorenz, hatte sich treu mit einem kleinen Haufen an mich angeschlossen; er glaubte mir Dank schuldig zu sein für manche kleine Dienste, die ich ihm geleistet, um mein hartes Verfahren gegen seine Gattin in Spanien wieder gut zu machen. Diese, die uns als Marketenderin folgte, gewährte mir nun viele Erleichterung durch die wenn auch geringen Vorräthe, die sie für ihren Mann und ihr Kind zu bergen gewußt hatte, und die die Familie bereitwillig mit mir theilte. Aber auch diese kleine Milderung[241] der Beschwerden sollte bald für mich aufhören. Wir wurden eines Abends in der Dunkelheit von Kosacken überfallen und da wir, vor Kälte erstarrt, nicht fechten konnten, so suchte Jeder den Feinden, wie er vermochte, zu entkommen.

Ich irrte die Nacht auf einer unermeßlichen Ebene umher; ein scharfer Wind hob den Schnee vom Boden auf und wirbelte ihn in der Luft umher, vom Himmel senkten sich gleiche Massen nieder, die sich mit den vom Boden emporgewirbelten vereinigten. Bei jedem mühsamen Schritt sanken die Füße bis an die Kniee in den Schnee, der den Boden Ellenhoch bedeckte, so daß es schien, als ob alle Lebendigen von der Erde verschwunden und ich einsam den furchtbar aufgeregten Elementen Preis gegeben sei, denn der Wind wurde immer kälter und schneidender, und die dünne Uniform konnte mich gegen dieß Ungemach nicht schützen. Alle meine Besitzthümer wie meine Dienerschaft waren zerstreut, verloren, und ich hatte vor wenigen Tagen auf einer eiligen Flucht vor den Feinden selbst den Mantel zurücklassen müssen, den ich in einer rauchenden Hütte abgelegt hatte, die mir ein augenblickliches Obdach gewährte, um ihn am Feuer und Rauch zu trocknen. In diesem trostlosen Zustande fühlte ich nur noch dunkel die Nothwendigkeit, mich fortwährend zu bewegen, wenn ich mein Leben erhalten wolle. Mit höchster Anstrengung setzte ich meine Wanderungen fort, selbst völlig[242] erblindet, denn der Wind trieb mir den Schnee in's Gesicht; dieser blieb an den Augenliedern hängen, die sogleich zufroren. Endlich waren meine Kräfte erschöpft; trotz der großen Kälte bemeisterte sich eine unwiderstehliche Schläfrigkeit meiner, und ich glaube, ich würde nach wenigen Minuten niedergesunken sein und würde, wie so viele Tausende, mein Leben durch die Gewalt der furchtbaren Elemente verloren haben, wenn nicht eine rauhe Hand die meine ergriffen und mich in eine kleine Hütte gezogen hätte, der ich mich, ohne es in meiner Blindheit zu bemerken, genähert hatte. Die große Hitze in der Hütte ließ den Schnee schmelzen, mit dem mein Gesicht bedeckt war, und meine Augen öffneten sich. Ich erkannte, daß ich mich unter Kosacken befand, die hier die Nacht zugebracht zu haben und der Kälte draußen eine gleiche Hitze in ihrer Hütte entgegensetzen zu wollen schienen. Dieser plötzliche Wechsel der Luft betäubte mich vollends, und ich sah die Gestalten sich nur wie Schatten in dem in der Hütte verbreiteten Rauch bewegen. Der Anführer dieses kleinen Trupps bemerkte es vielleicht, daß ich dem Tode nahe war. Er trat zu mir, schüttelte meine Hand, und das braune, kriegerische Gesicht blickte mich gutmüthig an; er sprach einige Worte, die mich vermuthlich ermuntern sollten; ich verstand aber seine Gebehrden besser; er reichte mir nämlich eine Flasche hin und deutete an, ich solle trinken. Ich that[243] es und fühlte, wie die Wärme des Getränks wohlthätig auf mich einwirkte, zugleich aber meine Müdigkeit sich erhöhte. Auf einige Worte ihres Anführers hatten zwei Kosacken mir die völlig durchnäßte Uniform ausgezogen. Sie bekleideten mich mit einem gemeinen Soldatenmantel und setzten mir eine ähnliche Mütze auf. Ich ließ Alles mit mir geschehen, ich war völlig betäubt und willenlos; ich weiß nur noch, daß ich auf einen für mich bereiteten Haufen Stroh sank und in einen so tiefen Schlaf fiel, daß ich nichts mehr vernahm, was in der Hütte vorging.

Ich mochte mehrere Stunden geschlafen haben, als ich durch heftiges Rütteln aus diesem todtenähnlichen Zustande erweckt wurde. Man deutete mir an, daß wir weiter ziehen müßten, und reichte mir grobes Brod, gesalznes Fleisch und gemeinen Branntwein als Frühstück. Ich verschlang diese dürftige Nahrung und sah mich dann vergeblich nach meiner Uniform um; sie war verschwunden, zugleich vermißte ich meine Uhr, mein letztes Besitzthum von Werth, und die wenigen Goldstücke, die ich bei mir getragen hatte. Ich sah also wohl, daß mein tiefer Schlaf von den behenden Kosacken nicht unbenutzt gelassen war. Da ich aber den Kriegsgebrauch kannte, so erhob ich keine vergebliche Klage und bequemte mich, in der demüthigen Kleidung eines gemeinen französischen Soldaten mit meinen Ueberwindern, die sich im[244] Uebrigen aber menschlich zeigten, den Weg in eine trostlose Gefangenschaft anzutreten.

Ein kurzer Schimmer von Hoffnung leuchtete mir noch ein Mal. Wir stießen auf einen Theil eines französischen Regimentes. Die Kosacken wurden angegriffen, sprengten nach ihrer Art zu fechten sogleich aus einander und entflohen einzeln mit Blitzesschnelle dem überlegenen Gegner, und ich blieb in der Gewalt der Franzosen. Ehe ich aber noch Gelegenheit finden konnte, mich mit dem Officier zu erklären, stießen wir auf neue Feinde, und nach einem kurzen Gefecht, in welchem der Officier blieb, geriethen wir in deren Gewalt, und meine Befreier waren meine Mitgefangenen geworden.

Ich will nichts von dem Elende erwähnen, das ich auf den endlosen Märschen erdulden mußte, ehe wir das Armeecorps erreichten, dem das uns führende Regiment zugeordnet war. Ich verdankte es der Kraft der Jugend, daß ich diese Mühseligkeiten überstand, denen die meisten meiner Unglücksgefährten unterlagen. Endlich war dieß traurige Ziel erreicht, und die wenigen noch lebenden Gefangenen, die der Obrist des russischen Regimentes, das uns genommen hatte, vorstellen konnte, wurden einer großen Anzahl zugesellt, die nach dem Innern des Reiches geführt werden sollte. Hier traf ich Franzosen, Deutsche, Italiener und Spanier im bunten[245] Gemisch, aber Alle in gleichem Elend. Unsere Namen wurden hier flüchtig verzeichnet, und da meine höchst armselige Erscheinung in der zu Lumpen gewordenen Kleidung eines gemeinen Soldaten, hätte ich die Wahrheit angegeben, meine Glaubhaftigkeit verdächtig gemacht haben würde, so nannte ich mich bloß Evremont, Officier des Regimentes, das ich geführt hatte. Aber auch dieß konnte bei der unglaublich großen Anzahl Gefangener, die stündlich eingebracht wurden, nicht weiter beachtet werden. Da ich nur mein Wort dafür hatte und meine Erscheinung dem widersprach, auch unter den gegenwärtigen Gefangenen Niemand war, der mich kannte, so traf mich das Loos, als gemeiner Soldat mit einer Anzahl, worunter wenige Franzosen waren, meist Italiener, einen Weg anzutreten, dessen ich mich mit Schauder erinnern werde, so lang ich lebe.

Unsere Nahrung war der Masse nach zwar hinreichend, aber von der gröbsten Art, so daß sich meine Natur dagegen sträubte und ich beinahe dem Hunger unterlag, und ich gestehe, daß ich, wenn wir durch kleine Städte zogen, in welchen Bäcker wohnten, die schlechte Waizenbrote zum Verkauf ausgelegt hatten, alle Kraft der Seele aufbieten mußte, um meine Hand nicht danach auszustrecken, und mich hielt nur die Furcht vor den schimpflichen Folgen davon zurück, denn auch in diesem Elende blieb mir das Gefühl, daß[246] ich Ihnen, meine verehrten Eltern, meiner angebeteten Emilie und meinem geliebten Knaben ein makelloses Leben schuldig sei, und daß ich keine Handlung begehen dürfe, worüber mir so theure Wesen jemals erröthen müßten.

So, in täglich zunehmender Noth, hatten wir die Ostseeprovinzen erreicht, und mehrere der unglücklichen Gefangenen waren so entkräftet, daß sie auf Schlitten fortgebracht werden mußten, um in der nächsten Stadt, wo Lazarethe eingerichtet waren, zur Pflege abgegeben zu werden. Die Furcht vor einem ähnlichen Schicksale vermochte mich alle Kräfte aufzubieten, um meinen Weg zu Fuß fortsetzen zu können, und das Unglück der Kranken erleichterte selbst ein wenig den Zustand der Gesunden, denn das Bedürfniß Pferde zu haben, um die Hülflosen fortzuschaffen, hatte die Einrichtung nothwendig gemacht, daß die an der Straße wohnenden Edelleute die nöthigen Pferde zu stellen verpflichtet wurden, und so zogen wir von einem Edelhofe zum andern, indem in jedem neue Pferde bereit gehalten wurden, die die Kranken wieder bis zum nächsten brachten, und ich muß es dankend rühmen, wie bereitwillig die Menschenliebe die Noth des Augenblicks zu lindern strebte. Freilich war der wohlthätige Beistand mehr meinen Gefährten als mir zu Theil geworden, denn ich konnte mich nicht hinzudrängen, um meinen Theil von den Lebensmitteln, die uns gereicht wurden, zu[247] erhalten. Da mich die Gefangenen selbst für einen gemeinen Soldaten hielten, so glaubten sie mir keine Rücksicht schuldig zu sein, und da die Noth den von Natur selbstsüchtigen Menschen noch selbstsüchtiger macht, so rafften die Andern Alles an sich, ohne daran zu denken, daß ich beinah verschmachtete.

Trotz dieser großen Noth hatte ich oft Gelegenheit zu bemerken, daß das im Allgemeinen feine und gebildete Aussehen der meisten Edelleute einen seltsamen Gegensatz zu der Rohheit bildet, in die die ursprünglichen Bewohner des Landes, die jetzigen Bauern, versenkt sind, so daß man sich weit weg aus Europa versetzt fühlt, wenn man sie betrachtet, und seltsam überrascht wird, wenn man in dieser Umgebung zierliche Frauen, schöne Fräulein und gebildete Männer, die sämmtlich französisch reden, sich bewegen sieht. Mir wurde später dieses Räthsel gelöst, denn ich hatte Gelegenheit zu bemerken, wie viel eine jede Familie für die Erziehung ihrer Kinder thut, und wie jeder Vater, der es irgend vermag, seine Söhne auf Reisen sendet, um ihnen eine Wohlthat zu gewähren, die er auch selbst genossen hat. Dadurch ist ein gewisser Anstand im Betragen fast allen Familien eigen, der den Fremden angenehm anspricht. Die Ursache dieses anständigen, milden Betragens war mir zur Zeit meiner traurigen[248] Wanderung nicht klar, aber ich sollte die wohlthätigen Wirkungen desselben erfahren.

Ich hatte durch fast übermenschliche Anstrengung mich immer aufrecht erhalten; aber meine Kräfte waren durch lange Entbehrungen aller Art so geschwächt, daß ich mit mir kämpfte, ob ich mich nicht sollte sinken und fühllos, besinnungslos dem neuen Elende eines Lazareths entgegenschleppen lassen, als wir auf einem Edelhofe aufgestellt wurden und hier warten sollten, bis die nöthigen Pferde herbeigeschafft würden. Der Besitzer des Gutes, ein Mann von mittleren Jahren, näherte sich uns mit seinem Verwalter und betrachtete unser Elend mit mitleidigen Blicken. Er sagte dem Verwalter einige Worte, der darauf in's Haus ging, und redete die nächsten Gefangenen französisch an, und als er die Italiener bemerkte, diese auch italienisch.

Mit lärmender Freude ward er sogleich von denen umringt, die die laute ihres schönen Vaterlandes in so weiter Ferne vernahmen. Indeß war die Gemahlin des Gutsbesitzers auch herab gekommen; sie redete uns freundlich an, und eine Magd trug ihr einen Korb voll wollener Strümpfe nach, die sie unter uns vertheilte, denn das mitleidige Auge dieser Frau hatte sogleich unsere höchst mangelhafte Fußbekleidung bemerkt. Schöne Kinder umringten das würdige Paar, in dessen Augen Thränen des Mitgefühls glänzten.[249] Die Italiener besonders drängten sich stürmisch heran, um die Gaben den schönen Händen zu entreißen. Ich lehnte mich seitwärts an die kalte Mauer, denn ich konnte mich beinahe nicht mehr aufrecht erhalten. Die Dame bemerkte mich, und vielleicht durch mein bleiches Ansehen gerührt, näherte sie sich mir, um mir ihre Gabe zu reichen, die ich dankbar empfing. Der Verwalter erschien nun wieder und der Herr des Guts lud uns ein in's Haus zu treten, um uns zu erwärmen und uns durch eine einfache Mahlzeit zu erquicken. Alle drängten sich herbei und so auch ich, den die äußerste Noth dazu trieb, so gut ich es vermochte. O! meine theuersten Eltern, wie köstlich dünkte mir nach so langer Entbehrung reinlich bereitete Suppe, die ein mürrischer Koch in Schüsseln von grobem Thon vor uns hinstellte, indem er uns hölzerne Löffel dazu reichte. Er zählte, indem er mit seinem großen Messer Jeden berührte, laut seine ihm unwillkommenen Gäste und theilte das uns bestimmte Fleisch, ohne Rücksicht auf einladende Sauberkeit, in eben so viele Theile, als Personen vorhanden waren.

Die Wirthschafterin reichte Jedem mit verdrießlicher Miene ein Glas Branntwein aus demselben Glase. Alles das störte nicht die Lust des Genusses, und hätte ich nach der Mahlzeit meine ermüdeten Glieder zum erquickenden Schlummer ausstrecken dürfen, so würde ich mich in dem[250] Augenblicke glücklich gefühlt haben. Doch die Pferde waren bereit und wir mußten scheiden. Ich hatte bemerkt, daß der Gutsbesitzer vor unserer Mahlzeit ernsthaft mit seiner Gemahlin sprach, wobei mich Beide betrachteten. Jetzt näherte er sich mir wieder und fragte, wo wir gefangen genommen wären. Nachdem ich auf seine Frage geantwortet, nahm ich die Gelegenheit wahr, ihm für die Güte, die er uns bewiesen, zu danken. Es schien mir, als ob er gern das Gespräch mit mir fortgesetzt hätte, doch der Unteroffizier, der uns führte, erinnerte, daß es Zeit sei aufzubrechen, und ich verließ mit Schmerz einen Ort, wo ich nach langem Leiden die erste Erquickung gefunden hatte, nachdem ich dem menschenfreundlichen Gutsbesitzer noch meinen Namen gesagt hatte, den er zu wissen begehrte.

Erwärmt und gesättigt faßte ich von Neuem den Entschluß, mich so lange als möglich aufrecht zu erhalten, um der Gefahr, in's Lazareth zu kommen, zu entgehen, und es war auf unserm zweiten Tagesmarsche, den ich mit höchster Anstrengung als Gesunder machte, als ich den Gutsbesitzer, der uns so wohl aufgenommen hatte, bei uns vorbeifahren sah. Er grüßte uns freundlich, und ich weiß nicht, was ich mir daraus Gutes vorhersagte, aber sein Anblick richtete meinen Muth auf und ich erreichte die Stadt als Gesunder, wo unser ferneres Schicksal entschieden werden[251] sollte. Wir waren auf dem Markte aufgestellt, und sahen nicht ohne schmerzliche Empfindungen uns von den Einwohnern mit Neugierde betrachtet, und erwarteten mit Aengstlichkeit die Entscheidung, wohin wir nun mit kraftlosen Schritten wandern sollten. Ich blickte mit Betrübniß auf das Haus, wo der Obere der Polizei wohnte, der unsere weitere Versendung zu besorgen hatte, als sich die Thür desselben öffnete und der mir so wohlbekannte Gutsbesitzer an der Seite dessen heraustrat, der unser Schicksal zunächst zu bestimmen hatte. Mein wohlwollender Bekannter näherte sich mir und fragte mich, ob ich etwas dagegen hätte, wenn er mir den Vorschlag machte, das Ende des Krieges als sein Hausgenosse zu erwarten und indessen die Verpflichtung zu übernehmen, seine Kinder in der französischen Sprache und, worin ich sonst vermöchte, zu unterrichten, vor Allem aber beständig französisch mit ihnen zu sprechen, damit sie sich die nationale Aussprache ganz eigen machen könnten. Ich ging mit Freuden auf sein Anerbieten ein, und in wenigen Minuten war die Sache zwischen ihm und dem Obern der Polizei abgemacht, und ich folgte zum großen Aerger der Italiener, um die sich Niemand bemühte, dem wohlwollenden Manne, dessen Hausgenosse ich werden sollte. Die wenigen Franzosen unter den Gefangenen waren bald auf eine ähnliche Art wie ich selbst untergebracht, und nur die unglücklichen[252] Italiener und Spanier wurden weiter gesendet. Mein neuer Beschützer kaufte mir zu allererst einen Mantel, der, obwohl nichts weniger als fein, mir dennoch höchst erfreulich war, denn ich konnte nun die erstarrten Glieder erwärmen, auch in dem Gasthofe, wo er selbst abgestiegen war, mich durch eine anständige Mahlzeit stärken, und den andern Tag saß ich neben ihm im Schlitten, von wärmenden Decken geschützt, und flog schnell und bequem den Weg nach seinem Gute zurück, den ich so kummervoll und mühevoll vor wenigen Tagen gewandert war.

Im Hause meines Beschützers angelangt, fand ich die wohlwollendste Aufnahme. Der lang entbehrte Besitz eines freundlichen, anständig möblirten Zimmers erfreute mein Herz; ein reinliches, bequemes Lager lockte mich an, doch wurde ich dieses Genusses erst durch ein Bad würdig, das man mir, die Nothwendigkeit erkennend, sogleich bereitete. Die zarte Vorsorge der Gebieterin des Hauses ließ es mir auch an Wäsche nicht mehr mangeln, und da von meinen Kleidungsstücken durchaus keines brauchbar war, brachte man mir für's Erste einen Schlafrock meines Beschützers. In diesem so sehr verbesserten Zustande war ich doch einige Tage ein Gefangener auf meinem Zimmer, bis der Schneider des Gutes, ein Eingeborner des Landes, der die Bedienten des Hauses kleidete, seine Kunst zu meinem Besten ausgeübt[253] hatte. Da ich nicht mit ihm sprechen konnte, mußte ich mich seiner Willkühr überlassen, doch wären Erinnerungen auch überflüssig gewesen; er kannte nur einen Schnitt der Kleider, den er seit Jahren für alle Bedienten des Hauses benutzte. Der Stoff, aus dem mein neuer Anzug verfertigt wurde, war zwar von feinem Gespinnst, ein Fabrikat des Hauses, worin ich nun lebte, doch aus Mangel an Kenntniß und den nöthigen Vorkehrungen so schlecht bereitet, daß er nur in der Ferne eine Aehnlichkeit mit Tuch hatte. Auf gleiche Weise wurde meine Fußbekleidung durch einen Eingebornen besorgt, und um das Werk zu vollenden, schnitt einer der Bedienten, der dieß Geschäft bei seinen Kameraden besorgte, mein Haar, das auf den mühseligen langen Märschen völlig verwildert war, auf eine Weise zurecht, daß ich vor mir selbst erschrak, als ich mich im Spiegel erblickte. Und nun war ich fähig, der Familie des Hauses vorgestellt zu werden.

Nennen Sie mich nicht undankbar, verehrte Eltern. Ich erkannte mit dankbarer Seele die wohlthätige Verbesserung meiner Lage, aber ich stand dennoch betrübt vor dem Spiegel und betrachtete mich mit einem erzwungenen Lächeln, durch das ich mich selbst aufzurichten strebte. Ich mußte daran denken, daß ich sonst nur die feinsten, ausgewähltesten Zeuge für würdig hielt meinen Leib zu bedecken, und daß[254] die vorzüglichsten Kleiderkünstler in Paris oft noch von mir getadelt wurden und mich nicht zufrieden stellen konnten. Meine Haut durfte nur Battist oder höchstens die feinste holländische Leinwand berühren, und ich gestehe, ich war nicht frei von Eitelkeit in Bezug auf mein vorzüglich schön gelocktes Haar, und ich hielt Wohlgerüche für ein unentbehrliches Bedürfniß des Lebens, und nun – wie demüthig umhüllt, ja, wie lächerlich entstellt blickte mich mein Bild aus dem Spiegel an, mir allen Muth benehmend, mich vor den Frauen zu zeigen.

Der Graf hatte viele Stellen dieses langen Schreibens mit bewegter Stimme gelesen. Die Thränen der zuhörenden Frauen waren häufig geflossen; auch der General, der den kleinen Adalbert auf den Knieen hielt, hatte oft mit Mühe die Rührung zurückgehalten, die in ihm die Theilnahme an Evremonts Geschick erregte; aber jetzt schien er mit einer andern Empfindung zu kämpfen, die er einige Augenblicke mit Anstrengung unterdrückte; doch plötzlich brach er in ein herzliches, langes, lautes Gelächter aus.

Der Graf sah seinen Freund bei diesem unerwarteten Ausbruche der Heiterkeit verwundert an. Die Frauen richteten zornige Blicke auf ihn, und die sanfte Emilie sagte, indem sie unwillig ihre Thränen trocknete: Ist es möglich, daß die Kunde von so großen Leiden, von der traurigen[255] Lage eines Freundes irgend ein Gefühl von Heiterkeit erregen kann?

Werthe Freunde, sagte der General, die Thränen trocknend, die ihm sein heftiges Gelächter erpreßt hatte, sein Sie nicht undankbar, und verschonen Sie mich mit Vorwürfen und zornigen Blicken. Der Himmel weiß, wie oft ich im Stillen für Evremonts Schicksal gezagt habe, und wie herzlichen Antheil sich an seinen Gefahren und Leiden nehme, deren Größe nur der beurtheilen kann, der mit demselben Ungemache gekämpft hat. Aber er lebt, er ist gesund, unverstümmelt weder durch den Feind, noch durch das noch feindlichere Klima, die Gefahren, die ihn noch weiterhin in seiner Gefangenschaft hätten treffen können, sind abgewendet, gegen den furchtbarsten Mangel, dem er noch hätte erliegen können und dem Tausende erliegen werden, schützt ihn der Aufenthalt in einer achtbaren Familie, wohin Du, alter Freund, ihm auf's Schnellste die größten Summen senden kannst, was Du auch nicht unterlassen wirst; dieß ist ein Glück, so groß, so ernsthaft, daß Euer Dank dafür nicht feurig genug zum Himmel emporsteigen kann. Aber nun seid auch gerecht und vergönnt mir, da alle Gefahr und auch alle eigentliche Noth für ihn vorüber ist, das Lächerliche seiner Lage zu fühlen. Können Sie es läugnen, fuhr er fort, indem er sich an Emilie wendete, daß unser Freund die größten[256] Gedanken in seiner Seele hegen konnte und zugleich daneben doch auch ernsthaft daran dachte, wie er sein Halstuch nach der Mode knüpfen sollte? Wollen Sie behaupten, daß das weiche, dunkle, schön gelockte Haar ihm nie eine angenehme Beschäftigung gewährt habe? Und nun ist es gefallen unter der plumpen Scheere eines Bauern. Achtete er nicht beinah ängstlich darauf, in seinem Anzuge die Sitte des Tages zu beobachten? Er war die Zierde der Gesellschaften, und dieß bewußtlose Gefühl gab ihm die liebenswürdige Sicherheit des Betragens, die gleich weit von kindischer Schüchternheit entfernt ist, wie von ungezogener Anmaßung. Er war der Spiegel der Mode, alle jungen Herren, die auf guten Ton Anspruch machten, suchten sich ihm ähnlich zu gestalten, und nun, wie sehr sind alle diese Vorzüge für den Augenblick verdunkelt! Aber beruhigen Sie sich, meine Freunde; die großen Geldsummen, die Sie senden werden, erreichen ihn bald. Dann wird er die demüthige Hülle eines Kinderlehrers abwerfen und, wie die Sonne aus verschleierndem Nebel, zum Erstaunen seiner Umgebung glänzend hervortreten.

Es konnte Niemand umhin sich einzugestehen, daß der General nicht mit Unrecht Evremont der kleinen Schwächen beschuldigte, deren er gedachte. Sie waren aber so eng mit allen liebenswürdigen Eigenschaften seines Charakters verwebt,[257] daß Niemand sie hinweg gewünscht hätte, und das unwillkührliche Lächeln auf allen Gesichtern zeigte dem Freunde, daß man die Wahrheit seiner Bemerkungen anerkannte. Dieser hob den kleinen Adalbert von seinen Knieen auf, küßte ihn herzlich und rief: Ich sage Dir, mein Junge, werde so gut, so brav wie Dein Vater, so edel, so mild, so treu in der Freundschaft und so großmüthig wie er, dann will ich Dir erlauben, Dich noch sorgfältiger zu putzen, wie er selbst, wenn es möglich ist.

Diese Unterbrechung hatte die tiefe Rührung der Familie gemildert, und man vernahm in ruhiger Stimmung, indem man zuweilen auch ein Lächeln sich erlaubte, die weiteren Klagen Evremonts, die der Graf vortrug. Ich wendete mich von dem Spiegel ab, schrieb Evremont weiter, und schritt einige Mal im Zimmer auf und ab, um den unangenehmen Eindruck zu besiegen, den mein Bild in demselben auf mich gemacht hatte; dann faßte ich den Muth mich den Damen vorzustellen.

Des andern Tages, nun völlig hergestellt von allen erduldeten Beschwerden, begann ich mit Eifer mein Geschäft. Ich unterrichtete die Kinder in allen Dingen, worin ich Unterricht zu ertheilen vermochte. Ich lehrte nicht nur französisch, sondern auch Zeichnen, Geschichte und Erdbeschreibung, und unterrichtete die Knaben in der Mathematik.[258] Die dankbaren Eltern erkannten um so mehr meine Bemühungen an, als sie, wie sie glaubten, ein so vorzügliches Loos getroffen hatten. Denn in allen Nachbarhäusern waren ebenfalls kriegsgefangene Franzosen; da diese aber größtentheils waren, was ich schien, nämlich gemeine Soldaten, so konnten sie weder Sitten, noch irgend eine Wissenschaft lehren, und ich mußte oft lächelnd bemerken, daß sich durch Einige sogar die provinziellen Dialekte unsers schönen Frankreichs zu verbreiten anfingen. Auf diese Art fühlte ich mich bald heimisch bei den guten Menschen, in deren Hause ich lebte, und sie behandelten mich bei sich wie ein Glied ihrer Familie. Anders war dieß freilich in der Gesellschaft, wo ich völlig bis zum Nichts herabsank, denn die Edelleute, zu denen sich die Prediger gesellten, bildeten eigentlich die Gesellschaft. Die verschiedenen Hofmeister und Lehrer waren nur gegenwärtig, ohne dazu zu gehören, und von diesen sonderten sich die Deutschen wieder ab, die natürlich Anspruch darauf machten, Gelehrte zu sein, und deßhalb mit großer Geringschätzung auf die Franzosen herab sahen, die sie ohne Ausnahme für gemeine Soldaten hielten. Den Frauen nähert man sich in Gesellschaften nur beim Tanze, und da es meinem Gefühl zu sehr widersprach, mit fremden Frauen zu tanzen, indeß meine angebetete Emilie vielleicht brennende Thränen des bittersten Kummers über mein Schicksal[259] vergießt, und da ich außerdem vermeiden wollte, daß man den Wunsch äußern möchte, ich solle die Kinder auch in dieser Kunst unterrichten, weil ich in meiner abhängigen Lage keinen Wunsch, der geäußert wurde, ablehnen durfte, so läugnete ich hartnäckig, daß ich zu tanzen verstehe, und obwohl man dieß von einem Franzosen lange nicht glauben wollte, hörte man doch endlich auf mich aufzufordern, an einem Vergnügen Theil zu nehmen, das keins für mich sein konnte.

Er hat Recht, unterbrach der General abermals die Vorlesung, er hat Recht. Daß er ernsthafte Wissenschaften zu lehren sucht, in einer Abhängigkeit, die er aus ehrenvollen Gründen erduldet, kann ihn nie beschämen; aber ewig unauslöschlich lächerlich und kränkend würde es mir sein, wenn ich mir einen der bravsten Offiziere der großen Armee denken müßte mit russischen Kindern nach einer armseligen Geige herumspringend, um ihnen Künste zu lehren, womit sie in ihren Gesellschaften glänzen sollen.

So geschah es, fuhr der Graf aus Evremonts Briefen fort, daß ich mich nie so völlig einsam fühlte, wie in den Gesellschaften, die sich hier auf dem Lande bildeten, und ich sehnte mich herzlich nach dem spät beginnenden Frühlinge, um einigen Ersatz für alles, was ich entbehre, in der Natur[260] zu finden. Doch auch diese bietet hier Genuß mit karger Hand. Die Gegend wenigstens, in der ich lebe, ist so völlig flach, daß man den kleinsten Hügel ganz ernsthaft einen Berg nennt, und das Auge schweift, irgend einen Punkt suchend, an den es den Blick fesseln möchte, ermüdet über unermeßliche Kornfelder, die oft nur der Horizont begränzt. Man bekommt ein ängstigendes Gefühl der Trockenheit, weil man mehrere Meilen fahren kann, ohne das kleinste Wasser zu erblicken, und trifft man endlich auf einen Bach, so fließt er träge zwischen flachen Ufern, und ist im Sommer mit Schilf und Binsen bewachsen. Dieß ist im Allgemeinen der Charakter des Landes, und dennoch lieben dessen Bewohner hier die Natur mehr, als ich es an den Bewohnern der glücklichsten Gegenden bemerkt habe. Man kann sagen, sie feiern jeden schönen Tag, den ihnen der hier strenge Himmel etwa gewährt; sie benutzen jeden Platz an einem dieser Flüsse oder der kleinen Seen im Lande, um anmuthige Gärten zu bilden. Ja, sie wandeln zu diesem Zwecke die unwirthbarsten Sümpfe um und ringen mit unglaublichen Anstrengungen der widerspenstigen Natur ein kleines Fleckchen ab, um ihre Sehnsucht nach einer anmuthigen Umgebung zu befriedigen. In solchen kleinen Paradiesen kann man es zuweilen vergessen, daß man so hoch im Norden lebt; nur muß der unter den Blüthenbüschen Wandernde sich hüten, daß sich sein Auge[261] nicht über die Umzäunung hinaus verirrt, sonst wird ihn die Oede rund umher daran erinnern.

Daß ich nun hier, meine theuern Eltern, trotz der Güte, die ich erfahre, ein höchst trauriges Leben führe, werden Sie begreifen, in drückender Abhängigkeit, von der Gesellschaft eigentlich ausgeschlossen, zurückgestoßen von der rauhen Natur, ohne alle Nachricht von allen mir theuern Wesen, und durch die öffentlichen Nachrichten für mein Vaterland mit Recht besorgt! Ich läugne nicht, daß ich mich oft mit aller Anstrengung ermannen muß, um den Kummer, den ich im Herzen trage, denen nicht zu zeigen, die ihn weder verstehen noch theilen könnten, denn sehr begreiflich sind hier viele Dinge, die mich betrüben, eine Ursache zur Freude.

Es war mir ein Trost, in einsamen Stunden diese Zeilen an meine Familie zu richten, ohne daß ich wußte, wie sie bis zu Ihnen, geliebte Eltern, gelangen sollten. Nach Jahren hatte ich gestern das erste Mal wieder das Gefühl lebhafter Freude. Der älteste Sohn des Hauses, in dem ich lebe, überraschte seine Eltern und Geschwister auf seinem Rückwege zur Armee mit einem kurzen Besuche. Er hat mir sein Ehrenwort gegeben dafür zu sorgen, daß diese Briefe sicher in Ihre Hände kämen, mein theurer Vater, und ich betrachte nun meine Noth als geendigt. Evremont fügte noch Vieles hinzu für jedes einzelne Glied der Familie, welches[262] der Graf nicht angemessen fand dem Generale mitzutheilen, und er endigte die Vorlesung, die Alle mit so inniger Theilnahme angehört hatten.

Quelle:
Sophie Bernhardi: Evremont. Theil 3, Breslau 1836, S. 232-263.
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