[291] Als der junge Graf am andern Morgen erwachte, sah er seinen Knaben am Fenster sitzen und mit Eifer in einem Buche lesen. Er rief ihn zu sich und fragte nach seiner Beschäftigung. Ach, lieber Herr Graf, rief der junge Mensch, ich habe hier in dem alten Manne, dem Haushofmeister, einen wahren Schatz gefunden. Heut Morgen, schon sehr frühe, hat er mich in die Bibliothek des Grafen geführt und mir erlaubt, von den Büchern zu nehmen, was ich will; ich habe mir gleich den Shakespeare genommen. Sie können es nicht glauben, welche Glückseligkeit es ist, nach so vielen Monaten, nach einem wilden Leben, wieder ruhig bei solchem Buche zu sitzen.
Ich wollte, ich könnte Dir erst die Mittel verschaffen, Deine Studien fortzusetzen, sagte der Graf, und mich bekümmert es herzlich, daß sich für jetzt noch keine Aussicht dazu zeigt.
Man kann ja auch für sich studiren, sagte der Knabe tröstend, und hier der alte Mann, fuhr er lächelnd fort, hat mich ordentlich examinirt, doch er sah bald, daß ich mehr wußte wie er; aber mit meiner Aussprache des Französischen war er sehr unzufrieden, und er hat mir befohlen, so lange wir hier sind, immer mit ihm in dieser Sprache zu reden, damit er mir zurechthelfen kann, und ich nicht[291] eine Aussprache bekomme, wie ein gewisser Doktor, der hier im Hause sein soll, über die alle wohlerzogenen Leute lachen müßten, versicherte Dübois. Er hat mir auch versprochen, daß für unsere Pferde gut gesorgt werden soll, und da ich mich auf ihn verlassen kann, so kann ich den ganzen Tag, wenn Sie mich nicht brauchen, auf seinem Zimmer sitzen und lesen, denn hier sind unermeßlich viele Bücher.
Du und Dein neuer Freund, sagte der junge Graf, Ihr scheint zu glauben, daß mein Aufenthalt hier sehr lange dauern wird, da Ihr solche Pläne darauf gründet.
Herr Dübois meint freilich, erwiederte der Knabe schüchtern, daß Sie eine Zeitlang hier bleiben würden, um einen so vortrefflichen Verwandten, wie er den hiesigen Grafen schildert, näher kennen zu lernen.
Das wird sich zeigen, sagte der Graf düster, indem er sich erhob, um sich anzukleiden. Während dieser Beschäftigung rief er sich die Ursache zurück, die ihn hieher geführt habe, und daß er gezwungen sei, diese schwere, drückende Pflicht gegen seinen Vater zu erfüllen. Nur kann ich es nicht auf seine Weise, schloß er in Gedanken seine Betrachtungen; ich verstehe es nicht, eine Begebenheit langsam herbei zu führen; ich kann Niemanden untergraben und, wenn er fällt, geschickt seine Stelle einnehmen, wie mir der Vater das Alles so weitläufig auseinandergesetzt hat. Der Franzose[292] soll aus dem Hause, und das auf die einfachste Weise von der Welt.
Mit diesen Gedanken beschäftigt, betrat er den Saal, wo er die Hausgenossen schon versammelt fand, auf die er einen bessern Eindruck machte, als am vergangenen Abend. Der kurze Schlaf hatte die leidenschaftliche Spannung gelöst, die den vorigen Tag zu bemerken war, er war höflicher, wenn auch Kälte und Zurückhaltung in seinem Betragen nicht zu verkennen war, und man es wohl bemerkte, daß seine Seele sich mit andern Gegenständen beschäftigte, als denen, die eben im Gespräch verhandelt wurden.
Er hatte einige Mal höflich das Wort an St. Julien gerichtet, so daß es Niemandem auffallen konnte, als er ihm endlich einen gemeinschaftlichen Spaziergang in den Garten vorschlug. Dem Grafen war es angenehm, daß die beiden jungen Männer sich zu nähern schienen, und auch St. Julien ergriff gern die Gelegenheit, einem Verwandten seines väterlichen Freundes näher zu treten, dessen unhöfliche Kälte ihn den vorigen Tag empfindlich beleidigt hatte.
Beide durchschritten die dem Hause zunächst liegenden Gänge des Gartens ohne zu reden, und als St. Julien ein Gespräch anzuknüpfen suchte, wurde er bald durch die einsylbigen Antworten des jungen Grafen davon abgeschreckt. So gingen sie stumm neben einander, bis sie einen einsamen,[293] vom Hause ziemlich entfernten Platz erreichten, und St. Julien fing eben an zu bemerken, daß mit dem Gange in dem Garten wohl kein harmloser Spaziergang beabsichtigt sei, als der junge Graf auf ein Mal still stand und seinen Begleiter also anredete: Ich habe Sie gebeten, Herr St. Julien, mich in den Garten zu begleiten, um ungestört Ihnen Eröffnungen machen zu können, deren Folgen die Art bestimmen wird, wie Sie meine Offenherzigkeit aufnehmen werden. St. Julien schwieg betroffen und erwartete mit Spannung, wie der junge Graf in seinen Mittheilungen fortfahren würde. Wenn von meinem Geschick allein die Rede wäre, hob dieser nach sichtbarem Kampfe von Neuem an, so könnte es sein, daß ich Ihren Plänen nicht in den Weg getreten wäre; da aber das Schicksal eines alternden Vaters, einer leidenden Mutter, die Zukunft jüngerer Schwestern auf dem Spiele steht, so sind mir dadurch Pflichten auferlegt, die ich erfüllen muß.
St. Julien glaubte zu träumen, er begriff nicht, wie er auf die entfernteste Weise auf das Schicksal aller dieser genannten Personen einwirken könne, und bat den jungen Grafen, fortzufahren, damit er diesen Zusammenhang begreifen möge. Sie könnten mich leicht verstehen, sagte der junge Graf mit Bitterkeit, ohne weitere Auseinandersetzung, da Sie es aber selbst so wollen, so will ich Ihnen eine genügende[294] Erklärung geben. Das Vermögen, welches Ihr Gönner, mein Oheim, besitzt, ist nicht so schlechterdings nach dem Rechte sein, sondern käme zum großen Theile meinem Vater zu, dessen beschränkte Lage ihn zwingt, den Raub in den Händen seines Verwandten zu lassen. Die unglückliche Heirath des Grafen hat ihn von seiner Familie gänzlich entfernt, welche die Gräfin, wie wir aus sicherer Quelle wissen, haßt und von der sie den Grafen fern hält, damit er nicht etwa in einer schwachen Stunde, von seinem Gewissen angeregt, der Familie einigermaßen Gerechtigkeit widerfahren lasse.
Hier nun übt der Graf, mein Oheim, Großmuth nach allen Richtungen aus fremden Mitteln, aber doch vorzüglich gegen die Feinde des Landes, die seine Freunde zu sein scheinen, und, schloß der Graf zornig, da die Gräfin eine Vorliebe für Sie empfindet, die sich nicht erklären läßt, und meinen schwachen Oheim beherrscht, so wissen wir, daß es im Werke ist, Ihnen das ganze Vermögen zuzuwenden, wie Sie auch schon große Summen empfangen haben. Deßhalb wollte ich Ihnen rathen, sich mit dem Empfangenen zu begnügen und nicht einer achtungswerthen Familie zu entziehen, was ihr wenigstens nach dem Tode des Grafen zufallen muß, wenn sie auch leidet, so lange er lebt, und ich fordre, um diesen Zweck zu erreichen, daß Sie das Haus meines Oheims verlassen,[295] und werde von dieser Forderung nicht abstehen, so lange ich lebe. Ich hoffe, Sie verstehen mich nun vollkommen.
St. Julien war erstarrt bei dieser Rede des jungen Grafen. Ein instinktartiges Gefühl leitete seine Hand, nach der Waffe zu greifen, die er aber glücklicher Weise nicht an seiner Seite trug; seine Augen schienen Funken zu sprühen, seine Wangen glühten und seine Glieder bebten vor Zorn. Blässe des Todes folgte dieser Gluth, und den Augenblick darauf schossen die Flammen des Zornes von Neuem in den Wangen empor; er suchte nach Worten, und seine Lippen bebten, ohne einen Ton zu finden; endlich, ohne dem Grafen zu antworten, eilte er mit schnellen Schritten einen Baumgang auf und ab, bis nach und nach sein Gang ruhiger, seine Haltung gemäßigter wurde. Er kehrte endlich zu dem seiner mit Verwunderung harrenden jungen Grafen zurück, und das bleiche, mit kaltem Schweiße bedeckte Gesicht des leidenschaftlichen jungen Franzosen erschreckte selbst diesen, der ihm feindlich gegenüber stand.
Herr Graf, sagte St. Julien mit tonloser Stimme, Sie haben vermuthlich erwartet, daß nach den Mittheilungen, die Sie mir gemacht haben, kein Wort weiter zwischen uns nöthig sei, als die Bestimmung des Orts, wo wir uns beide noch ein Mal treffen, und den nur Einer lebend verläßt, und ich gestehe, daß mir dieß selbst ganz natürlich vorkommen[296] würde; da aber auch ich nicht bloß mich zu berücksichtigen habe, so muß auch von meiner Seite eine Erklärung vorangehen. Er erzählte ihm nun, wie der Graf ihn gefunden und aus reiner Menschenliebe in sein Haus genommen habe. Die Erinnerung, wie zart und edel er von der ganzen Familie behandelt worden war, füllte wieder seine Seele und löste die Bande, mit denen Haß und Wuth sein Herz umschnürt hatten. Mit weniger Empfindung erwähnte er, wie das Wohlwollen des Grafen für ihn täglich zugenommen habe und wie in seiner Seele die dankbare Verehrung täglich gewachsen sei. Dieß sind die Bande, rief er, die mich an dieß Haus fesseln; dieß sind die Gefühle, die ewig unauslöschlich in meiner Seele ruhen, und wahrlich, setzte er hinzu, heute fühle ich, daß ich der Liebe des Grafen nicht unwerth bin, da das Gefühl der Dankbarkeit mich bestimmt, so unerhörte Beleidigungen nicht sogleich auf die einzige Art, die hier unter Männern von Ehre denkbar ist, zu rächen. Da die lächerliche Verläumdung dem Grafen bekannt wurde, fuhr er fort, daß man mich als einen Kundschafter darstellen wollte, den er in seinem Hause hielte, um Frankreich zu dienen, so nahm mir der edle Mann mein Ehrenwort ab, sein Haus nicht ohne seinen Willen zu verlassen, damit er mich vor die Behörde stellen kann, die sein König ernennen mag, um diesen Flecken von dem Namen des[297] besten der Menschen zu vertilgen; und Sie sehen also, sagte er bitter lächelnd, daß, wenn ich auch so feig sein wollte, mich Ihren Wünschen zu fügen, ich dieß nur mit dem Willen Ihres Oheims thun könnte. Was sein Vermögen betrifft, so kann ich nicht beurtheilen, in wiefern ihm der Besitz desselben zukommt; ich weiß nur, daß er den edelsten Gebrauch davon macht. Ihre Befürchtung aber, daß ich mich als sein Erbe eindrängen wolle, ist völlig grundlos. Ich habe selbst Anspruch auf ein großes Vermögen, und die Summen, die ich von dem Grafen als Darlehn empfangen habe, sind in Beziehung auf sein, wie auf mein Vermögen unbedeutend, und da ich täglich Briefe aus meiner Heimat erwarte, die mich in den Stand setzen werden, meine Verpflichtung zu lösen, so mag die Rückzahlung alsdann durch Ihre Hände gehen, um Sie völlig zu beruhigen. Alles dieß habe ich gesagt, schloß St. Julien, um mein Gewissen gegen den Grafen frei zu erhalten, wenn mich ein unglückliches Schicksal zwingen sollte, seinen Verwandten beinah unter seinen Augen zu tödten, oder wenn er über die Leiche eines Freundes trauern muß, dem er seine Liebe geschenkt hat; und jetzt, Herr Graf, erwarte ich, welche Genugthuung Sie mir nach der mir zugefügten Beleidigung anbieten werden.
St. Juliens Worte trugen das unverkennbare Gepräge der Wahrheit, und unangenehme Gefühle kämpften in der[298] Seele des jungen Grafen. Er mußte sich gestehen, so schmerzlich ihm dieß als Sohn auch wurde, daß nicht immer die edelsten Beweggründe seinen Vater leiteteten, er konnte es nicht abläugnen, daß er nicht immer der Wahrheit treu blieb, um seinen Zweck zu erreichen, und doch hatte er keine andern Beweise für alle seine Anschuldigungen, als die Worte eben dieses Vaters; er erinnerte sich, daß ihm dieser selbst jedes offene, gewaltsame Unternehmen dringend widerrathen und von ihm begehrt hatte, er solle zu Falschheiten und Verläumdungen sich herablassen, die sein ganzes Herz verabscheute; ja er mußte es sich bekennen, daß der Inhalt aller Aufträge seines Vaters eigentlich kein anderer gewesen sei, als auf jeden Fall eine Summe Geldes von seinem Verwandten zu erhalten, um den Fall des eigenen Hauses abzuwenden. Diese Betrachtungen drängten sich ihm auf, und er fühlte lebhaft das Unschickliche und Unwürdige seines Betragens, und die Verlegenheit, die dieß in ihm erregte, erhöhte seinen Unmuth über sich selbst. Endlich, da er die Nothwendigkeit fühlte, eine Antwort zu geben, sagte er: Ich kann nicht läugnen, daß ich mich übereilt und auf zu wenig begründete Angaben Ihren Charakter falsch beurtheilt zu haben glaube; unsere Bekanntschaft ist zu neu, als daß ich Sie möchte in meinem Herzen lesen lassen, wodurch Sie vielleicht die Entschuldigung meines Betragens fänden; ich[299] muß es mir also gefallen lassen, wie Sie auch immer meinen Charakter beurtheilen mögen; da ich Ihnen aber darin unbedingt Recht geben muß, daß es eine unglückliche Nothwendigkeit wäre, wenn einer von uns beiden hier unter den Augen meines Oheims bleiben müßte, und meine unbesonnene Rede ein solches Unglück möglich gemacht hat, so bitte ich Sie dieser Rede wegen um Verzeihung, hier unter vier Augen, setzte er nachdrücklich hinzu; und wenn Sie mit dieser Genugthuung zufrieden sind, so gewähren Sie eben so einsam die Verzeihung, wie Sie die Beleidigung empfingen.
Um Ihres Oheims Willen bin ich zufrieden, sagte St. Julien, und aus freiem Antriebe sage ich Ihnen noch, daß ich selbst es betreiben werde, so bald als möglich ein Haus verlassen zu können, an welches sich die schönsten Empfindungen meiner Seele knüpfen, das mir aber dennoch nicht lange mehr ein Obdach gewähren darf, weil man bei meinem hiesigen Aufenthalte mir Pläne unterlegt, die nur ein Ehrloser hegen könnte. Er verbeugte sich gegen den Grafen, und beide junge Männer gingen auf verschiedenen Wegen nach dem Schlosse zurück.
St. Julien fragte sich unterweges oft, ob er recht gethan habe, nach einer so leichten Entschuldigung eine so schwere Beleidigung zu verzeihen, und sein Stolz wollte ihm vorspiegeln, daß er sich zu willig zur Vergebung habe finden[300] lassen, aber sein besseres Selbst bekämpfte diese Gedanken, und er war zufrieden mit der Selbstüberwindung, die er seinem väterlichen Freunde zu Liebe geübt hatte. Die baldige Trennung von diesem und von der Gräfin, ach! und von Emilie, die er sich selbst auferlegt hatte, fiel beklemmend auf sein Herz; aber die glückliche Mischung seines Blutes machte, daß er in der Gegenwart leicht die nächste Zukunft vergaß, und so heiterte sich sein Auge auf, als Emilie ihm in dem Saale entgegen trat und ihn scherzend aufforderte, heut an diesem großen Tage als ein würdiger Hausgenosse dazu beizutragen, das Fest angenehm und lebendig zu machen, welches der Baron Löbau gewiß immer ein Friedensfest nennen würde, so wenig der Graf dieß auch wollte. Ein Friedensfest, wiederholte St. Julien lächelnd und dachte an die wenig friedliche Unterredung, die er eben im Garten gehabt hatte.
Man hat meinen Geburtstag vorgeschoben, sagte die Gräfin, die hinzugetreten war, aber der Baron wird es nicht gelten lassen. Mit inniger Empfindung küßte St. Julien die Hand der Gräfin, indem er ihr seinen Glückwunsch darbrachte, und lobte sich innerlich, daß er einen Streit vermieden hatte, durch den dieser Tag als ein blutiger wäre bezeichnet worden.
Die Stimmung des jungen Grafen war nicht so angenehm;[301] er fragte sich, was er eigentlich damit gewollt habe, daß er St. Julien beleidigte. Sein Vater hatte ihm die Nothwendigkeit vorgespiegelt, diesen zu entfernen und sich seinem Oheim anzuschließen, aber die Frage drängte sich ihm auf: welch ein Recht hatte Dein Vater dieß zu verlangen, und würdest Du selbst wohl jemals auch nur von Ferne auf den Gedanken dieses Vaters eingegangen sein, wenn Dich nicht die verzweiflungsvolle Lage desselben dazu bestimmt hätte. Und wie schön, sagte er zu selbst, wie schön habe ich die Aufträge des Eigennutzes ausgeführt? Durch mein größtes, entsetzlichstes Unglück, was mein Vater am Wenigsten verstehen würde, zur äußersten Verzweiflung gebracht, komme ich hier an und soll höfliche Reden wechseln, indeß ich selbst mit meinen Händen ein Grab aufwühlen und mich hinein verscharren möchte, um nur von dem Leben nichts mehr zu wissen. Der Zorn über die verächtliche Rolle, die ich hier übernommen habe, kam hinzu, und ich ließ eigentlich Jeden meine eigne Schlechtigkeit büßen; und wenn ich nun den Franzosen erschossen hätte, sagte er bitter lächelnd, das würde unfehlbar meines Vaters klug angelegte Pläne sehr befördert haben, das würde meinen Oheim, der den jungen Mann liebt, gewiß bestimmt haben, dessen Mörder für seinen Erben zu erklären. Nein, sagte er zu sich selbst, indem er sich heftig die Thränen von den Wangen trocknete, nein, verläumde Du[302] Dich nicht selbst; nein, Du wolltest nicht morden aus Eigennutz, Du suchtest einen Zweikampf, um darin zu fallen, um dem gräßlichen Elende des Lebens zu entfliehen, das Du, Thor, doch zu feig bist freiwillig zu verlassen.
Der junge Graf hatte gesucht, auf einem einsamen Spaziergange die nöthige Fassung wieder zu gewinnen. Ich muß ja doch, sagte er sich selbst, was mein Herz auch leidet, heute die abgeschmackte Festlichkeit mitmachen, morgen will ich darüber nachdenken, was ich eigentlich hier will. Er kehrte also ebenfalls nach dem Schlosse zurück und fand, daß man mit der Mittagstafel schon auf ihn wartete, denn es war beschlossen worden, heute früher zu speisen als gewöhnlich, um nicht durch die Ankunft der ersten Gäste in Verlegenheit zu gerathen.
Der Graf hatte geglaubt, sein Vetter und St. Julien wären einander näher getreten, und er erstaunte also, als er bemerkte, daß ihr Betragen gegeneinander noch förmlicher geworden war. Sie begegneten einander höflicher als früher, aber die Höflichkeit war von so sonderbarer Art, daß jede höfliche Rede, die der Eine an den Andern richtete, mit einer Herausforderung hätte endigen können. Das heutige Fest hinderte alle ernsten Mittheilungen, und der Graf nahm sich vor, den folgenden Tag seinem jungen Vetter entweder näher zu treten oder den peinlichen Besuch mit kurzer Art abzukürzen.[303]
Die Mittagstafel war aufgehoben. Der junge Graf entfernte sich, um noch einen einsamen Spaziergang zu machen und in der Natur Trost für sein zerrissenes Herz zu suchen. Er fühlte sich aus tausend Gründen unglücklich, aber was ihm den letzten Trost und alle Haltung raubte, er mußte sich fragen, ob er noch seiner eignen Achtung werth sei, nachdem er den Bitten seines Vaters nachgegeben und in dessen Aufträgen auf Schloß Hohenthal erschienen war; er konnte durchaus nicht begreifen, was er eigentlich hier wollte, denn Alles, was ihm sein Vater zur Aufgabe gemacht hatte, kam ihm geradezu verächtlich und abgeschmackt vor.
Die Damen hatten sich wegbegeben, um sich festlich zu kleiden, und St. Julien zog sich in derselben Absicht auf sein Zimmer zurück; der Graf blieb allein und wünschte, das Fest möchte vorüber und die gewöhnliche Ordnung des Hauses wieder eingetreten sein, da rasselten mehrere Wagen in den Hof, und aus verschiedenen Equipagen stieg der Prediger und seine zahlreiche Familie. Der Graf entschuldigte die Damen, daß sie, mit ihrer Kleidung beschäftigt, die Frau und Töchter des Predigers noch nicht empfangen könnten. Ich bin eigentlich etwas früher gekommen, sagte der Geistliche, weil ich, noch ehe die Gesellschaft kommt, etwas mit Ihnen zu sprechen wünsche. Der Graf führte den Prediger[304] in sein Kabinet, und die Familie desselben blieb für's Erste sich selbst überlassen in dem Gesellschaftszimmer, wo sie der Haushofmeister mit Kaffee bewirthen ließ.
Wissen Sie, redete der Geistliche den Grafen an, als sie allein waren, daß es mit dem Vater Ihres jungen Vetters, der sich hier aufhält, erbärmlich steht. Es war ein Kornhändler heute bei mir, der brachte mir die Nachricht mit. Er ist gänzlich zu Grunde gerichtet, die Gebäude auf dem Gute sind alle verfallen, sein Viehstand ausgestorben, die Schaafheerden hat er verkauft, und jetzt bedrängt ihn eine Zahlung, die er durchaus nicht leisten kann. In dieser Noth hat sich der alte Schurke, der Lorenz, auf dem Schlosse eingefunden, er erbietet sich die Summe zu schaffen, das Gut für ein Jahr zu pachten, in welcher Zeit ihm Ihr Herr Vetter die vorgestreckte Summe zurückzahlen muß, oder das Gut bleibt für einen sehr niedrigen Preis in den Händen des Darleihers, und, der mir die Nachricht mittheilte, meinte, der Darleiher wäre der Sohn des Alten. Könnte ich nur begreifen, wie die Menschen auf ein Mal zu so vielem Gelde gekommen? Der Graf erzählte dem Prediger, auf welche Art sich die Tochter des Alten von dem General Clairmont getrennt habe, und theilte ihm auch die Vermuthung mit, die er hegte, daß der Sohn den Franzosen als Spion und Wegweiser gedient haben möchte. Jetzt geht mir[305] ein Licht auf, rief der Prediger, wir sahen den jungen Mann ja selbst, der den General bis zu Ihrem Schlosse begleitete; jetzt kann ich mir Alles erklären, auch wie die Franzosen hier so trefflich Bescheid wußten. Aber ist es nicht abscheulich, daß solche Schufte nun die Gutsbesitzer hier im Lande werden sollen. Das muß man abzuwenden suchen, sagte der Graf, ich werde mit meinem Vetter über den Gegenstand zu sprechen suchen. Es ist nur schwer, fügte er hinzu, den jungen Mann zur Mittheilung zu bewegen.
Ich habe hier einen Brief für ihn, sagte der Pfarrer, derselbe Kornhändler brachte ihn mit; er ist vermuthlich von seinem Vater, denn er ist mit dem Hohenthalschen Wappen gesiegelt; der wird wohl die traurige Geschichte umständlich enthalten. Wollen Sie mir dieß Schreiben anvertrauen, sagte der Graf, so werde ich es morgen meinem Vetter abgeben, wir wollen heute dadurch seine Laune nicht verderben, er ist außerdem nicht in der heitersten Stimmung.
Das kann ich mir bei seiner Lage denken, bemerkte der Geistliche; der Vater zu Grunde gerichtetet und er selbst verabschiedet, das muß ihn natürlich niederdrücken.
Der Graf hatte den Brief von dem Geistlichen empfangen und bat diesen nun, nach dem Saale zurückzukehren, um Theil an der Gesellschaft zu nehmen.[306]
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