IV

[42] Mit dem Schlage fünf stand der Pfarrer, der in allen Geschäften höchst pünktlich war und sein ganzes Leben zum Geschäft machte, vor dem Bette des Arztes und ermahnte ihn, der Verabredung gemäß, aufzustehen, indem er ihm zugleich anzeigte, daß der Kaffee schon auf dem Tische stehe, wie sie es am vorigen Abend bestellt hätten.

Der Arzt sprang auf, kleidete sich mit großer Hast an und rieth dem Pfarrer, seine Morgenpfeife beim Kaffee zu rauchen, weil er nicht zugeben könne, daß im Zimmer des Kranken geraucht würde. Er selbst machte das Kaffeetrinken eilig ab, denn er hatte eine große Begierde, den Kranken zu sehen. Nach wenigen Minuten begaben sich beide, Arzt und Pfarrer, nach dem Krankenzimmer; sie fanden den Verwundeten ruhig schlummernd und den alten Haushofmeister neben dem Bette desselben in einem Lehnstuhl sitzend. Er hatte seine silbergrauen Haare mit einer weißen Nachtmütze bedeckt, Pantoffeln an den Füßen, seinen weiten braunen Ueberrock bis oben zugeknöpft und las mit der Brille auf der Nase andächtig in einem französischen Gebetbuche, beim Schein einer Lampe, deren Schimmer er so gerichtet hatte, daß der Kranke nicht von den Lichtstrahlen belästigt wurde.

Nun, wie gehts, bester Herr Dubois, rief der Arzt eilig,[42] wie geht's mit unserm jungen Manne? Sie haben mich nicht gerufen, in der Nacht ist also wohl nichts vorgefallen?

Der Kranke, versetzte der Haushofmeister, erwachte aus seinem Schlummer vor einigen Stunden, er blickte um sich und wollte sich aufrichten; es war ein rührender Anblick, dem armen jungen Mann fehlten die Kräfte, ich bat ihn ruhig zu sein. Wo bin ich? fragte er französisch. Ich gab ihm in der Kürze einige Auskunft, ich weiß aber nicht, ob er mich verstanden hat; er forderte zu trinken, und als ich seinen Wunsch befriedigt hatte, sank er wieder in Schlummer, wie Sie ihn noch sehen.

Es ist gut, sagte der Arzt, es ist sehr gut, indem er den Puls des Verwundeten lange mit bedächtigen Mienen untersuchte. Jetzt, alter Freund, können Sie zu Bett gehen, und wir Beide, der Herr Pfarrer und ich, wollen die Krankenwache übernehmen.

Wäre es nicht besser, wenn ich hier bliebe? fragte der Haushofmeister; der junge Mann hat sich vielleicht schon an meinen Anblick gewöhnt, auch kann ich mich ihm verständlich machen.

Meinen Sie, es könne Niemand hier französisch sprechen als Sie? sagte der Arzt empfindlich; ich spreche so gut als Sie, und kann also mich dem Kranken eben so wohl[43] verständlich machen. Diese letzten Worte fügte er als Beweis der Behauptung, die sie enthielten, französisch hinzu, indem er zugleich alles Nöthige zum Verbande des Verwundeten auf den Tisch in Ordnung legte; da er aber das Deutsche im härtesten Thüringer Dialekt sprach und diesen auch auf das Französische übertrug, so klangen seine Worte den Ohren des geboren Parisers so rauh, wie die Rede eines Wilden, und er sah den Arzt mit Erstaunen an, der so unbefangen behauptet hatte, dies sei so gutes Französisch, als nur immer er, der Pariser, zu sprechen vermöge.

Nun machen Sie, alter Mann, gehen Sie zu Bett, wiederholte der Arzt, Sie müssen durchaus einige Stunden schlafen, sonst werden Sie krank, und dann fallen Sie in meine Hände.

Diese letzte Aeußerung schien in der That Eindruck auf den Haushofmeister zu machen, denn er wollte sich stillschweigend mit einer Verbeugung aus dem Zimmer entfernen, der Pfarrer aber trat ihm in den Weg und ersuchte ihn, doch sogleich einen Boten zu schicken und den Kreisarzt aus dem nächsten Städtchen holen zu lassen; das hätten wir gleich gestern thun sollen, bemerkte er, es wurde aber in der Unruhe vergessen; es ist nöthig, daß er den Kranken sieht, der Herr Graf könnte sonst Ungelegenheiten haben. Dübois entfernte sich, um diesen Auftrag zu besorgen und[44] sich dann zur Ruhe zu begeben. Der Arzt wartete auf das Erwachen des Kranken, und der Pfarrer fing an, den Bericht an die Regierung über ihn aufzusetzen. Diese Gesellschaft wurde nach einigen Stunden durch den Kreisarzt vermehrt. Der Kranke erwachte, seine Wunden wurden von allen Dreien gemeinschaftlich untersucht und verbunden, und auf einige Fragen, die er thun wollte, wurde er von Allen gemeinschaftlich bedeutet, daß er in guten Händen sei, aber sich fürs Erste alles Sprechens enthalten müsse, wenn er sein Leben erhalten wolle. Die größte Ermattung des Verwundeten machte, daß er sich geduldig in Alles fügte, was über ihn beschlossen wurde, und die fremden Menschen, die ihn umgaben, mit ruhigem Erstaunen betrachtete.

Nach acht Uhr vermehrte der Graf die Gesellschaft; man hatte ihm die Gegenwart des fremden Arztes gemeldet; er begrüßte ihn höflich und erkundigte sich mit vieler Theilnahme nach dem Verwundeten.

Nachdem ihm die Aerzte und der Pfarrer berichtet hatten, was sich nach der ruhigen Nacht, die der Kranke gehabt hatte, Gutes hoffen ließe, näherte sich der Graf dem Bette desselben. Der junge Mann richtete seine großen dunkeln Augen auf den Grafen und schien ihn als den Herren des Hauses zu erkennen, denn er versuchte es sich empor zu richten. Der Pfarrer aber und der Doktor Lindbrecht, so[45] war der Name des Hausarztes, riefen ihm zugleich zu: er solle alle Anstrengungen unterlassen. Der Graf, der sich neben seinem Lager nieder ließ, bat ihn, indem er seine Hand faßte, ruhig zu bleiben und nicht selbst durch unnöthige Anstrengungen seine Herstellung zu verzögern. Ein schwacher, kaum merklicher Druck der Hand, womit der seinige erwiedert wurde, zeigte dem Grafen, daß ihn der Kranke verstand. Er gab ihm nun selbst Nachricht, wo er sich jetzt befände, und bat ihn, sein Haus so zu betrachten, als ob er im Hause seines Vaters wäre, und alle Hülfe und Dienste, die man ihm gerne leisten wolle, so ruhig anzunehmen, als ob er sie von seinen nächsten Angehörigen empfinge.

Trotz seiner großen Schwäche richtete der Kranke einen so rührend dankbaren Blick auf den Grafen, daß dieser sich wunderbar erweicht fühlte. Es war ihm, als ob aus den dunkeln Augen des Kranken ein theurer, geliebter Freund zu ihm aufblickte, auf dessen Namen er sich nur nicht gleich besinnen könne. Er betrachtete nachdenkend das schöne, edle, obwohl durch Krankheit entstellte Gesicht des jungen Mannes, die dunkeln Haare, die sich in weichen Locken um die hohe, kühne Stirn legten, den wohlgeformten Mund; Alles dünkte ihm so bekannt, und doch konnte seine Seele das Bild nicht finden, dem dieser Jüngling glich.

Nach einigen Augenblicken bemerkte der Graf, daß unwillkührlich[46] alle im Zimmer Anwesenden ihm nachahmten und den Verwundeten eben so ernsthaft betrachteten, wie er selbst, welches den jungen Mann zu quälen schien. Er wandte sich also an den Pfarrer mit der Bitte, ob er ihm nun behülflich sein wolle, den nöthigen Bericht an die Regierung abzufassen. Ich glaube, sagte der Pfarrer, es wird weiter nichts nöthig sein, als, was ich hier aufgesezt habe, zu unterschreiben. Mit diesen Worten reichte er dem Grafen den fertigen Aufsatz hin, der ihn durchlas und sich nicht enthalten konnte, innerlich zu bemerken, daß der Pfarrer wohl nicht in der bürgerlichen Welt auf seiner rechten Stelle stehe, und dadurch ein vortrefflicher Jurist verloren gegangen sei. Es herrschte eine Genauigkeit in diesem Aufsatze, die jedem möglichen Verdruß in der Zukunft vorbeugte, und diese Genauigkeit war mit einer bewundernswürdigen Kürze und Deutlichkeit verbunden. Die Uniform des Verwundeten war beschrieben, wodurch die Gerichte, wenn ihnen daran gelegen war, ausmitteln konnten, zu welchem feindlichen Regiment er gehöre.

Die Zeugnisse der Aerzte waren diesem Bericht beigelegt, und der Graf hatte in der That nichts weiter nöthig, als seine Unterschrift hinzuzufügen.

Mit großem Vergnügen bemerkte der Graf die Brauchbarkeit des Pfarrers, und der Gedanke ging schnell durch[47] seine Seele, ob er sich nicht an ihn in manchen Angelegenheiten wenden sollte, die er ungern gerichtlich betreiben wollte, und wo sich ihm vielleicht in der Person des Pfarrers unvermuthet ein guter Unterhändler darbot. Nur die vorschnelle Art desselben, sich in alle Gespräche zu mischen, die unbescheidene Zudringlichkeit, womit er sich über Dinge zu fragen erlaubte, die man nicht beantworten wollte, machte den Grafen irre, und er fürchtete, ein unbescheidener Frager möchte nicht mit Bescheidenheit schweigen können. Indem der Graf dieß dachte, ruhten seine Augen forschend auf dem Pfarrer, der sich diesen Blick nicht erklären konnte und sich verdrießlich nach dem Arzt umsah, den er für einen halben Narren hielt, von dem ein vernünftiger Mensch nichts erfahren könne.

Der Graf besann sich, dankte dem Pfarrer sehr höflich, unterschrieb den Bericht, sendete ihn ab und nahm sich vor, den Geistlichen genauer zu beobachten und auf eine gute Art Erkundigungen über seinen Charakter einzuziehen, um dann diesen Nachrichten und seinen Beobachtungen gemäß sein Vertrauen zu bestimmen.

Der Pfarrer sowohl, als der fremde Arzt blieben der Mittag noch auf dem Schlosse und verließen es nach der Tafel, ohne daß weiter etwas Erhebliches vorgefallen wäre. Es war natürlich, daß sich beinah alle Gespräche um die[48] Begebenheiten drehten, die alle Gemüther mit Sorgen erfüllten. Die unglückliche Schlacht bei Jena und ihre bekannten Folgen ließen befürchten, daß sich die Feinde auch über diesen Theil von Schlesien verbreiten würden; Alle glaubten, daß man es nur den engen Schluchten zu danken haben würde, die zu dem jetzigen Wohnorte des Grafen führten, wenn das Schloß von feindlichem Besuche verschont bliebe; desto mehr war für die andern Besitzungen des Grafen zu befürchten. Der Pfarrer erschöpfte sich in Vermuthungen, welche Veranlassung den französischen Offizier könnte nach einem so einsamen Orte im Walde geführt haben, wie der war, wo man den jungen verwundeten Mann gefunden hatte. Eben so war es unbegreiflich, Wer seine Gegner gewesen sein konnten, da die vielen Wunden, die er empfangen, bewiesen, daß kein Zweikampf vorgefallen war, sondern wahrscheinlich mehrere Gegner den Unglücklichen niedergehauen hatten. Da Spuren von Pferden bemerkt worden waren, so ließ sich vermuthen, daß Reiter diese Handlung verübt und nach dem Falle des jungen Mannes sein Pferd mit sich geführt hatten; denn da er selbst mit Sporen gefunden worden, so konnte man annehmen, daß auch er zu Pferde gewesen war.

Es läßt sich nicht ausmitteln, sagte der Graf, wie die Begebenheit zusammenhängt, wir müssen uns in Geduld[49] fügen, bis die Brustwunden des Kranken so weit geheilt sind, daß er selbst sprechen und uns die nöthigen Aufschlüsse geben kann. Der Pfarrer gab diese Nothwendigkeit mit einem Seufzer zu und bemerkte nur: wenn der Kranke an seinen Wunden sterben sollte, so werde man niemals den Zusammenhang erfahren. Die Gräfin wendete sich erschreckt an die Aerzte und fragte, ob sie die Wunden für so gefährlich hielten. Beide mußten es zugeben, daß hauptsächlich die große Erschöpfung den Zustand des jungen Mannes gefährlich mache, und daß man nur durch die sorgfältigste Pflege und die Jugend des Kranken eine ungewisse Hoffnung begründen könne. Die schöne Emilie in der unschuldigen Regung ihres Herzens verbarg ihr Mitleid nicht und sagte mit großer Rührung: Ach Gott, wie traurig muß es für eine Mutter oder Schwester sein, einen Sohn oder Bruder in der Blüthe der Jugend zu verlieren. Und wenn nun dieser vollends hier sterben sollte, wir wissen nicht, wer er ist; wir können seinen Angehörigen keine Nachricht geben, und sie haben nicht einmal den traurigen Trost zu erfahren, daß die Leiden seiner letzten Stunden in so weit gelindert worden sind, als es in menschlichen Kräften steht.

Die Gräfin, obgleich gewohnt, alle ihre Empfindungen zu beherrschen, konnte eine schmerzliche Theilnahme nicht verbergen, und man sah es ihr an, daß sie sich erleichtert[50] fühlte, als die Fremden das Schloß verließen. Sie äußerte, ehe sie sich auf ihr Zimmer zurückzog, den Wunsch, den alten Dübois zu sprechen, um ihm einige Aufträge zu geben, und der Graf versprach, ihn ihr zu schicken und indessen selbst bei dem Kranken zu bleiben.

Als der Haushofmeister das Zimmer seiner Gebieterin betrat, fand er sie in heftiger Bewegung mit gefalteten Händen, den thränenschweren Blick zum Himmel gerichtet, und hörte noch einige Worte eines klagenden Gebets, mit dem sie Trost und Ruhe vom Himmel herab rufen zu wollen schien. Der alte Mann stand in seiner gewöhnlichen Stellung in der Nähe der Thüre und richtete einen schüchtern-flehenden Blick auf die Gräfin, die, als sie ihn bemerkte, schnell ihre Augen trocknete, dann das Gesicht einige Minuten mit der Hand bedeckte, als wolle sie die Spuren des Schmerzes im Verborgenen von ihrem Antlitz vertilgen. Der treue Diener wartete, bis sie ihn anreden würde, und endlich näherte sie sich ihm mit erzwungener Ruhe und sagte: Ich will eine Frage an Sie thun, lieber Dubois, die mich Ueberwindung kostet. Man hörte es ihrer Stimme an, mit welcher Anstrengung sie sprach, es schien, daß ein gewaltsam zum Herzen zurückgedrängter Schmerz die Brust beklemmte, und ihr das Athmen und das Sprechen beinahe unmöglich machte. Sie schwieg einen Augenblick[51] und fuhr dann mit noch leiserer, ungewisserer Stimme fort: Haben Sie nicht an dem Verwundeten eine auffallende Aehnlichkeit bemerkt mit – sie zitterte und schwieg; ein Blick auf den alten Diener zeigte ihr, daß er sie verstand, denn seine alten Augen füllten sich mit Thränen; er faltete unwillkührlich die Hände und neigte einigemal bejahend sein graues Haupt. Der gewaltsam in die Brust der Gräfin zurückgedrängte Schmerz behauptete nun sein Recht und strömte in Thränenfluthen aus ihren Augen; die stillen Seufzer lösten sich in Klagen auf, die den Himmel der Ungerechtigkeit beschuldigten, und der erschreckte Alte wußte nicht, was er thun sollte, um diese Stürme zu beruhigen. Erschöpft sank die Gräfin endlich in einen Lehnstuhl nieder. Das Feuer ihrer Augen erlosch, die bleichen Wangen wurden noch bleicher, und die zitternden Hände, schien es, suchten ein befreundetes Wesen. Es schien, als wolle der Lebensfunken der unglücklichen Frau erlöschen, oder wenigstens eine tiefe Ohnmacht sich ihrer bemeistern.

Sie fühlte ihren Zustand und suchte ihn durch die Kraft ihrer Seele zu beherrschen, der Schmerz in ihren Zügen wurde milder, sie richtete das matte Auge auf den alten Diener, der in stummen Thränen ihr zur Seite stand. Lassen Sie uns ruhig sein, guter Dübois, sagte sie mit kranker Stimme, ich wollte Ihnen auftragen, wo möglich den Namen[52] des jungen Mannes zu erforschen, vielleicht hat er Papiere bei sich, die Auskunft geben, vielleicht – es ist Wahnsinn, Dübois, was ich hoffe, ich weiß es, und dennoch, ich bitte, thun Sie, wie ich Ihnen sage. Der Alte versprach, was die Gräfin von ihm forderte, und warf, ehe er sich entfernte, einen flüchtigen Blick in den Spiegel, um zu sehen, ob sein Gesicht und seine Haltung keine Spur des Schmerzes zeigte, den er so eben mit seiner Gebieterin getheilt hatte, und den er den Grafen nicht wollte bemerken lassen. Bitten Sie Fräulein Emilie zu mir, rief ihm die Gräfin mit matter Stimme nach.

Emilie eilte zur Gräfin. Der Haushofmeister hatte ihr gesagt, sie befände sich nicht wohl, aber Emilie bebte zurück, als sie die Gräfin erblickte, die völlig ermattet noch im Lehnstuhl saß, und deren bleiches Gesicht noch feucht von Thränen war, die ihren Augen unwillkührlich immer wieder von Neuem entströmten. Komm zu mir, liebe Emilie, sagte die Gräfin, Du mußt Geduld mit mir haben, Du sanftes Kind, ich plage Dich mehr, als ich mir selbst verzeihe.

Was ist Ihnen begegnet, fragte Emilie mit ängstlicher Stimme, das Sie so erschüttert haben kann? Soll ich den Onkel rufen? Soll man den Arzt kommen lassen?

Nein, mein Kind, sagte die Gräfin matt aber bestimmt,[53] ich will den Grafen nicht durch meinen Zustand beunruhigen, und der Arzt kann mir nicht helfen.

O! wüßte ich ein Mittel, sagte Emilie, indem sie die Hand der Gräfin weinend küßte, wodurch Ihre Gesundheit und Ihre Ruhe hergestellt werden könnten.

Befremdet sah die Gräfin ihre junge Freundin an, die erröthend die Augen niedersenkte und durch ihre Verlegenheit verrieth, daß sie aus Liebe und Mitleid sich übereilt, und mehr gesagt hatte, als sie sich erlauben wollte. Weßhalb glaubst Du, daß mir Ruhe des Herzens mangelt? fragte die Gräfin nach kurzem Stillschweigen.

Emilie war zu wahr, als daß sie sich nun durch halbe Antworten hätte aus der Verlegenheit ziehen können; auch war die Gräfin zu klug, als daß sie sich anders als scheinbar durch solche Antworten würde haben befriedigen lassen, und Emilie wäre in Gefahr gerathen, Achtung und Vertrauen ihrer Tante völlig zu verlieren, und als eine Auskundschafterin der Handlungen und der Gedanken derselben betrachtet zu werden; sie entschloß sich also offenherzig zu antworten, wenn sie auch die Gräfin dadurch kränken sollte. Warum antwortest Du mir nicht, fragte diese ein wenig ungeduldig ihre junge Freundin, die noch von Röthe überzogen, verlegen, mit niedergeschlagenen Augen vor ihr stand.

Weil ich Sie kränken müßte, wollte ich diese Frage beantworten,[54] die meine Unbesonnenheit veranlaßt hat, sagte Emilie, indem sie die schönen blauen Augen freimüthig auf die Gräfin richtete.

Sprich aufrichtig mit mir, sagte diese in mildem Tone und doch halb mißtrauisch erwartend, welche Erklärung nun folgen würde.

Sie sind so weit erhaben, sagte Emilie, über Eitelkeiten und ähnliche kleinliche Leidenschaften, die manchen Frauen eine ungleiche Laune geben, Ihr Geist ist zu gebildet, als daß Sie aus Eigensinn eine solche haben könnten, und dennoch – Emilie schwieg zögernd, – Und dennoch? fragte die Gräfin, ich bitte Dich fahre freimüthig fort.

Ich muß es, sagte Emilie, nachdem unser Gespräch diese Wendung genommen hat; Sie haben mir so viele Güte bewiesen, daß Sie mich zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet haben, und ich bin in Gefahr, daß sie mich nun als undankbar verabscheuen werden.

Nein, nein, sagte die Gräfin, sprich ohne Zögerung und weitere Einleitung.

Bei der Güte Ihres edeln Herzens, bei der Großmuth Ihrer Seele, sagte Emilie, können Sie dennoch in der Laune, die Sie eben beherrscht, mich oft so schmerzlich verwunden, mit so kränkend wegwerfender Bitterkeit in manchen Stimmungen meine Fehler rügen.[55]

Glaubst Du, fragte die Gräfin mit erzwungenem Lächeln, daß Du niemals Tadel verdienst?

Ich bin so thöricht nicht, erwiederte Emilie sanft, aber thue ich meiner mütterlichen Freundin Unrecht, wenn ich glaube, es würde Güte und Liebe mir die Bahn zeigen, die ich zu wandeln habe, und nicht Bitterkeit und kränkender Spott, wenn Ihr Herz die schöne Ruhe empfände, die Sie so sehr verdienen? Würden Sie bei der Großmuth Ihrer Seele mit solcher Verachtung von der Armuth sprechen, wie Ihre Laune es Ihnen oft gebietet, gegen das hülflose Geschöpf, das einzig von Ihrer Freigebigkeit lebt, und das Sie dadurch oft zwingen, die Nahrung, die es Ihrer Güte verdankt, mit seinen Thränen zu benetzen? Kann diese Bitterkeit, diese Heftigkeit, der Stolz und die Verachtung wohl eine andere Ursache haben, als daß Ihr Herz an verborgenen Qualen leidet, Ihrer Seele der Frieden fehlt, den ich für Sie so oft mit Thränen vom Himmel erbeten habe?

Emilie schwieg erschrocken und erstaunt über ihre Dreistigkeit, die sie sich selbst nicht zugetraut hatte. Die Gräfin hatte die Augen ernst auf ihre junge Freundin geheftet, indeß sie sprach, doch löste sich dieser Ernst bald in Liebe und Güte auf. Du hast Recht, Emilie, sagte sie, ich habe Dir Unrecht gethan, schuldlos bist Du oft von mir geplagt und gekränkt worden, und Deine Sanftmuth hat mir immer mit[56] Liebe erwiedert. Du hast Recht, diese Ungerechtigkeit entspringt aus einer gequälten Seele, aus einem von tausend Qualen zerrissenen Herzen; aus Erinnerungen an Leiden, die ich nicht vertilgen kann und nicht mit theilen will. Vergieb mir, Emilie, daß ich Dir wehe gethan habe, und statt ein Kind, das ich mir zu plagen erlaubt habe, wirst Du mir künftig eine Freundin sein, an deren Brust ich über meinen Kummer weinen kann; nur frage mich nie um diesen Kummer.

Sie breitete, indem sie dieß sprach, ihre Arme aus und drückte Emilie mit Liebe an die Brust, die ihre Umarmung mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit erwiederte.

Nach diesen Erklärungen bat die Gräfin ihre junge Freundin, sie einige Zeit allein zu lassen, daß sie sich zu sammeln vermöchte, und Emilie war verwundert, als nach einer Stunde die Gräfin im Gesellschaftszimmer zur Theezeit erschien, zwar noch blaß und matt, aber im Aeußern vollkommen ruhig. Sie nahm an allen Gesprächen Antheil, und sprach mit Geist und Feuer über Musik und Poesie, als die Unterhaltung sich dahin lenkte, und bat zuletzt Emilie, viele ihrer Lieblingslieder zu singen, wozu der Graf bereit war zu accompagniren, so daß der Abend viel heiterer zugebracht wurde, als sich nach einem so stürmischen Tage erwarten ließ.[57]

Quelle:
Sophie Bernhardi: Evremont. Theil 1, Breslau 1836, S. 42-58.
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