Vorrede

[5] Dieser Roman, welchen ich dem Publikum übergebe, ist die letzte Arbeit meiner verstorbenen Schwester Sophia1, welchen sie nur wenige Jahre vor ihrem Tode vollendete. Mein Urtheil über dieses Werk könnte ein partheiisches scheinen, und ich enthalte mich daher, weitläuftig über diese Composition zu sprechen, oder ihre Vorzüge auseinander zu setzen. Der unpartheiische Kenner[5] wird ohne meine Erinnerung einsehn, mit welchem Fleiß und mit welcher Liebe dieses Werk, welches die Verfasserin so manches Jahr beschäftigte, ausgeführt ist. Wenn die Dichterin in ihren früheren Produkten nur Traum- und Mährchenwelt darzustellen strebte, oder ein schönes Gedicht des Mittelalters neu erzählte, so hat sie in diesem Roman ihre Ansichten der Welt und der Menschen und vielfache erfahrungen niedergelegt. Die denkwürdigsten Jahre der neuen Geschichte bilden den Hintergrund dieses großen, mit mannichfachen, wechselnden Figuren ausgestatteten Gemäldes, und die Erzählung, die gut angelegt ist, hebt sich aus dem klaren Vordergrund, und das Interesse wächst mit jedem Kapitel. Die Erinnerungen eines[6] jeden, welcher beobachten konnte und richtig schildern kann, werden aus jener merkwürdigen Periode ein gewisses Interesse haben, und seine Worte werden um so eindringlicher sein, wenn ihm die Gabe verliehen ist, diese Bilder und Ereignisse in ein mehr oder minder künstliches Gewebe einzuflechten. Eine solch Darstellung, ergießt sie sich aus einem reichen und vollen Gemüth, wird sie nicht durch Eigensinn und Vorurtheil beschränkt, hat, außer dem poetischen, theilweise einen geschichtlichen Werth. Diese freie, deutsche Gesinnung offenbart sich in diesen Blättern, die ich hier dem Publikum übergebe, mit dem Wunsche, daß die Freunde der Wahrheit, daß der gebildete Leser sie nicht unbefriedigt aus der Hand legen mögen. Auch[7] hoffe ich, daß diese Darstellung das Andenken der Verfasserin bei ihren wohlwollenden Freunden erneuen wird, und daß ihr Name denen wird zugesellt werden, die das Schöne, Edle und Gute erkannten und es, so viel unsere geschränkten Kräfte vermögen, erstrebten.

Ludwig Tieck.

Quelle:
Sophie Bernhardi: Evremont. Theil 1, Breslau 1836, S. 1.
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