IX

[123] Der Graf hatte den Schlüssel des Archivs sowohl, als eine Rolle mit hundert Dukaten an Dübois abgegeben, um sie dem Pfarrer sogleich beim Eintritte in das Schloß einzuhändigen, und der Haushofmeister saß deßwegen des andern Morgens am Fenster und wartete auf die Ankunft des Geistlichen, um seinen Auftrag auszurichten. Es war noch nich neun Uhr, als die kleine, leichte, aber nichts weniger als zierliche Equipage desselben in den Hof rollte, und er selbst mit der Pfeife im Munde abstieg und verdrießlich durch das offene Thor auf den Weg hinausschaute. Er hatte nicht lange wartend gestanden, als dieselbe Equipage, worin Herr Lorenz den Pfarrer vor einiger Zeit besucht hatte, durch dasselbe lahme Pferd auf den Hof geschleppt wurde, gegen welche der Wagen des Geistlichen ein prächtiges Ansehen gewann, als nun beide neben einander hielten.

Indeß Lorenz die Schnüre auflöste und so die Thüre seines Wagens öffnete, hatte sich Dübois dem Pfarrer genäherte und ihm Geld und Schlüssel, seinem Auftrag, gemäß,[123] eingehändigt; dieser steckte beides ein und befahl dann mit lauter Stimme, seine Pferde abzuspannen und sie nach dem Stall zu führen, dagegen ermahnte Lorenz den Bauer, der ihm zum Kutscher diente, sich bereit zu halten, damit er nach wenigen Augenblicken wieder fahren könne. Wir wollen eine halbe Stunde von hier füttern, setzte er mit leiser Stimme hinzu, dort ist eine gute Schenke, wo wir uns auch selbst eine Güte anthun können. Der Bauer war es gern zufrieden. Des Pfarrers Pferde waren abgespannt, und dieser rief nun dem alten Lorenz zu, er solle kommen und sein Versprechen erfüllen.

Beide stiegen nun die große Treppe hinauf, der Pfarrer mit einem Ausdruck von Verachtung gegen Lorenz im Gesicht, und dieser mit Seufzern, die ihm die Erinnerung erpreßte, wie er sonst dieß Schloß beinah als sein Eigenthum betrachtet hatte; die glänzenden Tage gingen schnell vor den Augen seines Geistes vorüber, wo sonst zuweilen der Pfarrer als sein Gast auf dieser Treppe von ihm war bewillkommnet worden, dem er nun so demüthig und mit so bösem Gewissen folgte. Sie hatten das Archiv erreicht, und der Geistliche war mit dem ehemaligen Kastellan eingetreten, nachdem er die Thüre geöffnet hatte. Lorenz blickte ihn befremdet an und sagte: »Ich hatte mir ausgemacht, hier allein und ungestört zu suchen.« Der Pfarrer verschloß[124] gleichgültig von innen die Thür, steckte den Schlüssel zu sich und sagte dann sehr gelassen: meine Gegenwart wird Sie nicht stören, ich werde hier ruhig am Tische sitzen bleiben und das versprochene Geld aufzählen, damit Sie es gleich in Empfang nehmen können, sobald Sie mir die Urkunde einhändigen. Er fing dies Geschäft auch sogleich an, und die hundert Dukaten waren aufgezählt, ehe Lorenz noch wußte, was er thun sollte, ob er auf die Entfernung des Geistlichen dringen oder in dessen Gegenwart seine Schelmerei ausüben solle. Der Glanz des Goldes, der ihm in die Augen leuchtete, bestimmte ihn zu letzterem, und er näherte sich entschlossenen Schrittes den Schränken, worin die Urkunden aufbewahrt wurden, aber eine neue Verlegenheit machte, daß er gedankenvoll stehen blieb; er sah die Schränke aufgeräumt, alle Schriften darin in der besten Ordnung, er begriff nicht, wie er den Schein retten sollte, und sah auch keine Möglichkeit sich zurückzuziehen, ohne vorher sein Versprechen erfüllt zu haben. Ein Blick auf das funkelnde Gold, das eben recht in den Sonnenstrahlen glänzte, die durch ein hohes Fenster grade auf den Tisch fielen, gab ihm neuen Muth, und er näherte sich herzhafter einem der Schränke. Der Pfarrer bewachte mit den Augen alle seine Bewegungen. Lorenz blätterte ein wenig in den Papieren, hob einige Pergamente auf und legte sie wieder nieder, trat[125] dann ein wenig von dem Schranke zurück, und sagte mit gepreßter Stimme: Ei, was liegt denn hier? Er bückte sich tief auf den Boden, und der Pfarrer sah deutlich, wie er ungeschickt mit zitternden Händen die Urkunde aus dem Busen zog und dann that, als habe er sie zwischen dem Schranke und der Wand hervorgezogen. Was finde ich hier? rief er mit erleichterter Brust und reichte dem Pfarrer, der zu ihm getreten war, die Schrift hin.

Der Geistliche nahm schweigend das Dokument, um es schnell durchzusehen, ob es das Gesuchte und ob es auch vollständig sei. Lorenz hatte sich nun völlig gefaßt und sagte in seinem gewöhnlichen, heuchlerischen Tone: Gott sei gedankt, der mich das Gesuchte hat finden lassen und nicht hat zugeben wollen, daß der Name eines alten, redlichen Dieners der Verläumdung Preis gegeben würde. Er vergebe denen, die leichtsinnig ihre Augen nicht gehörig brauchen, und wenn sie dann nicht finden, was sie suchen, redliche Greise verlästern.

Der Pfarrer hatte sich während dieser Rede vollkommen überzeugt, daß er die Schrift in seinen Händen hielt, an deren Besitz dem Grafen so viel liegen mußte; er faltete sie zusammen, steckte sie in den Busen, und nachdem er den Rock sorgfältig zugeknöpft hatte, sah er dem alten Sünder[126] mit Zorn und Verachtung in die Augen, der diesen Blick nicht ertragen konnte, sondern schüchtern vor sich nieder blickte. Glauben Sie, hub der Geistliche nach einem augenblicklichen Stillschweigen an, daß ich so blödsinnig bin, mich von Ihnen täuschen zu lassen? Glauben Sie, daß ich nicht gesehen habe, wie Sie die Urkunde aus dem Busen zogen, die sie mich nun bereden wollen, hier gefunden zu haben? Hätten sie nicht verdient, daß der Graf Sie für Ihren schändlichen Diebstahl den Gerichten überlieferte und Sie der öffentlichen Schande Preis gäbe? Können Sie es vor Gott verantworten, daß Sie einen Herren zu Grunde richten wollten, dessen Brod sie funfzig Jahre gegessen haben, auf dessen Kosten Sie sich verheirathet und Ihre Kinder erzogen haben, und der trotz Ihrer Schlechtigkeit Erbarmen mit Ihrem Alter hat und Sie weder der Schande, noch dem Mangel Preis geben will? Denken Sie nicht daran, alter Sünder, daß Ihr grauer Scheitel bald von der Erde bedeckt im Grabe ruhen wird, daß Sie dann vor Gott stehen und Rechenschaft von Ihrem Sünderleben geben müssen?

Herr Pfarrer, stammelte der ehemalige Kastellan, wollen Sie mir Ihr Wort brechen, wollen Sie mich zu Grunde richten?

Nein, elender Mensch, rief der Pfarrer mit großer Verachtung, nehmen Sie Ihr durch Diebstahl und Betrug[127] gewonnenes Gold und eilen Sie, Sich aus dem Hause zu entfernen, dessen Bewohnern Sie so vielen Dank schuldig sind und so schändlichen Undank gezeigt haben. Der Geistliche öffnete die Thüre, indem er diese Worte sagte. Lorenz raffte mit gierigen und doch vor Furcht zitternden Händen das Gold zusammen, und war so eilig, sich zu entfernen, daß er Hut und Stock vergaß, und der Pfarrer ihm beides durch einen Bedienten nachschicken mußte.

Fahre nur so schnell Du kannst, flüsterte Lorenz dem Bauern zu, indem er die Thüre seines Wagens zuband, nach der Schenke, nach Krumbach, ich bin ganz schwach geworden und brauche eine Stärkung. Der Bauer war gern dazu bereit, und so schnell das lahme Pferd es vermochte, verließ der ehemalige Kastellan das Schloß, mit dem Vorsatze, es nie wieder zu betreten.

Der Arzt hatte den Morgen seinen Kranken besucht und ihn zwar ohne Fieber, aber äußerst mißmüthig und niedergeschlagen gefunden; er gab sich Mühe ihn zu zerstreuen und sing an ihm Mancherlei aus seinem Leben, von seinen wunderbaren Schicksalen zu erzählen. St. Julien achtete aber nicht darauf; er erbot sich, dem verwundeten Officier die merkwürdige Krankengeschichte eines Schneiders vorzulesen, die in der neuesten medicinischen Zeitschrift enthalten sei, und war erstaunt, als sich St. Julien diese Unterhaltung ziemlich[128] trocken verbat. Er griff zu seinem lezten Hülfsmittel und bot ihm an, eine Partie Schach mit ihm zu spielen, aber auch dieser Versuch mißglückte, denn der junge Mann versicherte, er habe nicht die mindeste Lust zum Spielen. Was soll ich denn aber dann mit Ihnen anfangen? sagte der Arzt, Sie werden mir meine ganze Kur verderben mit Ihrer Schwermuth. Ueberlassen Sie mich meinem Schicksal, sagte der Kranke verdrüßlich. Das geht nicht, rief der Arzt, das wäre gegen meine Pflicht; ich muß Alles thun, um Sie wieder herzustellen, und Sie hindern durch Ihre Traurigkeit die Genesung. Ich bin nicht traurig, versicherte St. Julien mit einem tiefen Seufzer, ich fühle mich nur schwach, und wünsche Ruhe und Einsamkeit.

Nachdem der Arzt noch einige Versuche gemacht hatte, den Kranken auf seine Weise zu erheitern, die sämmtlich mißglückt waren, mußte er ihn endlich, wie er sagte, seinem Eigensinne überlassen, weil er noch andere Kranke zu besuchen habe, denen er seinen Beistand auch nicht entziehen dürfe. Kaum hatte er das Zimmer verlassen, so fragte St. Julien den Haushofmeister mit einiger Heftigkeit, ob er dem Grafen schon den Brief an seine Mutter eingehändigt, und ob dieser ihn zu besorgen versprochen habe.

Ich habe den Grafen seit gestern Abend noch nicht wiedergesehen, antwortete Dübois, und kann ihn auch jetzt nicht[129] sprechen, da er sich mit dem Herrn Pfarrer in sein Kabinet verschlossen hat; aber verlassen Sie sich darauf, ich werde ihm noch vor Tische Ihr Schreiben übergeben. St. Julien mußte mit dieser Antwort zufrieden sein, und Dübois sah es mit Betrübniß, daß er sich in düstere Träumereien versenkte. Er versuchte es einige Male eine Unterhaltung mit dem Kranken anzuknüpfen; da dieser aber jedesmal kurz und einsylbig antwortete, so überließ er ihn endlich seiner düstern Laune und ging, um im Vorzimmer des Grafen zu warten, damit er diesem, sobald seine Geschäfte mit dem Geistlichen beendigt wären, den Brief überreichen könne, an dessen Absendung dem jungen Manne so viel zu liegen schien.

Der Graf hatte die Urkunde aus den Händen des Pfarrers erhalten, und da dieser selbst so viel Freude darüber zeigte, das Geschäft glücklich beendigt zu sehen und den Grafen von dieser Sorge befreit zu haben, so gewann er in den Augen desselben durch eine so freundschaftliche Gesinnung mehr, als er durch seine kurze und unhöfliche Art zu schreiben verloren hatte, und der Graf beschloß von Neuem die guten Eigenschaften des Pfarrers gehörig zu würdigen, ohne sich durch die unangenehme Art, wie sie sich zu erkennen gaben, stören zu lassen. Er entschloß sich also, ihm zu vertrauen und seinen Beistand in dieser Sache ferner zu erbitten. Er theilte ihm den Wunsch mit, die Familien-Verhältnisse[130] des Verwandten, der sich zu so unwürdigen Schritten hatte verleiten lassen, genauer zu kennen, um beurtheilen zu können, ob eigene Bedrängniß ihn verleitet habe, oder ob er bloß durch Habsucht bestimmt worden sei. Im letzteren Falle, schloß der Graf, habe ich den Vorsatz, jedes Verhältniß mit ihm zu vermeiden, im ersteren aber erlaubt mir meine eigene Lage, da ich keine Kinder habe, Manches zu thun, was uns näher bringen und vielleicht uns beide beruhigen würde.

Es war dem Pfarrer nicht entgangen, daß der Graf seufzend die Bemerkung gemacht hatte, daß er keine Kinder habe, und er glaubte seine Vermuthung bestätigt zu finden, daß er mit seiner Gemahlin nicht vollkommen glücklich lebte. Er versprach aber seinen Beistand von ganzem Herzen und verpflichtete sich ihm, in Kurzem genaue Nachrichten über die Lage seines Verwandten zu verschaffen. Es konnte dieser Auftrag dem Pfarrer nicht anders, als höchst willkommen sein, denn bei seiner Neigung, aller Menschen Angelegenheiten zu erforschen, störte ihn oft der Vorwurf seines eigenen Gewissens, und er konnte sich nicht abläugnen, daß eine solche Neugierde eines Geistlichen völlig unwürdig sei, also war es ihm alle Mal eine große Beruhigung, wenn er seiner Neigung folgend, sich zugleich sagen durfte, daß er aus Menschenliebe handle, daß er durch seine Nachforschungen Frieden stiften, kurz, etwas Löbliches erreichen wolle. Beide verließen also,[131] sehr mit einander zufrieden, das Kabinet des Grafen und fanden, als sie sich nach dem Gesellschaftszimmer begeben wollten, im Vorgemache Dübois wartend, der mit seiner gewöhnlichen Ehrerbietung dem Grafen St. Juliens Brief reichte und ihn mit dem dringenden Wunsche des jungen Mannes bekannt machte. Der Graf faltete ein wenig verdrüßlich die Stirn und sagte: Ich werde den Brief nachher lesen, weil es Herr St. Julien wünscht, und dann ihn selbst darüber sprechen.

Der Pfarrer äußerte den Wunsch, den Kranken zu besuchen. Dübois machte ihn aber mit dessen trauriger Stimmung bekannt, die ihn den Wunsch hatte äußern lassen, allein und ungestört zu bleiben. Der Geistliche gab also für dießmal seinen Vorsatz auf und verfügte sich zum Arzt, um zu erfahren, ob dieser nichts von dem Kranken erforscht habe, das Licht geben könne über seine schreckliche Mißhandlung an der einsamen Stelle im Walde, wo man ihn gefunden hatte. Er verlor aber seine Zeit mit dem Arzte, denn dieser wußte ihm nichts mitzutheilen, als Krankengeschichten, die wenig Reiz für den Pfarrer hatten, und Klagen über St. Juliens eigensinnige Schwermuth, die dem Arzte tausend Besorgnisse erregte.

Unter solchen unerfreulichen Gesprächen waren die Stunden verflossen, und die Gesellschaft versammelte sich im Speisesaale[132] zur Mittagstafel. Wie es natürlich war in einer so verhängnißvollen Zeit, wendete sich das Gespräch bald auf die Begebenheiten des Tages. Verschiedene Meinungen wurden aufgestellt, manche Befürchtniß und manche Hoffnung ausgesprochen, Alle aber mußten sich darin vereinigen, daß die einzige Hoffnung, die man sich vernünftiger Weise erlauben dürfte, auf den Beistand der Russen gegründet sei. Was wird nun der alte Obrist Thalheim sagen, rief der Pfarrer, wenn er sieht, wie alle seine Behauptungen zu Schanden werden. Wie viel tausendmal hat er versichert, daß die französische Macht an der Preußischen scheitern werde; daß der Geist des großen Friedrichs noch in der Armee herrsche und sie unüberwindlich mache. Zwar er wird sich jetzt wohl wenig um die Festungen kümmern, die den Franzosen übergeben werden, da ihm übermorgen selbst Alles abgenommen wird, was er etwa noch besitzt.

Thalheim? fragte der Graf nachdenkend, der Name ist mir so bekannt, und ich kann mich doch nicht gleich erinnern, auf welche Weise.

Er selbst, erwiederte der Pfarrer, hat es früher oft erzählt, daß er ein Freund Ihres Herren Vaters gewesen sei. Ich erinnere mich, rief der Graf, bei dem Regiment, das in meiner Jugend in dieser Gegend in Garnison stand, diente ein Major Thalheim, der oft und lange ein Gast meines[133] Vaters war, und beide lebten auf einem sehr vertraulichen Fuße mit einander, sollte es derselbe sein? Gewiß, antwortete der Pfarrer, er hat es nachher bis zum Obristen gebracht und dann seinen Abschied genommen.

Und ist er in so bedrängten Umständen? fragte die Gräfin.

Er ist ganz zu Grunde gerichtet, erwiederte der Pfarrer, er soll ehedem ein artiges Vermögen gehabt haben, auch hatte er, da er sehr lange gedient hat, eine Pension, aber erstens hat er sich sehr spät, man kann sagen im hohen Alter, verheirathet, natürlich hat ihn die Frau nicht aus Liebe gewählt, er dagegen soll sie ganz thöricht geliebt haben; also hat er Alles gethan, was sie wollte, das hat ihm viel gekostet; dann bestand sein Vermögen in baarem Gelde, das hat er bei verschiedenen Handlungshäusern, die nach einander fielen, verloren; endlich wurde er Wittwer und besaß beinah nichts, als eine unmündige Tochter; nun kam er auf den traurigen Gedanken, ein kleines Gut, eigentlich einen Meierhof, zu pachten und verstand nichts von der Wirthschaft, doch ging es so lange, als er zuzusetzen hatte, nun ist er den Pachtzins schuldig geblieben, und das Gut ist ihm abgenommen, und wenn er übermorgen nicht bezahlt, so wird ihm das Wenige, was er an Mobilien besitzt, verkauft. Der Verwalter war gestern bei mir, der entweder das Geld empfangen oder ihm Alles, was er hat, abnehmen soll.[134]

Mein Gott, das ist eine entsetzliche Lage, sagte die Gräfin, indem sie den Grafen ansah.

Hat denn Niemand Mitleid mit dem alten unglücklichen Manne, sagte Emilie, indem sie die Augen bittend zum Grafen aufhob.

Ich glaube schwerlich, daß sich Jemand seiner annehmen wird, bemerkte der Pfarrer, vorschießen kann ihm Niemand, denn bei den jetzigen traurigen Zeiten wird ihm die Pension nicht ausgezahlt, die er früher hatte, wovon soll er also wieder bezahlen, da er sonst gar nichts hat?

Desto schrecklicher muß ja aber der Mangel sein, mit dem er kämpft, erwiederte die Gräfin.

Gewiß, antwortete der Pfarrer, aber gewisser Maßen hat er es sich auch selbst zugezogen, daß sich Niemand um ihn kümmert, denn je ärmer er wurde, je stolzer wurde er auch; je mehr er verlor, je mehr zog er sich von den Menschen zurück und wies jeden Rath ab, wurde durch jede freundschaftliche Bemerkung beleidigt, Wer soll ihm also nun helfen, da er Niemandem vertraut hat?

Es ist wunderbar, sagte der Graf nachdenkend, daß nichts in der Welt so selten angetroffen wird, als Vertrauen, wahres uneingeschränktes Vertrauen, selbst unter den edelsten Menschen, und am Seltensten, fügte er nach einer kleinen Pause hinzu, das Vertrauen, das dem Freunde die[135] Zerrüttung unseres Vermögens zeigen möchte. Jeder Mensch schämt sich der Armuth, und verbirgt kein Gebrechen so ängstlich und sorgfältig als dieß, so lange es irgend in seinen Kräften steht.

Die Wangen der Gräfin hatten sich auffallend geröthet, als der Graf über Mangel an Vertrauen selbst zwischen edeln Menschen klagte, und diese Röthe war dem beobachtenden Geistlichen nicht entgangen. Sie richtete einen durchdringenden Blick auf den Grafen, der aber von diesem nicht bemerkt wurde, und sie wurde wieder ruhig, da es sich deutlich erkennen ließ, daß der Graf diese Bemerkung ohne Nebenabsicht gemacht hatte, und es sich besonders aus dem Schlusse seiner Rede ergab, daß ihn bloß die Lage des Obristen Thalheim in diesem Augenblicke beschäftigte.

Ich glaube, sagte sie endlich, daß sich nichts so leicht erklären läßt, als das Gefühl der Scheu, womit ein Mensch dem andern seinen Mangel verbirgt.

Ja wohl, rief der Pfarrer mit seiner gewöhnlichen vorschnellen Art, es ist eine erbärmliche Eitelkeit, für reich angesehen sein zu wollen. Ich glaube nicht, daß dieß der Grund ist, erwiederte die Gräfin, sondern vielmehr die Einbildung derer, an die man sich wenden könnte, denn natürlich kann sich der Mangel Leidende nur an Wohlhabende wenden, und die werden alle Mal ihren glücklichen Zustand als[136] die Folge ihrer Klugheit, ihres Fleißes oder ihrer Ordnung betrachten, und werden immer annehmen, daß ihrem leidenden Bruder eine dieser Eigenschaften oder auch alle fehlen.

Das ist aber auch gewöhnlich der Fall, fiel der Geistliche ein.

Sie beweisen die Richtigkeit meiner Bemerkung, sagte die Gräfin lächelnd. Aus dieser Ansicht folgt nun ganz natürlich, daß sich jeder Wohlhabende für klüger hält, als der Nothleidende ist, folglich mit der Hülfe, die er ihm leistet, zugleich eine gewisse Vormundschaft übernimmt und von dem, der seine Hülfe empfängt, fordert, er solle mit seinen Augen sehen, aus seinem Herzen fühlen und nach seiner Leitung handeln. Sagen Sie selbst, kann es für einen Menschen etwas Schmerzlicheres geben, als wenn er die Hülfe seiner Freunde so theuer erkaufen muß, daß er gezwungen ist, seine Einsicht, seinen Willen, seine Gefühle, seine Selbstständigkeit aufzugeben, und können Sie sich wundern, daß Jeder diesen traurigen Zustand so lange als möglich vermeidet? Könnten wie uns entschließen, mit den Augen unserer nothleidenden Freunde zu sehen, uns in ihre Lage zu versetzen, und unsere Hülfe ihnen nach ihrer Neigung und Einsicht zu gewähren, so daß wir ihnen nur die Schwierigkeiten aus dem Wege räumen hülfen, die sie hindern, sich frei in ihrer eignen Bahn zu bewegen, statt daß wir ihnen jetzt höchstens[137] unter der Bedingung Beistand leisten, daß wir sie in die unsrige hinüber zwingen, dann, glaube ich, würde weder Vertrauen, noch Dankbarkeit in der Welt so selten angetroffen werden.

Der Geistliche verstand die Gräfin nicht recht, und machte nun bei sich aus, daß sie eine Neigung zur Schwärmerei habe. Dieß Wort war ihm ein Trost, denn Alles, was seiner Denkungsweise fremd war, was er nicht verstand, oder was ihm zuwider war, bezeichnete er mit diesem Ausdrucke und betrachtete es als eine Art von Selenkrankheit. Er endigte also das Gespräch von Wohlthätigkeit, indem er sich an den Grafen wendete und sagte: es fällt mir eben ein, da wir heute über Ihre Verwandten sprechen, Ihr Vetter, der junge Graf Hohenthal, stand hier in der Nähe mit seiner Eskadron vor dem Ausbruche des Krieges, der ritt täglich zum alten Obristen, und beide schlugen die Franzosen wohl tausend Mal in Gedanken; die böse Welt sagte aber, fügte er lächelnd hinzu, daß der junge Rittmeister mehr um des schönen Fräuleins, als um des alten Obristen Willen so oft den Weg machte. – Ich glaube, der Rittmeister ist der einzige Sohn seines Vaters? fragte der Graf.

Ich weiß es nicht, sagte der Pfarrer lachend, aber daß Sie es nicht wissen, setzt mich in Verwunderung.

Ich bin seit mehr als zwanzig Jahren, erwiederte der[138] Graf, wenig mit meiner Familie in Verbindung gewesen, und natürlich können in einem solchen Zeitraume manche Mitglieder geboren sein, von denen ich nichts erfahren habe.

Die Tafel wurde aufgehoben und dem Pfarrer gemeldet, daß seine Pferde angespannt seien, so wie er befohlen habe; er verließ also das Schloß, nachdem er dem Grafen noch einmal versprochen hatte, ihm in kurzer Zeit alle Nachrichten über seine Verwandten zu verschaffen, die ihm wichtig scheinen könnten. Der Graf las nun noch einmal St. Juliens Brief und verfügte sich dann zu ihm, um, wie er versprochen hatte, selbst mit ihm über diese Angelegenheit zu sprechen.

Er fand den jungen Mann noch in der schwermüthigen Stimmung, die sich seiner seit dem Augenblick bemeistert hatte, als ihm der Graf erklärt hatte, er müsse sich als Gefangener betrachten; er hatte beschlossen, dieß im strengsten Sinne zu thun und sein Zimmer so wenig als möglich zu verlassen, und bekämpfte mit Schmerz die Sehnsucht, die sich ihm im Herzen regte, die Gräfin und Emilie wieder zu sehen. In seiner trüben Laune bemühte er sich, Alles feindlich auszulegen, und so glaubte er, der Graf wolle ihn von den Frauen abhalten und habe ihn deßhalb in ihrer Gegenwart mit solcher Kälte behandelt. In dieser trübseligen Stimmung beantwortete er die Frage nach seinem Befinden,[139] die der Graf an ihn richtete, so kurz und trocken, als es nur immer die Höflichkeit erlaubte; der Graf aber ließ sich dadurch nicht abschrecken, sondern sagte im väterlich milden Ton, indem er seine Hand faßte und sie wohlwollend drückte: Sie sind verstimmt und ich trage die Schuld Ihrer bösen Laune, ich habe sie verlezt, indem ich Sie mit Ihrer Lage bekannt machte, ohne die Schonung zu haben, Ihnen zu erklären, wodurch ich gezwungen bin zu fordern, daß Sie das Schloß nicht ohne meine Einwilligung verlassen wollen.

So trübe St. Julien auch gewesen war, so fest er sich eingebildet hatte, er sei vom Grafen gekränkt, beleidigt, erniedrigt worden, so schmolzen doch alle diese Empfindungen in wenigen Augenblicken hinweg, und der väterlich milde Ton der Stimme des Grafen rührte sein Herz, die Güte, womit dieser sich selbst Unrecht gab, beschämte den jungen Mann, und er erröthete über seine eigene Undankbarkeit. Ich hätte Sie daran erinnern sollen, fuhr der Graf fort, daß in diesen traurigen Zeiten des Krieges man oft selbst Schwierigkeiten findet, einander kleine Dienste zu leisten; ich hätte Sie nach den erlassenen Verordnungen eigentlich als Kriegsgefangenen nach einer Stadt senden müssen, in der sich eine bedeutende Besatzung befindet; Ihr Zustand erlaubte keine Reise, und ich erhielt die Erlaubniß für Ihre Genesung zu sorgen nur dadurch, daß ich mich verflichtete, Sie, so[140] bald es gefordert würde und Ihre Kräfte es erlauben, vor die Behörde zu stellen, die ein Recht haben würde, es zu verlangen. Seitdem hat sich die Lage der Dinge geändert, damit hätte ich Sie bekannt machen müssen; das Land ist in den Händen der Franzosen; ich muß erwarten, daß ich eben so wenig von ihrem Besuch verschont bleiben werde, als Andere, und es ist natürlich, daß Ihre Freunde und Kameraden Sie auffordern wer den, ihren Fahnen zu folgen; ich habe keine Macht es zu hindern, wenn Ihre Ehre Sie hier nicht fesselt, und könnte also in dem Fall, wenn Sie mit den Franzosen zögen, mein Wort nicht lösen. Wie nachtheilig dieß in der Folge für mich sein würde, werden Sie einsehen, wenn ich Ihnen sage, daß schon jetzt unsinnige Gespräche entstehen, als ob ich mit den Feinden des Landes in Verbindung stände, und daß Sie als der Unterhändler bezeichnet werden. Meine Ehre fordert also, daß Sie mich für jezt nicht verlassen, und darum verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen in dem Augenblicke so unfreundlich diese Verbindlichkeit auflegte, wo ich mich selbst durch manche trübe Nachrichten verstimmt fühlte.

St. Julien sah erst jezt den ganzen Umfang der Verbindlichkeiten ein, die er gegen den Grafen hatte; tief beschämt durch sein eigenes Unrecht und doch auch zugleich erleichtert im Herzen, blickte er erröthend zum Grafen auf und[141] sagte: Ich habe mich betragen wie ein unverständiger Knabe, ich fühle erst jetzt Ihre großmüthige Schonung, mit der Sie mich über alles Harte meiner Lage hinweg gehoben haben, und ich Thor gebe aus gekränkter Eitelkeit der übeln Laune Raum, wenn so ernsthafte Sorgen Ihr Herz bewegen.

Sie sind gegen sich selbst viel zu hart, sagte der Graf lächelnd. Ich weiß nicht, rief St. Julien, welch ein Gefühl Ihre Schonung und Milde würdig erwiedern könnte.

Vertrauen, sagte der Graf, wahres freundschaftliches Vertrauen ist der schönste Beweis, daß unsere Freundschaft erkannt wird; darum beziehen Sie es nicht auf Sich, wenn Sie meine Stirn zuweilen finster sehen, und lassen Sie nicht solche Briefe schreiben, setzte er lächelnd hinzu, indem er ihm den Brief reichte, den St. Julien erröthend zurücknahm, die nichts weiter beweisen, als daß Sie mich mißverstanden haben. Ich sehe ein, fuhr er ernsthaft fort, daß Sie herzlich wünschen müssen, Ihrer Mutter Nachrichten von sich zu geben, aber Sie werden nun auch einsehen, daß ich es nicht unternehmen kann, in diesem Augenblicke Briefe nach Frankreich zu befördern. Ich fürchte aber, Sie werden bald Gelegenheit durch Ihre Landsleute finden.

Vergeben Sie mir mein thörichtes Betragen, sagte St. Julien, und ich will mich gern in alles Uebrige finden.[142]

Beweisen Sie mir, daß Sie es aufrichtig bereuen, sagte der Graf gütig lächelnd, und lassen Sie mich wie einen Vater für Sie sorgen, ohne daß Sie sich meinen Einrichtungen wiedersetzen.

Welch ein Glück wäre es für mich, sagte St. Julien mit Thränen, wenn ich einen solchen Vater hätte, der meine Jugend leitete.

Und welch ein Glück wäre es, einen Sohn zu haben, wie Dich, sagte der Graf, indem die Empfindung ihn überwältigte und eine Thräne in seinem Auge schimmerte.

Lassen Sie uns nun Beide vernünftig sein, setzte er nach einigen Augenblicken hinzu, und zeigen Sie mir, daß Ihre Empfindung für mich Ihnen Ernst ist. Sie haben von Ihrer Mutter eine Summe Geldes verlangt, es ist aber unmöglich, daß Sie jetzt Ihren Wunsch erfahren oder befriedigen kann, nehmen Sie also indessen von mir, was Sie mir ja später ersetzen können. Der Graf legte mit diesen Worten eine Rolle Gold auf den Tisch, und St. Julien fühlte, daß es ein roher Eigensinn sein würde, wenn er sich weigern wolle, es zu empfangen. Er dankte also einfach, aber herzlich, und nahm es als ein Darlehn an.

Fühlen Sie sich stark genug das Zimmer zu verlassen, sagte der Graf, so begleiten Sie mich zu unsern Damen; das wird Ihnen auf jeden Fall besser sein, als hier einsam[143] zu träumen, was der Arzt auch sagen mag. Freudig nahm St. Julien die Einladung an, der Graf bot ihm selbst den Arm und beide sezten sich nach dem Theezimmer in Bewegung zu Dübois frohem Erstaunen. Die Gräfin heftete einen wehmüthigen Blick auf Beide, als St. Julien, auf den Grafen gestüzt, eintrat, und Emilie bewillkommnete sie mit unschuldiger Freude. Die Unterhaltung wurde lebhaft, man vergaß die gegenwärtige Zeit, und der Graf und St. Julien schienen sich mit jeder Minute einander mehr zu nähern, je mehr sich die Uebereinstimmung ihrer Denkungs- und Empfindungsweise offenbarte. Kunst, Poesie und Natur waren die über alle Parteiinteressen erhabenen Gegenstände des Gesprächs. Emilie mischte sich lebhaft in die Unterhaltung und entfaltete einen Reichthum des Geistes, einen Schatz von Kenntnissen, die den jungen Mann in Erstaunen sezten, weil er bei ihrer einfachen, beinah schüchternen Art sich zu betragen durchaus nicht auf die Vermuthung gekommen war, daß sie so unterrichtet sein könnte. Ohne Absicht von Emiliens Seite mußte er bemerken, daß sie alle neuern Sprachen verstand und die vorzüglichsten Werke in allen gründlich kannte; so weit aber war sie davon entfernt, aus Eitelkeit diese Gegenstände zu berühren, daß es ihr bei ihrer einfachen Seele vielmehr schien, als verstände es sich von selbst, daß jeder Mensch, der Kunst und Poesie liebe, wenigstens dieß Alles kennen[144] müsse, und da St. Julien mit Feuer und Geschmack über Manches sprach, so sezte sie voraus, daß er weit mehr gelesen habe, als sie selbst, und sezte ihn dadurch zuweilen ein wenig in Verlegenheit, bis er endlich offenherzig gestand, daß er nur wenig Zeit bis jetzt darauf gewendet habe, sich Kenntnisse dieser Art zu verschaffen, und daß die frühe Uebung in den Waffen ihn gehindert habe, in dieser Hinsicht seiner Neigung folgen; daß er aber nun, da seine Krankheit ihm nicht lange mehr hinderlich sein würde, sich eifrig mit der Erlernung des Englischen und Italienischen beschäftigen wolle. Der Graf bot sich ihm als Lehrer an, und sein Anerbieten wurde mit herzlicher Freude angenommen.

Jeder fühlte sich wohl an diesem glücklichen Abend, die Gräfin war ruhig, beinah heiter; die Erinnerungen an vergangene Leiden schienen für einige Stunden aus ihrem Gedächtniß gewichen zu sein; der Graf fühlte sich so heiter wie er seit Jahren nicht gewesen war, und St. Julien konnte, indem er abwechselnd Beide betrachtete, nicht mit sich darüber einig werden, wen er seinem Herzen näher fühlte; wenn aber seine dunkeln Augen einem Blick aus den himmelblauen der schönen Emilie begegneten, dann schlug er sie schüchtern nieder und wagte nicht die holde Gestalt mit in dem Kreise zu begreifen, über den er sich eben die Frage vorgelegt hatte. Als sich das Gespräch wieder auf Musik wendete, versuchte[145] er es auszudrücken, wie sehr ihn Emiliens Gesang am vorigen Abend entzückt habe, und der Graf und die Gräfin forderten ihre junge Freundin auf, einige italienische Sachen aus der älteren Zeit zu singen, um auch den heutigen Tag würdig zu beschließen. Emilie sang, ohne sich zu weigern, und St. Julien gab sich rücksichtslos den süßesten Empfindungen hin; er konnte sich im Entzücken des Hörens keine größere Glückseligkeit denken, als seine Stimme mit den himmlischen Tönen vermischen zu dürfen, die den rosigen Lippen der jungen Sängerin entschwebten.

Als sie geendigt hatte, versicherte der Graf und die Gräfin, ihre Stimme werde täglich schöner; sie habe nie so vortrefflich gesungen, als am heutigen Abend. St. Julien konnte sich nicht entschließen, mit Worten ihren Gesang zu loben, oder, wie man sich auszudrücken pflegt, ihr etwas Verbindliches darüber zu sagen, aber der dankbare, entzückte Blick, dem Emiliens Augen begegneten, als sie sich zufällig zu ihm wendete, belehrten sie, daß er nicht ohne Empfindung zugehört hatte.

Sie scheinen den Gesang sehr zu lieben, fragte ihn nach einigen Minuten die Gräfin, und haben sich gewiß selbst mit Musik beschäftigt?

Ein wenig, oberflächlich, antwortete St. Julien, wie beinah mit allen Dingen, die ich bis jetzt getrieben habe;[146] aber auch das soll besser werden, fügte er hinzu; sobald ich wieder hergestellt bin, will ich versuchen, ob ich meine Stimme nicht durch die Krankheit verloren habe, und wenn dieß nicht der Fall ist, Musik und Gesang mit großem Eifer treiben. Singen Sie Tenor? fragte die Gräfin.

Ja, sagte St. Julien, und man versicherte mich oft, ich habe eine recht gute Stimme, die nur ausgebildet werden müsse, dazu mangelte mir aber die Geduld.

Ein schöner Tenor, sagte der Graf, ist das seltenste und beinah das schönste Geschenk des Himmels, und es ist eine wahre Sünde, im Besitze einer solchen Gabe zu sein, ohne sie auszubilden.

Wie schön wäre es, rief Emilie, wenn Sie erst wieder singen könnten; wir haben hier ganz vortreffliche Musik, die leider ungebraucht liegen muß; wie Vieles könnten wir mit einander ausführen.

St. Juliens Augen leuchteten und seine Wangen rötheten sich vor Freude bei dieser Vorstellung, und er versprach eben pünktlich Alles zu thun, was seine Genesung beschleunigen könnte, und sich streng den Vorschriften des Arztes zu unterwerfen, als dieser herein trat und, da er St. Julien in der Gesellschaft erblickte, aus Verwunderung drei Schritte zurück sprang: Sie sind hier! rief er aus der Ferne mit zornig[147] verweisenden Minen, ich wollte Sie eben in Ihrem Zimmer besuchen und dachte Sie ruhig im Bette zu finden.

Kommen Sie nur näher, sagte der Graf lachend, und betrachten Sie ihn genauer, dann werden Sie finden, daß es ihm hier gar nicht übel geht. Kopfschüttelnd näherte sich der Arzt und betrachtete ernsthaft den jungen Mann, der sich des Lachens nicht erwehren konnte, als der Arzt mit komischer Feierlichkeit, nachdem er ihn eine Zeitlang betrachtet hatte, seinen Puls untersuchte und dann mit Heftigkeit ausrief: Sie sind der wunderlichste Kauz, der mir noch vorgekommen ist, so lange ich die Arzneiwissenschaft ausübe. Gestern Abend, heute Morgen ohne alle Ursache im höchsten Grade schwermüthig, Puls fieberhaft, alle Lebenskräfte herunter, die Augen ganz matt und todt, so daß Sie mir recht gefährlich vorkamen. Heute Abend ohne Fieber, der Puls sehr gut, die Augen heiter, lebendig, eben so ohne die mindeste Ursache.

Die Gesellschaft, sagte der Graf lächelnd, hat ihn erheitert und so diese wohlthätige Wirkung hervorgebracht.

Das kann nicht sein, entgegnete der Arzt, ich wollte ihm ja heut Morgen Gesellschaft leisten, ich gab mir alle Mühe ihn zu erheitern, aber wer sich auf nichts einlassen wollte, das war mein Kranker.

Ja, dann läßt sich freilich seine Besserung gar nicht[148] erklären, sagte der Graf scherzend, die Ursache dieser Wirkung wird nicht aufzufinden sein.

Man muß darüber nachdenken, erwiederte der Arzt ganz ernsthaft; Jetzt muß ich aber darauf bestehen, sagte er zu St. Julien, daß Sie sich zur Ruhe begeben, das zu lange Aufsitzen ist Ihnen durchaus schädlich. Fügen Sie sich den Vorschriften des Arztes, sagte Emilie, wie Sie es versprachen, damit er Sie recht bald wieder herstellt, und wir bald mit einander das erste Duett singen können.

Singen, rief der Arzt im höchsten, mit Unwillen vermischten Erstaunen, Sie denken daran, zu singen? Gott behüte, ich habe Ihnen kaum zu sprechen erlaubt, von Gesang kann gar nicht die Rede sein, und wenn ich Sie auch ganz hergestellt habe, so ist es doch möglich, daß Ihre Brust schwach bleibt, und daß sie sich solche Gedanken müssen vergehen lassen.

Dann stellen Sie mich aber nicht ganz her, sagte St. Julien mit heiterer Laune, denn vor meiner Verwundung hätte ich Tagelang singen können, ohne daß ich es in der Brust gefühlt hätte; wenn Sie es also unternehmen, mich vollkommen wieder herzustellen, so müssen Sie mich in diesen Zustand zurück versetzen.

Was das für Ansichten sind, sagte der Arzt, das beweist recht, wie wenig Sie von der Arzneiwissenschaft verstehen. Wir wollen uns aber heut darüber nicht streiten,[149] sondern ich will Sie auf Ihr Zimmer führen und Ihre Wunden verbinden. Er wollte ihm den Arm bieten, um ihn zu führen, der Graf aber, der seine gutmüthige Ungeschicklichkeit kannte, zog die Klingel und überlieferte den Kranken der sanften Pflege des höflichen Dubois.

Quelle:
Sophie Bernhardi: Evremont. Theil 1, Breslau 1836, S. 123-150.
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