V

[79] Ich weiß es nicht, wie lange ich, von Wahnsinn umfangen, mich selber und mein Kind nicht kannte. Ich erinnere[79] mich nur, daß ich eines Morgens, nach langem Schlaf, wie es mir schien, erwachte. Ich wollte mich erheben und fühlte zu meinem Erstaunen meine Glieder an mein Lager befestigt, ich blickte um mich und fand mich in einem kleinen, peinlichen Zimmer, vor dessen Fenstern Weinreben sich empor rankten, deren breite Blätter sich in der Seine wiegten, so daß ihr Schatten sich auf dem Lande bewegte. Neben dem einfachen Lager kniete ein alter Mann, der ein Gebetbuch in den Händen hielt und so eifrig betete, daß ihm die Thränen über die Wangen flossen. Ich blickte genau hin und strengte mein Gedächtniß an, um irgend etwas zu erkennen, wodurch ich an die Vergangenheit erinnert und die Gegenwart mir deutlich würde, denn mir war jede Erinnerung entschwunden. Nachdem ich den betenden Mann eine Weile betrachtet hatte, schien sich ein schwaches Licht in meinem Geiste aufzudrängen, und ich rief: Dübois! mit matter Stimme. O! nie werde ich es vergessen, mit welchem Ausdrucke seliger Freude der gute Mann mich ansah, wie inbrünstig er Gott dankte für dieß erste Zeichen wiederkehrender Besinnung. Ich fragte ihn, weßhalb man mich so quäle und mich an mein Lager befestigt habe. Mit Thränen winkte er eine Wärterin herbei, und man löste meine Bande auf.

Es erschien bald ein anderer Mann, in dem ich einen[80] Arzt erkannte; er zeigte sich über meinen verbesserten Zustand sehr erfreut und versicherte, daß kaum ein Rückfall zu befürchten und man nun berechtigt sei, bei meiner Jugend das Beste zu hoffen.

Als wir wieder allein waren, fragte ich den alten Dübois nach meinem Gemahl, und der Blick des Schmerzes, mit welchem er sich abwandte und stumm die Hände rang, gab mir Besinnung und Gefühl meines Leidens. Ich habe nie bestimmt erfahren, welche Mittel Dübois angewendet hat, um meine Freiheit zu bewirken; nur so viel habe ich nach und nach den Muth gehabt von ihm zu erfragen, daß sich zwei von seinen Verwandten unter den Richtern befanden, und daß er es deßhalb wagen durfte, seinen Bitten noch durch andere Mittel als durch Worte Nachdruck zu geben; aber nie hat er mir vertraut, wie groß die Opfer waren, die er für mein armes Leben gebracht hat. Auch für meinen unglücklichen Gemahl hatte er sich verwendet und Versprechungen erhalten, die ihn zu Hoffnungen berechtigten; er hatte es sogar erlangt, ihn im Gefängniß sprechen zu dürfen, und dort hatte Evremont, der sich über sein Schicksal nicht täuschte, ihm das feierliche Gelübde abgenommen, mich nie zu verlassen und sein Leben meinem Beistande zu widmen. Ein neuer Aufstand des Volkes hatte die schwache Hoffnung Dübois vernichtet; man gab alle Gefangene, die[81] es mit dem verhaßten Namen der Aristokraten bezeichnete, Preis, und Evremont fiel mit vielen Andern.

Die Jugend übte ihr Recht; meine Kräfte begannen zurück zu kehren, und wenn ich auch in den Gedanken an meinen Sohn keinen Trost finden konnte, so fühlte ich doch die Pflicht, für ihn zu leben. Ich bat also Dübois, ihn zu mir zu bringen, weil ja nun kein Grund der Trennung mehr sei; auch verlangte ich Adele zu sehen, und ich fühlte einen wehmüthigen Trost in der Hoffnung, mit der Schwester den Gemahl zu beweinen. Dübois suchte mich durch mancherlei Vorstellungen von meinen Wünschen abzuleiten und ihre Erfüllung weiter hinaus zu schieben. Ich litt selbst zu sehr, als daß ich gleich die Leiden des alten Mannes bei diesen Gesprächen hätte bemerken können; endlich aber konnte mir die ganze Tiefe meines unermeßlichen Unglücks nicht länger verborgen bleiben.

Dübois war an jenem unglücklichen Tage nach der Abreise meines Bruders erst spät, nachdem er eine seinen Wünschen entsprechende Wohnung gefunden hatte, in der Absicht zurückgekehrt, uns noch denselben Abend dorthin zu führen. Wie groß war sein Entsetzen, als er unsere Zimmer leer fand und von dem Herrn des Hauses unser unglückliches Schicksal erfuhr. Er dachte in diesem Augenblicke nur an Evremont und an mich. Als er den ersten Schmerz beherrscht[82] und die nöthige Besinnung wiedergefunden hatte, suchte er Erkundigungen darüber einzuziehen, nach welchem Gefängnisse man uns gebracht habe, und sich dann den Weg zu unserer Befreiung zu bahnen. In diesen Anstrengungen gingen einige Wochen verloren, ehe er nur daran dachte, sich nach meinem Sohne zu erkundigen. Von meiner Schwägerin und der deutschen Dienerin glaubte er, daß sie mit uns verhaftet wären, und so erfuhr er von ihrem Schicksal nichts. Als der gute alte Mann nach unsäglichen Bemühungen endlich das gewisse Versprechen erhalten hatte, daß man mich des folgenden Tages unschuldig und frei sprechen würde, eilte er nach dem Dorfe, um meinen Sohn von seiner Pflegerin zurück zu nehmen und durch dessen Anblick mich zu ermuntern, das Leben mit Standhaftigkeit zu ertragen. Aber ach! der bittre Kelch des Leidens war noch nicht geleert; er mußte hier erfahren, daß die Wittwe, welche meinen Sohn verpflegt hatte, vor zwölf Tagen gestorben wäre, und Niemand wußte, was aus dem Kinde geworden sei, nur so viel wußten die Nachbaren zu sagen, daß sie während der letzten kurzen Krankheit der Wittwe kein Kind bei ihr bemerkt hatten. Alle ferneren Nachforschungen waren vergeblich, und es schien, als ob mit einem Schlage die ganze Familie Evremont vernichtet werden sollte. Mit diesem neuen entsetzlichen Schmerz in der Seele erschien der[83] gute Dübois im Gerichtssaale, um wenigstens mich in Sicherheit zu bringen, und es gehörte die Kraft der Religion dazu, die in seinem Herzen lebte, daß er nicht beim Anblicke des unglücklichen Endes seines geliebten Herrn den Verstand verlor und in der Nacht des Wahnsinns, die meine Seele umgab, mich noch unterstützen konnte.

Der herbeigerufene Arzt war zweifelhaft gewesen, ob nach den entsetzlichen Erschütterungen meine Vernunft jemals wiederkehren würde, und Dübois hatte den edelmüthigen Entschluß gefaßt, sein Leben meiner Pflege zu weihen. Da er aber glaubte, daß er mir nicht alle Bequemlichkeiten würde verschaffen können, so wollte er sich zu dem Banquier begeben, den er als Vertrauten der beiden Grafen Evremont kannte, um von ihm einige Summen für meine Bedürfnisse zu erhalten. Aber auch von hier kehrte er trostlos zurück; er konnte nur erfahren, daß wahrscheinlich der Kassirer, welcher meinem Bruder die verlangte Summe ausgezahlt, meinen Gemahl erkannt und als ein heftiger Jakobiner unsere Verhaftung veranlaßt habe; der Banquier selbst sei, sobald er diese erfahren, mit seinen Hauptbüchern und allen baaren Summen aus Paris verschwunden, um einem ähnlichen Schicksale zu entgehen.

So waren denn alle Hoffnungen untergegangen, und Dübois brachte alles zusammen, was er besaß, verkaufte[84] jede Sache von Werth und miethete eine kleine Wohnung in der Vorstadt, wohin er mich führte, indem er mich hier für seine Nichte ausgab. Die Fenster unserer Zimmer gingen in den an das Haus grenzenden Garten, und so war ich mit meinem Elende und meinem Pfleger ganz allein, und völlig von der Welt geschieden. Dübois hatte die Behutsamkeit, mich nach und nach mit dem ganzen Umfange meines Unglücks bekannt zu machen, und zugleich an die Pflicht zu erinnern, die ich habe, den Rest meines Daseins dazu anzuwenden, um dem alten Grafen Evremont den Trost zu gewähren, den er nur von mir nach dem Verluste aller seiner Hoffnungen erwarten könne. Er gab es zu, daß dieß die letzte Pflicht sei, die ich im Leben zu erfüllen habe, und billigte meine Absicht, aus der Welt alsdann mich zurück zu ziehen.

Mein großes Unglück hatte mich muthlos gemacht, und Gedanken, die früher meine Seele von sich gewiesen haben würde, beherrschten jetzt meinen Geist. Ich glaubte zuweilen, daß sich die Vorhersagung meiner Mutter erfüllt habe, die mir den Zorn Gottes verkündigt hatte, wenn ich ihr Gelübde unerfüllt ließe und mich dem Gott entzöge, dem sie mich geweiht hatte. Meine matten, kraftlosen Gedanken kehrten immer wieder zu dieser Vorstellung zurück, und ich beschloß, so bald mein Schwiegervater die Bahn seines traurigen[85] Lebens geendet haben und meines Beistandes nicht mehr bedürfen würde, das Gelübde meiner Mutter zu erfüllen. Ein einsam gelegenes Kloster, eine enge Zelle und ein dunkles Grab waren die Gegenstände meiner Sehnsucht, wenn mein Herz noch Sehnsucht empfinden konnte.

Meine Kräfte waren nach und nach so weit hergestellt, daß Dübois daran denken konnte, die Reise mit mir anzutreten. Während meiner langen Krankheit hatten sich die Regierungsformen in Frankreich mehrere Male geändert, aber seinen Verwandten war es immer gelungen, Einfluß zu behalten, und so wurde es ihm möglich, die nöthigen Pässe für sich und seine Nichte, die Bürgerin Blainville, herbei zu schaffen. Der letzte Rest des Vermögens des guten Alten mußte angewendet werden, um die Kosten der Reise zu bestreiten, doch empfand ich hierüber keine Unruhe, da ich glaubte, der alte Graf Evremont würde jede Auslage bei unserer Ankunft großmüthig ersetzen.

Ich schied also von Frankreich und ach, mit welcher Empfindung! Sein Boden hatte das edle Blut des geliebten Mannes getrunken, und meine Augen wendeten sich mit Abscheu und Entsetzen hinweg; und doch konnte mein Herz von diesem verabscheuten und geliebten Boden sich nicht ganz losreißen, denn lebte mir nicht vielleicht noch hier ein verlornes[86] Kind, dessen Spur ich vielleicht wieder fände, wenn ich bleiben dürfte?

Wir reisten in der Nacht ab, denn Dübois fürchtete meine Erschütterung, wenn ich die Straßen von Paris wieder erblickte, und ich schied mit heißen, schmerzlichen Thränen von der Stadt, die mein ganzes Glück vernichtet hatte. Je näher wir dem Ziele unserer traurigen Reise kamen, um so heftiger wurde Schmerz und Angst in meiner Brust; ich fürchtete den Anblick meines greisen Schwiegervaters, mein Unglück lag wie ein Verbrechen auf meiner Seele; ich sollte ihm sagen: Ich komme allein, Dein Sohn ist ermordet, Dein Enkel und Deine Tochter verloren. Ich fürchtete nicht die Kraft zu besitzen, diese schwere Pflicht zu erfüllen, und ach! ich fürchtete vergebens; die Milde des Himmels hatte ihm das herbeste Leiden erspart, der Graf Evremont war gestorben, ehe eine Kunde unseres Unglücks zu ihm hatte dringen können.

Alle wichtigen Papiere hatte der Sohn in Händen gehabt, um das Vermögen aus Frankreich zu ziehen. Der Nachlaß des alten Grafen war also gering, und wurde durch die lange Krankheit und die Beerdigung erschöpft, so daß Dübois keine Hoffnung auf Ersatz hatte, aber der alte treue Mann beweinte nur seinen Herrn, ohne an einen andern Verlust zu denken.[87]

Meine Mutter fand ich ganz nah dem furchtbaren Abgrunde der Armuth, in den Alter, Schwäche und Krankheit eine verlassene Wittwe versenken können, und meine Seele schauderte bei ihrer kleinmüthigen Verzweiflung. Die Liebe zu meinem Bruder, die sie früher so ungerecht gegen mich gemacht, hatte sich in den glühendsten Haß verwandelt; er hatte ihr nach und nach Alles abgenommen, und nun, da sie keine andern Hülfsmittel mehr hatte, als das ihr von meinem Vater ausgemachte Einkommen, zahlte er auch dieses nicht und gab die Mutter dem bittersten Elende Preis. So lange mein Schwiegervater lebte, theilte er seine Hülfsmittel mit meiner unglücklichen Mutter; durch seinen Tod aber war sie der letzten Stütze beraubt, und mein Bruder schilderte ihr seine eigne schlimme Lage, und sagte ihr bestimmt und kalt, daß er nichts für sie thun könne, und wenn auch der alte Herr Blainville gestorben sei, so lebe ihr ja doch ein reicher Eidam, der sie leicht zu sich nehmen und unterstützen könne. Die Religion hatte er nicht geändert und bat die gekränkte Mutter, ihn mit dieser thörichten Zumuthung zu verschonen.

In dieser Lage wendete Dübois das Letzte an, um für unsere nächste Zukunft zu sorgen, und schob die Ueberlegung, wie sich unser Leben gestalten sollte, für die nächsten Wochen zurück, indem er mich bat, mich zuerst von den Anstrengungen[88] der Reise zu er holen und meine Mutter in ihrer verzweiflungsvollen Stimmung einigermaßen zu beruhigen. Ich, mit dem entsetzlichsten Weh im Herzen, sollte Ruhe und Trost gewähren, da ich selbst nur Seufzer und Thränen hatte, aber dennoch fand die arme unglückliche Mutter Trost in meiner Liebe, und als ob sie ihre frühere Ungerechtigkeit gut machen wollte, wendete sie mir nun die zärtlichste Neigung zu. Indem wir in diesem traurigen Zustande lebten, hatte mein Bruder den Leichtsinn, Ihnen, mein theurer Graf, Briefe an seine Mutter und an seinen Schwager zu geben, dessen Tod er nicht wußte und den er wieder in der Schweiz vermuthete, und so betraten Sie unser Haus. Ich hatte es nicht über mich vermocht, mein Herz zu zerreißen und meiner Mutter den ganzen Zusammenhang meiner traurigen Geschichte zu erzählen; sie wußte bloß, mein Gemahl und mein Sohn seien gestorben, und sie glaubte keine Unwahrheit zu sagen, wenn sie mich Ihnen als die Wittwe Blainville vorstellte. Ich war es gern zufrieden, diesen Namen zu behalten und das entsetzliche Unglück meines Lebens im Verborgenen zu tragen, denn so konnte mich doch kein rohes Wort verletzen. Im Geheim bemühte sich Dübois immer noch, etwas von meinem Sohn zu erfahren, aber jede Spur seines Daseins war verschwunden.

Ich weiß es, mein theurer Freund, ich trat Ihnen bleich,[89] wie ein Marmorbild entgegen, mit tiefem Kummer im Herzen, voll Abscheu gegen eine Welt, die ich mich zu verlassen sehnte, und dennoch machte dieß vom Schicksal vernichtete Wesen Eindruck auf Ihre Seele und fesselte Ihr Herz. Ach! und ich erkannte mit Dankbarkeit die zarte Aufmerksamkeit eines edeln Gemüths; ich fühlte den milden Trost der Freundschaft, und ein dämmerndes Licht fiel in meine Seele und zeigte mir als schwachen Schatten einen fernen Reiz des Lebens. Ich weiß nicht, ob meine Mutter durch das erlittene Unglück scharfsichtiger geworden war, aber sie bemerkte zuerst Ihre wachsende Neigung und gründete die Hoffnung ihres Alters darauf. Ich gestehe es jetzt, mein edler Freund, mich erfüllte damals der Gedanke an jede andere Verbindung, als die ich glaubte mit dem Himmel geschlossen zu haben, mit Entsetzen, und ich zog mich unwillkührlich von Ihnen zurück und brachte meine Mutter dadurch zur Verzweiflung, die sich nun um ihre letzte Hoffnung betrogen sah. Wenn Sie ahnen könnten, was ich damals litt, Ihr edles Herz würde mich beklagen. Bitten, Thränen, Vorwürfe und Verwünschungen wendete mit wilder Leidenschaftlichkeit meine Mutter an, um mich Ihren Wünschen geneigt zu machen, und ich mußte mir gestehen, daß ihr von Alter, Krankheit und Gram geschwächter Körper diesen zerstörenden Empfindungen nicht lange würde widerstehen können.[90]

Ich glaube, mein theurer Freund, Sie hatten damals eine zu strenge Ansicht von der weiblichen Würde, und bei verschiedenen Gesprächen, die zu meiner Qual über die französische Revolution geführt wurden, äußerten Sie sich hart über die Frauen, die auf irgend eine Weise daran Theil genommen hatten, und als ich ein Mal bemerkte, daß wohl ein hartes Schicksal eine Frau darin verflechten könne, erwiederten Sie mit großer Heftigkeit, daß dieß für eine edle Frau ein unermeßliches Unglück sein würde, denn ein solches männliches Handeln und Leiden würden jeden Reiz der Weiblichkeit vernichten, wie es ja auch Frauen so roh machen kann, fügten Sie hinzu, daß sie fähig sind, nachdem sie kaum den Mann begraben haben, der auf dem Schaffot verbluten mußte, einem andern die Hand zu reichen, und ihm Zärtlichkeit und Liebe zu versprechen, da ihre Seele nur Schauder und Entsetzen sollte fühlen können. Mir würde eine solche Frau, schlossen Sie damals, abscheulich bleiben, so lange ich lebte, und ich begreife nicht, wie irgend ein Mann anders fühlen kann.

Diese Worte, die vielleicht nur ein augenblickliches Gefühl Ihrer Seele, vielleicht nur eine Verstimmung bezeichneten, haben uns beide, mein geliebter Freund, um das reine Glück das Lebens gebracht. Ich, die ich die Pläne und Wünsche meiner Mutter kannte, betrachtete diese mit Wehmuth,[91] denn mir schien jetzt Alles beendigt. Ich beschloß nun, ewig über mein Schicksal gegen Sie zu schweigen, aber mich auch entschieden von Ihnen zurückzuziehen, um nicht Hoffnungen zu nähren, die nicht erfüllt werden konnten, denn nach Ihrem eigenen Geständniß mußten Sie ja aufhören, mich zu lieben, wenn ich im Stande wäre, Ihnen die Hand zu bieten, nachdem ein entsetzliches Unglück mir den ersten Gemahl entrissen hatte, und nur, indem ich Sie über mich täuschte, hätte ich mir Ihre Liebe erhalten können.

Ich sah die Nothwendigkeit ein, meiner Mutter das Unglück meines Lebens in seiner ganzen Ausdehnung mitzutheilen, damit sie sich entschlösse, Hoffnungen, die sie mit Entschiedenheit nährte, aufzugeben. Ich erfüllte diese schwere Pflicht, deren Ausübung mich zu vernichten drohte. Meine Mutter, im Erstaunen über das ihr völlig Neue und Unerwartete, hatte noch die Grausamkeit, mich mit Klagen und Vorwürfen über dieß lange lieblose Schweigen zu bestürmen, und bemerkte ihre Härte erst, als sie mich wie sterbend vor ihr nieder sinken sah. Jetzt erwachte ihre Liebe wieder, und die Verzweiflung, in der ich sie erblickte, als ich wieder zur Besinnung kam, gab mir den Muth, zum Troste der Mutter das Leben zu ertragen.

Damals ahneten Sie nicht, mein theurer Freund, wie tröstend und wie quälend mir Ihre zärtliche Sorge während[92] der Krankheit war, die mich als Folge der stürmischen Auftritte mit meiner Mutter befiel. Es konnte mir nicht mehr verborgen bleiben, daß Sie sich mit leidenschaftlicher Liebe entschieden hatten, Ihr Geschick an das meine zu knüpfen, und sobald es meine Kräfte erlaubten, bat ich meine Mutter, Sie mit der Geschichte meines Lebens bekannt zu machen.

So willst Du mir denn hartnäckig um einer Grille des Grafen Willen alle Hoffnungen auf ein ruhiges Alter rauben? fragte meine Mutter mit Thränen. Können Sie wollen, entgegnete ich, daß ich einen edeln Mann hintergehen soll? Was nennst Du hintergehen? fragte meine Mutter. Wie Ihr Euch alle vereinigtet, mir die Wahrheit zu verschweigen und ich nicht einmal den Namen meines Eidams kannte, habt Ihr alle und die fromme Tante an der Spitze daran gedacht, daß Ihr mich hintergingt? Hat es Euch allen einen Seufzer, eine Thräne gekostet, mir das Geschick meines Kindes zu verheimlichen? Und wenn Dir dieß damals keine Sünde schien, worin liegt denn nun das Unrecht, wenn Du dem zweiten Gemahl die Todesart des ersten verschweigst.

Diese seichten Gründe meiner Mutter konnten meine Empfindung nicht ändern, aber ich fühlte, daß jeder Streit mit ihr, die entschlossen war, ihre Ansicht nicht aufzugeben,[93] fruchtlos sein würde, und ich wollte lieber aus ihren eignen Gefühlen sie bekämpfen und sagte also: Die Verbindung mit dem Grafen, theure Mutter, können Sie selbst ja nicht wünschen, da er Protestant ist. Ich habe darüber, sagte meine Mutter, anders denken gelernt, und obgleich ich Deinen Bruder nicht mehr liebe, so würde ich dennoch verzweifeln, wenn ich mir sagen müßte, ich habe ein Kind für die ewige Verdammniß geboren; kann also mein Sohn als Protestant die Seligkeit finden, so mag dieß meinem künftigen Eidam, den ich als besser und edler erkenne, noch leichter gelingen.

Ich wollte meiner Mutter antworten, und da sie bemerkte, daß ich mich ihren Gründen nicht fügen würde, wählte sie ein anderes sicheres Mittel. Ehe ich reden konnte, kniete sie an meinem Lager nieder, faßte meine Hände und sagte, indem ihre Thränen über die von Kummer gebleichten Wangen flossen: Wenn Du denn nicht um Deinet Willen Deine unglückliche Geschichte verschweigen willst, mein geliebtes Kind, so thue es um meinet Willen; in Deiner Hand liegt nicht bloß das Glück Deines eigenen Lebens, auch die Ruhe einer elenden, unglücklichen Mutter. Zwei Kinder habe ich geboren, eines hat mein Herz zertreten und die flehende Mutter von sich gestoßen; soll ich Euch beide, soll ich auch Dich vor Gott verklagen, daß Du der verschmachtenden[94] Mutter keine Hülfe leisten willst? Nein, o nein! rief ich, in Jammer und Thränen vergehend, mein Loos ruht in Ihren Händen, wenden Sie es, wie Sie wollen. Mit Entzücken drückte mich die Mutter an ihre Brust und ließ mich in ihre Hand einen feierlichen Eid schwören, Ihnen mein erlebtes Unglück zu verschweigen.

So, mein theurer Graf, wurde unsere Vereinigung geschlossen, und da ich über die Hauptsache zu schweigen gelobt hatte, so war es mir gleichgültig, daß ich mit Ihnen als Wittwe Blainville verbunden wurde, und meine Mutter war beruhigt, da sie auf behutsame Erkundigungen, die sie durch ihren Beichtvater eingezogen hatte, erfuhr, die Ehe sei vollkommen gültig, mein Familienname sei die Hauptsache bei dieser neuen Verbindung. Meine Mutter hatte einen Augenblick den Gedanken, meinen Bruder als Zeugen bei unserer Vermählung einzuladen, und auch Sie fanden es natürlich, und ich sah wohl Ihr Erstaunen, als ich mit Schauder und Entsetzen erklärte, daß ich diesen Bruder, die Quelle alles meines Unglückes, nie wieder sehen wollte.

So wandelten wir nun neben einander, und je mehr ich Ihr schönes Herz, Ihren edeln Charakter kennen lernte, um so drückender wurde mir die ausgeübte Falschheit. Meine Mutter dankte mir in jeder einsamen Stunde für das Glück, welches sich durch die liebende Sorge des neuen Eidams[95] über den Rest ihrer Tage breitete, und ihre Aengstlichkeit ließ mich das Versprechen der Verschwiegenheit jeden Tag erneuern; ja in der Sorge, die sie dafür trug, dieß Glück nicht wieder zu verlieren, ging sie so weit, daß sie von mir die schwärzeste Undankbarkeit forderte und verlangte, ich sollte Dübois, diesen Retter meines Lebens, gegen den sie selbst die größten Verpflichtungen hatte, von mir entfernen. Umsonst war es, daß ich ihr jeden Tag wiederholte, ein Wort von mir sei hinreichend, des guten Alten Zunge auf ewig zu fesseln, sie wiederholte mir ewig: Du hast früher Deiner Mutter nicht vertraut, und nun vertraust Du Dein und mein Glück einem Diener.

Mein Herz hatte zu grausame Schläge erlitten, die Kraft der Jugend war gebrochen, es konnte kein leidenschaftliches Gefühl des Glücks mehr durch meinen Busen zittern; mir war nur die Fähigkeit geblieben, den Schmerz auf diese Weise zu empfinden, aber die milde Wärme einer zärtlichen Freundschaft, die sanftere Empfindung einer grenzenlosen Verehrung erfüllte meine ganze Seele, und Sie, geliebter Freund, würden nicht so oft schmerzlich über die Kälte meines Herzens geklagt haben, wenn ich Ihnen in freier Hingebung, ohne Rückhalt, mein Gefühl hätte zeigen können; aber die schönsten Augenblicke innigen Vertrauens wurden mir gestört, jeder Erguß der Herzens gehemmt durch[96] den Gedanken: er kennt Dich nicht, er darf Dich niemals kennen, damit er Dich nicht verabscheut. Ich sah es, Sie waren nicht glücklich in unserer Verbindung, und der nagende Schmerz darüber gab mir die Bitterkeit, die ich eben so oft gegen Andere, als gegen mich selbst wendete; und in dem Grade, wie ich die Liebe Anderer dadurch von mir entfernte, wurde ich unzufriedener mit mir selbst. Sie, geliebter Freund, hatten Geduld mit allen diesen Schwächen, Sie hofften mein Herz von seinem langen Grame zu heilen, und als meine Mutter in unsern Armen verschieden war und ihre letzten Worte uns gedankt hatten für die zärtliche Kindesliebe, die wir ihr bewiesen, da glaubten Sie, mein theurer Gemahl, durch Zerstreuung auf Reisen meinen Kummer überwinden zu können. Sie waren verwundert, meine Abneigung gegen Frankreich zu bemerken, und wir gingen nach Italien. Es giebt wohl keinen Schmerz des Lebens, der sich unter dem milden Himmel Italiens nicht gelindert fühlte. Unser eigenes reges Dasein, unser persönliches Schicksal scheint uns kleiner da, wo eine große Vergangenheit jeden Augenblick ihre ernste, erhabene Sprache zu uns redet, und ich fühle, ich wäre in Italien ruhiger geworden, wenn es möglich wäre, daß eine Mutter aufhören könnte, ein verlornes Kind zu beweinen.

Ich vermochte Dübois, fortwährend geheime Nachforschungen[97] anzustellen, und ich erwartete mit gleicher Unruhe das Gelingen wie das Mißlingen derselben, denn wenn er nun auch das kaum denkbare Glück gehabt hätte, meinen Sohn aufzufinden, mit welcher Stirn wollte ich Ihnen mein so lange verhehltes Schicksal dann noch vertrauen, und würde mir nicht dieses späte, erzwungene Bekenntniß noch gewisser Ihre Liebe rauben, als ein freiwilliges vor unserer Verbindung? Und je mehr Jahre verflossen, je ängstlicher mußte ich mir die Frage wiederholen, wenn ich nun endlich einen Sohn wiederfände, erwachsen unter fremdem Einflusse, ob er mir dann noch die Kindesliebe bieten könne, nach der mein einsames Herz sich sehnte, und ob nicht vielleicht ein gespenstisches Wesen vor mir stehen würde, durch das Blut in seinen Adern mein eigen und durch alle Empfindungen seiner Seele mir fremd.

Diese nie ruhende innere Qual war der Grund, weßhalb meine Gesundheit sich nie wieder befestigte, und Sie mußten die Hoffnung, Vater zu werden, aufgeben und entbehrten um meinet Willen auch dieß Glück, wie beinah jede andere Freude des Lebens, und ich mußte mir gestehen, daß ich mit der innigsten Neigung, mit der zärtlichsten Freundschaft dennoch nichts anders vermocht habe, als Sie um jede Hoffnung und um jede schöne Heiterkeit des Lebens zu bringen,[98] da Sie in einer andern Verbindung wahrscheinlich glücklicher gewesen wären.

Mit zitternder Hand und mit unsäglichen Thränen habe ich diesen Blättern die ganze Tiefe meines Unglücks vertraut, und Ihr schönes Herz wird die Fehler und Irrthümer verzeihen, die unser Leben getrübt haben, und mit Rührung der treuen Gefährtin gedenken, deren innigste Neigung Sie dennoch nicht beglücken konnte, weil das Vertrauen unseren Herzen fehlte.

Quelle:
Sophie Bernhardi: Evremont. Theil 2, Breslau 1836, S. 79-99.
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