Achtes Kapitel

[214] Wieder vergingen einige Wochen, da schickte sich eines Morgens zu früher Stunde alles in Solbakken zum Kirchgang an; es sollte heute Konfirmation sein, – in diesem Jahre etwas zeitiger als gewöhnlich, – und wie immer bei solcher Gelegenheit wurden die Häuser zugeschlossen; denn alle gingen mit. Fahren wollten sie nicht; das Wetter war klar, wenn auch in der Frühe etwas winterlich kalt und rauh; der Tag schien recht schön zu werden. Der Weg zog sich rund um das Kirchspiel und an Granliden vorbei, ließ den Hof links in kurzer Entfernung liegen und erreichte nach einer Viertelmeile die Kirche. Das meiste Korn war schon geschnitten und in Haufen geschichtet; die meisten Kühe waren von der Alm getrieben und gingen kauend an Stricken auf Stoppeln und Gras; die Felder hatten sich zum zweitenmal begrünt oder schimmerten weißgrau;[214] ringsherum dehnte sich der Wald in seiner Farbenbuntheit; die Birke schon kahler, die Espe blaßgoldig, die Eberesche mit vertrockneten, runzligen Blättern, doch voll roter Beeren. Es hatte einige Tage stark geregnet; das niedre Gestrüpp, das sich an den Wegkanten hoch arbeitete oder im Wegsande stand und nieste, erschien reingewaschen und frisch. Aber die Felsen fingen an sich schwerer über das Land zu neigen, je ärger sie der beutegierige Herbst entkleidete und ihnen ein ernstes Aussehen gab; wogegen die Felsbäche, die im Sommer manchmal nur ein Scheindasein führten, sich wild tummelten und mit großem Lärm herunterfuhren; besonders wuchtig und prasselnd tat das der Granlidener, und namentlich unten im Geröll, wo der Fels nicht länger mit wollte, sondern sich nach innen zurückzog. Dort nahm der Bach auf dem Gestein einen tüchtigen Anlauf und sprang mit derartigem Jauchzen herunter, daß der Fels erbebte. Gewaschen wurde der für seine Verräterei, denn der Wasserfall schickte ihm seine kribblichsten Strahlen gerade ins Gesicht. Einige neugierige Elsenbüsche, die sich dem Abhang genähert hatten und beinahe fortgeschwemmt wären, schlucksten jetzt krampfhaft im Wassersbade, denn der Gießbach war heut nicht eben sparsam.

Thorbjörn ging mit seinen Eltern, seinen beiden Geschwistern und den übrigen Hausleuten gerade daran vorbei und sah es sich mit ihnen an; er war wieder ganz zu Kräften gekommen und hatte sich schon ebenso tüchtig wie früher an der Arbeit seines Vaters beteiligt; die zwei waren fast unzertrennlich; so auch heut. – »Ich glaube, hinter uns kommen die Solbakkener«, sagte der Vater. Thorbjörn blickte sich nicht um; aber die Mutter setzte hinzu: »Jawohl, das sind sie; – – aber ich sehe nicht – – – sie sind ja auch noch so weit.« Entweder gingen nun die Granlidener schneller, oder die Solbakkener langsamer, denn der Abstand wurde immer größer und größer; zuletzt verloren sie sich ganz aus den Augen. Es schienen heut[215] viele Menschen zur Kirche zu wollen; der lange Weg war ganz schwarz von Fußgängern, Fahrenden und Reitern; die Pferde waren jetzt im Herbst mutig und wenig daran gewöhnt, mit anderen zusammen zu sein; sie wieherten unaufhörlich, und es steckte eine Unruhe in ihnen, die das Fahren gefährlich, aber sehr vergnüglich machte.

Je mehr sie sich der Kirche näherten, desto größeren Lärm machten die Pferde; jedes, das ankam, wieherte zu den schon dort stehenden hinüber; und diese zerrten am Halfter, trampelten mit den Hinterbeinen und antworteten den Ankömmlingen. Alle Hunde aus dem Kirchspiel, die in der Woche aus weiter Ferne auf einander gelauscht, sich gereizt und angekläfft hatten, trafen sich jetzt vor der Kirche und stürzten sich paarweise oder rudelweise Hals über Kopf auf die Felder zu einer gehörigen Balgerei. Die Menschen standen längs der Kirchenmauer und den Häusern, führten Gespräche im Flüsterton und sahen sich nur von der Seite an. Der Weg vor der Mauer war nicht breit, die Häuser lagen unweit von ihr auf der Seite gegenüber; und gern standen die Frauen und Mädchen an der Mauer, die Männer und Burschen vor den Häusern. Erst später fanden sie den Mut, zueinander hinüberzugehen. Sahen sich Bekannte auf geringen Abstand, dann taten sie, als sähen sie sich nicht, bis nach altem Brauch die Zeit gekommen war; – es konnte ja passieren, daß ein Ausweichen nicht möglich gewesen, daß sie sich begrüßen mußten; aber dann geschah es mit halb abgewandtem Gesicht und knappen Worten; worauf sich beide Teile mit Vorliebe nach ihren verschiedenen Richtungen zurückzogen. Als die Granlidener herankamen, wurde es fast noch stiller wie bisher; Sämund hatte nicht viele zu begrüßen, und so ging es schnell durch die Reihen; aber die Frauen blieben gleich bei den Vordersten stehen. Deshalb mußten die Männer, als sie zur Kirche wollten, erst wieder den Weg zurück und zu den Frauen hinüber; in demselben Augenblick[216] fuhren drei Wagen hintereinander, schärfer als alle früher gekommenen, heran und verlangsamten nicht einmal ihre und Fahrt, als sie in die Menge einbogen. Sämund Thorbjörn, die beinahe überfahren wurden, blickten zu gleicher Zeit auf; im ersten Wagen saßen Knud Nordhoug und ein alter Mann; im zweiten seine Schwester und ihr Mann; im dritten die Eltern, die sich des Hofes begeben hatten. Vater und Sohn sahen sich an. In Sämunds Gesicht veränderte sich kein Zug; Thorbjörn wurde ganz blaß; schnell blickten beide wieder weg und geradeaus; dabei wurden sie die Solbakkener gewahr, die direkt vor ihnen Halt gemacht hatten, um Ingebjörg und Ingrid zu begrüßen. Die Ankunft der Wagen hatte ihr Gespräch abgeschnitten, sie verfolgten mit den Augen die Fahrenden, und es verging eine Weile, bis sie von ihnen ablassen konnten. Als sie allmählich die Überraschung verschmerzt hatten und nach einem Übergang suchten, stießen ihre Blicke auf Sämund und Thorbjörn, die dastanden und hinstarrten. Guttorm drehte sich um; aber seine Frau richtete sofort ihre Augen auf Thorbjörn; Synnöve, die fühlte, daß er sie ansah, wendete sich Ingrid zu und nahm sie bei der Hand, um sie zu begrüßen, obgleich sie es schon einmal getan hatte. Aber alle merkten zu gleicher Zeit, daß ihre Dienstboten und ihre Bekannten ohne Ausnahme sie beobachteten, und nun schritt Sämund direkt hinüber und gab Guttorm mit abgewandtem Gesicht die Hand: »Dank für das vorige Mal!« – »Dir selber Dank für das vorige Mal.« – Ebenso sagte seine Frau: »Dank für das vorige Mal!« – »Dir selber Dank für das vorige Mal«; aber sie blickte gar nicht dabei auf. Thorbjörn ging seinem Vater nach und tat wie er; Sämund kam zu Synnöve; sie war die erste, die er ansah; sie sah auch ihn an, vergaß aber dabei zu sagen: »Dank für das vorige Mal«; nun kam Thorbjörn; er sagte nichts; sie sagte nichts; sie gaben sich die Hand; aber nur ganz lose; keins von beiden schlug die Augen auf, keins konnte den Fuß von der Stelle bewegen. – »Das wird sicher[217] prächtiges Wetter heut«, sagte Karen Solbakken und behielt rastlos die beiden im Auge. Sämund war der erste, der ihr antwortete: »Jawohl, der Wind treibt die Regenwolken weg.« – »Das ist gut fürs Getreide, das noch draußen steht und trockenes Wetter braucht«, sagte Ingrid Granliden und fing an mit den Fingern auf Sämunds Rock herumzubürsten, vermutlich, weil sie glaubte, daß er staubig sei. – »Unser Herrgott hat uns ein gutes Jahr beschert; aber ob alles richtig unter Dach kommt, das ist noch ungewiß«, sagte Karen Solbakken wieder und sah beständig auf die beiden, die noch immer regungslos dastanden. »Das kommt auf die Zahl der Arbeitskräfte an«, sagte Sämund und stellte sich vor sie hin, daß sie nicht dorthin sehen konnte, wohin sie gern wollte, »ich habe mir gedacht, wenn sich ein paar Höfe zusammentäten, würd' es besser gehen.« – »Sie wollen aber vielleicht das trockene Wetter zu derselben Zeit ausnutzen«, sagte Karen und trat einen Schritt zur Seite. – »Na ja,« sagte Ingebjörg und stellte sich neben ihren Mann, so daß Karen gar nicht dorthin sehen konnte, wohin sie gern wollte; »aber auf manchen Feldern ist das Korn früher reif als auf anderen; Solbakken ist uns oft vierzehn Tage voraus.« – »Da könnten wir einander ja gut aushelfen«, sagte Guttorm langsam, und näherte sich einen Schritt. Karen warf ihm einen schnellen Blick zu. – »Es könnte jedoch auch vielerlei dazwischen kommen«, fügte er hinzu. – »So ist es«, sagte Karen und machte einen Schritt nach der einen, dann einen Schritt nach der anderen Seite, dann noch einen und endlich einen zurück. – »Ja, oft steht einem vielerlei im Wege«, sagte Guttorm nicht ohne seinen Mund ein klein wenig zum Lachen zu verziehen. – »Wenn das so ist ...«, sagte Guttorm; aber seine Frau warf schnell dazwischen: »Menschenkraft reicht nicht weit; Gottes Kraft ist die größte, sollte ich glauben, und auf ihn kommt es an.« – »Er wird wohl nichts besonderes einzuwenden haben, wenn wir uns in Solbakken und Granliden bei der Ernte helfen?« sagte[218] Sämund. »Nein,« versetzte Guttorm, »dagegen kann er nichts einwenden«; und er blickte ernst seine Frau an. Die suchte dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. »Heut ist lebhafter Kirchgang,« sagte sie; »es tut einem wohl, die Menschen zu sehen, die zum Gotteshause streben.« Keiner schien ihr antworten zu wollen, – da sprach Guttorm: »Ich glaube wohl, die Gottesfurcht nimmt zu; jetzt kommen mehr in die Kirche als in der Zeit, da ich jung war.« – »Ja, ja, – das Volk vermehrt sich«, sagte Sämund. – »Es sind wohl viele darunter – vielleicht der größte Teil, – die nur die Gewohnheit hertreibt«, erwiderte Karen Solbakken. – »Vielleicht die jüngeren«, sagte Ingebjörg; und Sämund darauf: »Die wollen sich wohl gern hier treffen.« – »Habt Ihr gehört, daß sich der Pastor um eine andere Pfarre beworben hat?« sagte Karen und suchte dem Gespräch abermals eine Wendung zu geben. »Das wäre schlimm,« versetzte Ingebjörg, »er hat alle meine Kinder getauft und auch konfirmiert.« – »Nun soll er sie wohl auch noch erst trauen?« fragte Sämund und biß auf einen Span, den er gefunden hatte. – »Ich wundere mich, – der Gottesdienst muß doch bald anfangen«, sagte Karen und sah nach der Kirchentür. – »Ja, hier draußen ist es heut heiß«, antwortete Sämund. – »Komm, Synnöve, wir wollen jetzt hineingehen.« – Synnöve fuhr zusammen; denn sie hatte gerade mit Thorbjörn gesprochen. – »Willst Du nicht warten, bis es läutet?« sagte Ingrid und schielte verstohlen nach Synnöve; »dann können wir alle zusammengehen«, setzte sie zu. Synnöve wußte nicht, was sie antworten sollte. Sämund drehte sich um und sah sie an. »Wart's ab, dann läutet es bald – für Dich«, sagte er. Synnöve wurde ganz rot; ihre Mutter sandte Sämund einen bösen Blick; aber der lächelte ihr zu: »Das wird so, wie unser Herrgott will; hast Du das nicht vorhin selbst gesagt?« – Und dann schlenderte er voraus, auf die Kirche zu; die anderen folgten ihm.

Vor der Kirchentür entstand ein Gedränge und bei[219] näherer Untersuchung fand es sich, daß sie noch gar nicht offen war. Gerade als einige fortgingen, um nach dem Grund zu fragen, wurde sie aufgemacht, und die Menschen strömten hinein; aber etliche gingen wieder zurück, wodurch die Herankommenden voneinander getrennt wurden. Oben an der äußeren Wand der Kirche standen zwei Männer im Gespräch; der eine von ihnen, – groß und derb, mit blondem, aber struppigem Haar und einer Stumpfnase, – das war Knud Nordhoug; als er die Granlidener unweit vor sich sah, brach er das Gespräch ab; es wurde ihm etwas wunderlich zumut, – aber er blieb stehen. Sämund mußte gerade an ihm vorbei, und tat's nicht, ohne ihm einige Blicke zuzuwerfen; Knud schlug die Augen nicht nieder; aber sie flackerten doch etwas. Dann kam Synnöve; und sobald sie unerwartet Knud vor sich sah, wurde sie leichenblaß. Da schlug Knud die Augen nieder und trat von der Wand zurück, um fortzugehen. Er hatte kaum ein paar Schritte gemacht, da sah er vier Gesichter, deren Augen auf ihn gerichtet waren; Guttorm und seine Frau, Ingrid und Thorbjörn. Verwirrt wie er war, ging er direkt auf sie zu, so daß er bald wider Wissen und Willen fast Kopf an Kopf mit Thorbjörn stand; erst schien er sich beiseite drücken zu wollen; aber der Menschen wegen, die kamen und gingen, machte sich das nicht so leicht. Ihre Begegnung erfolgte gerade auf den Steinfließen vor dem Kircheneingang; oben auf der Schwelle der Vorhalle war Synnöve stehen geblieben; Sämund etwas hinter ihr; sie konnten von ihrem höheren Platz aus deutlich von allen draußen gesehen werden und alle sehen. Für Synnöve war alles andere versunken; sie starrte nur auf Thorbjörn; ebenso Sämund, seine Frau, das Ehepaar aus Solbakken und Ingrid. Das merkte und fühlte Thorbjörn; er stand wie festgenagelt; aber Knud dachte, daß er jetzt etwas tun müsse, und darum streckte er die eine Hand etwas vor, aber er sagte nichts. Auch Thorbjörn streckte eine Hand vor; aber nicht soweit, daß sich die Hände beider fassen konnten. »Dank[220] für ...« fing Knud an, besann sich jedoch schnell, daß dieser Gruß nicht recht hierher paßte, und trat einen Schritt zurück. Thorbjörn sah hoch, sein Blick traf Synnöve, die weiß wie Schnee war. Er tat einen tüchtigen Schritt vorwärts, ergriff kräftig Knuds Hand und sagte, sodaß es die Nächsten hören konnten: »Dank für das vorige Mal – das kann uns beiden eine gute Lehre gewesen sein.«

Knud gab einen Laut, ungefähr wie einen Schluckser, von sich und versuchte zwei- oder dreimal etwas zu sagen; aber es gelang ihm nicht. Thorbjörn hatte nichts mehr zu sagen und wartete – er sah nicht auf; er wartete nur. So fiel kein Wort mehr zwischen beiden, doch wie Thorbjörn noch immer dastand und dabei sein Gesangbuch in den Händen herumdrehte, fiel es zur Erde. Sofort bückte sich Knud, hob es auf und reichte es ihm. »Ich danke Dir«, sagte Thorbjörn, der sich gleichfalls gebückt hatte; er blickte auf, aber da Knud wieder zu Boden schaute, dachte Thorbjörn: das beste ist, ich gehe jetzt. Und dann ging er.

Die anderen gingen ebenfalls, und als sich Thorbjörn hingesetzt hatte und eine Weile darauf zu den Frauen hinübersah, traf sein Blick Ingebjörg, die ihm mütterlich zulächelte, und Karen Solbakken, die sicher darauf gewartet hatte, er möge hinübersehen; denn sobald er sie ansah, nickte sie ihm dreimal zu; und als ihn dies stutzig machte, nickte sie wieder dreimal, und noch freundlicher als zuvor. – Vater Sämund flüsterte ihm in das Ohr: »Das habe ich mir gleich gedacht.« Das Einleitungsgebet war gesprochen, das erste Lied aus dem Gesangbuch gesungen, schon stellten sich die Konfirmanden auf, da erst flüsterte Sämund wieder: »Aber dem Knud wird's nicht leicht, gut zu sein; lasse es immer recht weit von Granliden nach Nordhoug bleiben.«

Die Konfirmation begann; der Pastor trat hervor, und die Kinder stimmten das Einsegnungslied von Kingo an. Wenn nun dieser Kinderchor und nur dieser Kinderchor[221] so voll Vertrauen und so hell singt, dann werden die älteren Leute sehr gerührt, und besonders diejenigen, die ihre eigene Konfirmation noch frischer im Gedächtnis haben. Wenn dann tiefe Stille eintritt, und der Pastor, seit mehr als zwanzig Jahren derselbe, der für jeden einzelnen immer eine schöne Stunde übrig gehabt hatte, da er ihn auf ein Höheres hingewiesen, – wenn dieser Pastor die Hände faltet und zu reden anhebt, dann wächst die Rührung in der Gemeinde. Und den Kindern kommen die Tränen, wenn er sich an die Eltern wendet und sie auffordert, für ihre Kinder zum lieben Gott zu beten. Thorbjörn, der vor kurzem dem Tode nahe gewesen und unlängst noch geglaubt hatte, er werde sein Lebenlang siech bleiben, weinte heftig, besonders als die Kinder ihr Gelübde ablegten, und alle in der tiefsten Überzeugung, daß sie es auch halten könnten. Er sah nicht ein einzigesmal zu den Frauen hinüber; aber nach dem Gottesdienst ging er zu Ingrid und flüsterte ihr etwas ins Ohr; dann ging er schnell durch das Gedränge hinaus. Einige wollten wissen, daß er über den Hügel dem Walde zu statt auf der Fahrstraße geschritten sei; aber sicher wußten sie es auch nicht. Sämund suchte ihn, gab es aber auf, als er entdeckte, daß Ingrid ebenfalls fort war; dann suchte er die Solbakkener; Guttorm und Karen liefen überall herum und fragten jeden nach Synnöve; aber zufällig hatte keiner sie gesehen. Da zogen sie nach Hause, jedes Ehepaar für sich, doch ohne ihre Kinder.

Doch weit vorn auf der Straße gingen Synnöve wie auch Ingrid. »Fast tut es mir leid, daß ich mitgekommen bin«, sagte jene. – »Jetzt ist es nicht mehr so gefährlich; Vater weiß es ja«, antwortete die andere. – »Aber er ist doch nicht mein Vater«, sagte Synnöve. »Wer weiß?« entgegnete Ingrid – und dann sprachen sie nicht mehr darüber. – »Hier sollten wir ja warten«, sagte Ingrid, als sie bei einer scharfen Wegkante an einen dichten Wald kamen. – »Er hat einen weiten Umweg zu machen«, versetzte Synnöve. – »Er ist aber schon[222] da«, fügte Thorbjörn hinzu, der hinter einem großen Stein gestanden hatte und nun hervortrat.

Er hatte sich alles, was er sagen wollte, fix und fertig im Kopf zurecht gelegt, und er hatte nicht wenig zu sagen. Aber heut sollte es auch frisch heraus, weil sein Vater es wußte und damit einverstanden war; das glaubte Thorbjörn nach den Vorgängen heute bei und in der Kirche bestimmt annehmen zu können. Den ganzen Sommer hatte er sich nach einer Aussprache gesehnt, und da mußte er doch heute freier reden können als früher!

»Am besten gehen wir wohl auf dem Waldweg,« sagte er, »da kommen wir rascher vorwärts.« Die beiden Mädchen sagten nichts, aber folgten ihm. Eigentlich hatte er sofort mit Synnöve reden wollen; aber dann wollte er doch lieber bis jenseits des Hügels warten, und dann, bis sie den Sumpf hinter sich hatten; dort aber meinte er, sie müßten erst weiter in den Wald hineinkommen. Ingrid, die recht gut merkte, daß die entscheidenden Worte zwischen den beiden nicht flott in Fluß gerieten, verlangsamte ihre Schritte, und blieb mehr und mehr zurück, bis sie schließlich nicht mehr zu sehen war. Synnöve tat, als merke sie das nicht, bückte sich hier und da nach einer Beere am Wegsaum, und pflückte sie.

»Das müßte doch merkwürdig zugehen, wenn ich nicht mit der Sprache heraus könnte,« dachte Thorbjörn, und so sagte er: »Schönes Wetter heute.« – »Recht schönes Wetter«, antwortete Synnöve. Sie schritten ein Stückchen weiter, sie suchte Beeren – und er, er ging daneben. – »Das war hübsch von Dir, daß Du mitgekommen bist«, sagte er dann; sie entgegnete nichts. – »Wir haben einen sehr langen Sommer gehabt«, fing er wieder an; aber darauf antwortete sie gar nichts. – Nein, solange wir gehen, dachte Thorbjörn, kommen wir nicht ordentlich zum Reden. »Wollen wir nicht auf Ingrid warten?« fragte er. – »Ja, das wollen wir«, entgegnete Synnöve und blieb stehen. Hier[223] gab es keine Beeren, und so konnte sie sich auch nicht danach bücken; das hatte Thorbjörn ganz gut gesehen; aber Synnöve pflückte einen langen Grashalm, und nun stand sie da und zog die Beeren auf dem Halm auf.

»Heute mußte ich immer an die Zeit denken, wie wir zusammen zur Konfirmation gegangen sind«, sagte er. »Daran mußte ich auch immer denken«, erwiderte sie. – »Seitdem ist eine Menge passiert« – und da sie still blieb, fuhr er fort: »aber meistens Geschichten, die wir nicht erwartet haben.« Synnöve hatte viel mit Halm und Beeren zu tun und mußte den Kopf dabei senken; er trat einen Schritt vor sie hin, um ihr in das Gesicht zu sehen; doch als ob sie's merke, veränderte sie ihre Stellung so, daß er gezwungen wurde, sich wieder anders zu drehen. Da bekam er fast Angst, daß er seine Angelegenheit nicht vorwärts bringe. »Synnöve, Du hast mir doch etwas zu sagen?« Sie sah auf und lachte. »Was soll ich Dir zu sagen haben?« Er gewann seinen alten Mut wieder und wollte sie umfassen; aber als er ihr nahe kam, traute er sich nicht recht und fragte nur ganz geduckt: »Ingrid hat doch mit Dir geredet?« – »Ja«, antwortete sie. »Dann mußt Du auch etwas wissen«, sprach er weiter. Sie schwieg. »Dann mußt Du auch etwas wissen«, wiederholte er, und trat noch einmal auf sie zu. »Du mußt wohl auch etwas wissen«, entgegnete sie; – ihr Gesicht konnte er nicht sehen. »Ja«, sagte er, und wollte ihre eine Hand fassen; aber sie war gerade zu sehr mit dem Halm beschäftigt. »Dumme Geschichte das,« sagte er, »Du machst mich immer kleinmütig.« – Weil er nicht bemerken konnte, daß sie darüber lächelte, wußte er nicht, wie er fortfahren sollte. »Kurz und gut,« stieß er plötzlich mit starker, aber doch etwas unsicherer Stimme vor: »Was hast Du mit dem Zettel gemacht?« Sie antwortete nicht; wandte sich aber ab. Er folgte ihrer Bewegung, legte die eine Hand auf ihre Schulter und neigte sich ihr zu: »Antworte mir«, flüsterte er. – – »Ich hab' ihn verbrannt.« – –[224]

Er nahm sie und drehte sie zu sich hin, aber als er sah, daß ihr die Tränen in die Augen traten, da blieb ihm nichts anderes übrig als sie loszulassen; – das ist doch ärgerlich, daß ihr die Tränen so locker sitzen, dachte er. Mit einem Mal sagte sie; – jedoch ganz leise: »Warum hast Du den Zettel geschrieben?« – »Das hat Ingrid Dir ja gesagt.« – »Ja wohl; aber – sehr böse und hart war's von Dir.« – »Vater hat's gewollt.« – »Trotzdem –« – »Er hat geglaubt, ich würde mein ganzes Leben lang ein kranker Mensch bleiben; aber jetzt bin ich soweit, daß ich für Dich sorgen kann«, sagte er.

Ingrid erschien unten am Hügel, und da machten sich die beiden wieder auf den Weg.

»Damals, als ich glaubte, ich könnte Dich nicht mehr kriegen, warst Du mir am nächsten«, sprach er. – »Wenn man allein ist, geht man prüfend in sich«, erwiderte sie. – »Ja, da zeigt sich's am besten, wer die größte Macht über uns hat«, sagte Thorbjörn und schritt ernst neben ihr her.

Jetzt pflückte sie keine Beeren mehr. »Willst Du ein paar haben?« fragte sie und reichte ihm den Halm hin. »Danke«, antwortete er und hielt ihre Hand fest. »Dann ist es wohl besser, es bleibt beim alten«, brachte er mit etwas schwankender Stimme hervor. – »Ja«, flüsterte sie unhörbar, und wandte den Kopf ab; nun gingen sie weiter, und solange sie schwieg, traute er sich nicht, sie zu berühren oder mit ihr zu sprechen; aber sein ganzer Körper wurde mit einemmal so leicht, so leicht – und beinahe wäre er hingepurzelt. Vor seinen Augen flimmerte und brannte es; und da Synnöve und er nun auf einen Hügel kamen, von dem sie Solbakken gut übersehen konnten, war es ihm, als sei er sein ganzes Leben dort drüben zu Hause gewesen, und habe Heimweh dahin gehabt. »Ich gehe gleich mit ihr hinüber,« dachte er, schritt aus, und schöpfte sich aus dem Bilde, das sich ihm bot, immer neuen Mut, so daß sein Vorsatz sich mit jedem Schritt befestigte. »Vater hilft mir,«[225] dachte er; »ich ertrag's nicht länger«, und er ging schnell und schneller, immer geradeaus. Kirchspiel und Hof lagen in hellem Licht. »Ja, heute! Nicht eine Stunde wart' ich länger,« und er fühlte sich so stark, daß er im Augenblick nicht wußte, wie er das betätigen solle.

»Du reißt mir ja beinah aus,« hörte er eine sanfte Stimme hinter sich rufen. Es war Synnöve; vergebens hatte sie versucht, ihm nachzukommen, und mußte es jetzt aufgeben. Er schämte sich recht, kehrte um, ging mit ausgestreckten Armen auf sie zu und dachte: jetzt will ich sie mal gleich hoch in die Luft schwenken; aber als er bei ihr war, ließ er es lieber bleiben. »Ich gehe zu schnell«, sagte er. »Ja, viel zu schnell«, antwortete sie.

Nun waren sie der Landstraße nahe; Ingrid, die in der ganzen Zeit unsichtbar geblieben, war auf einmal dicht hinter ihnen. »Nun dürft Ihr nicht länger zusammengehen«, sagte sie. Das war Thorbjörn etwas zu früh, er erschrak; auch Synnöve wurde etwas beklommen. »Ich habe Dir noch so viel zu sagen«, flüsterte er. Sie konnte ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken. »Ja, ja,« sagte er, »das nächste Mal« – und ergriff ihre Hand.

Mit klarem, vollem Blick sah sie zu ihm auf; ihm wurde ganz warm, und wieder schoß ihm der Gedanke durch den Kopf: »Ich gehe gleich mit ihr.« Da zog sie behutsam ihre Hand zurück, wandte sich ruhig zu Ingrid, sagte ihr Lebewohl und schritt langsam zur Straße hin. Und er, er blieb, wo er war.

Die Geschwister gingen durch den Wald nach Hause. »Habt Ihr Euch ausgesprochen?« fragte Ingrid. – »Nein, der Weg war zu kurz«, antwortete er; aber ging so schnell, als ob er nichts mehr hören wolle.

»Na?« sagte Sämund und sah vom Mittagessen auf, als die Geschwister in die Stube traten. Thorbjörn antwortete nicht; er ging zu der Bank der gegenüberliegenden Wand, vermutlich, um seinen Rock auszuziehen; Ingrid ging ihm nach und kicherte. Sämund[226] fing wieder an zu essen, blickte dann und wann auf Thorbjörn, tat dabei, als sei er mit dem Essen sehr beschäftigt, lachte leise vor sich hin und aß weiter. »Komm her und iß,« rief er, »sonst wird das Essen kalt.« – »Danke, ich habe keinen Hunger«, antwortete Thorbjörn und setzte sich. »So?« – und Sämund aß. Nach einem Weilchen sagte er: »Ihr wart ja heut mit einemmal aus der Kirche.« – »Wir hatten mit jemand zu reden«, erwiderte Thorbjörn und hockte mit krummem Buckel. – »Na, habt Ihr denn mit ihm geredet?« – »Das weiß ich fast selber nicht«, versetzte Thorbjörn. – »Den Teufel auch«, brummte Sämund und aß. Es dauerte nicht lange mehr, da war er fertig und stand auf; er ging zum Fenster, blieb stehen und sah hinaus; bald darauf drehte er sich um: »Du, komm, wir wollen ein bißchen aus und uns die Felder besehen.« Thorbjörn stand auf. »Nein, zieh Dir erst den Rock an.« Thorbjörn, der in Hemdsärmeln dagesessen hatte, nahm einen alten Arbeitsrock, der hinter ihm hing. – »Siehst Du nicht, daß ich den guten anhabe?« rief Sämund. Nun zog Thorbjörn auch seinen Sonntagsrock an. Dann gingen sie fort; Sämund voran, Thorbjörn hinterher.

Sie nahmen die Richtung der Fahrstraße. »Wollen wir nicht zur Gerste?« fragte Thorbjörn. »Nein, zum Weizen«, antwortete Sämund. Gerade als sie auf die Straße kamen, fuhr ein Wagen langsam auf sie zu. »Der Wagen ist aus Nordhoug«, sagte Sämund. – »Das Jungvolk von Nordhoug sitzt drin«, fügte Thorbjörn hinzu; Jungvolk bedeutet nämlich das junge Paar.

Der Wagen hielt, als die Granlidener herankamen. »Wirklich ein Staat von Frauenzimmer ist die Marit Nordhoug«, flüsterte Sämund, und wandte kein Auge von ihr; sie saß etwas zurückgelehnt im Wagen und hatte ein Tuch lose um den Kopf, ein andres um den Nacken und die Brust geschlungen; sie blickte steif vor sich hin und auf die beiden Fußgänger. Der Mann sah sehr blaß und mager und noch sanfter als früher aus, etwa wie[227] einer, der Kummer hat und sich ihn nicht vom Herzen reden kann.

»Ihr seid wohl aus, um nach dem Korn zu sehen?« fragte er. – »Das will ich meinen«, antwortete Sämund. – »Gut steht's dies Jahr.« – »Hat schon schlechter gestanden.« – »Ihr kommt heute spät zurück«, sagte Thorbjörn. – »Hatte zu vielen Adieu zu sagen.« – »Was? – willst Du denn verreisen?« fragte Sämund. – »Ja, das will ich, ja.« – »Weit?« – »Ach, ja.« – »Wie weit denn?« – »Nach Amerika.« – »Nach Amerika?« riefen die beiden Granlidener auf einmal. »Ein Mann, der sich eben erst verheiratet hat!« setzte Sämund hinzu. Der Mann lächelte. »Ich glaube, ich bleibe von wegen meinem Fuß hier, sprach der Fuchs, da saß er im Eisen fest.« Marit sah ihn und darauf die anderen an; eine leichte Röte flog über ihr Gesicht; aber kein Zug veränderte sich. – »Die Frau geht wohl mit?« fragte Sämund. – »Nein, das tut sie nicht.« – »In Amerika soll man's leicht zu was bringen«, sagte Thorbjörn, – er hatte die Empfindung, das Gespräch dürfe nicht stocken. – »Na, ja«, sagte der Mann. – »Aber Nordhoug hat doch guten Boden und ist groß«, versetzte Sämund. – »Es sind zu viele drauf«, antwortete der Mann; seine Frau sah ihn wieder an. »Der eine steht dem andern im Wege«, fügte er hinzu.

»Glückliche Reise!« sagte Sämund und gab ihm die Hand. »Gott lasse Dich finden, was Du suchst.«

Thorbjörn blickte seinem Schulkameraden lange und fest in die Augen: »Ich möchte später noch mit Dir reden«, sagte er. – »Es tut einem gut, wenn man mit jemand reden kann«, antwortete der Mann und schrapte mit dem Peitschenstiel auf dem Boden des Wagens.

»Komm doch mal zu uns«, sagte Marit; und Thorbjörn und Sämund sahen fast verdutzt die Frau an; es war ihnen immer wieder etwas Neues, daß sie eine so sanfte Stimme hatte.

Das Paar fuhr weiter; langsam rollte der Wagen dahin; eine kleine Staubwolke umkreiste ihn, die Abendsonne[228] senkte ihre Strahlen gerade auf ihn herunter; vom dunklen Friesrock des Mannes hoben sich flimmernd und schimmernd die seidenen Tücher der Frau ab; – ein Hügel kam; der Wagen verschwand.

– – Lange schritten Vater und Sohn nebeneinander her, bis einer ein Wort sprach. »Ich glaube, ich irre mich nicht; es wird lange dauern, bis der wiederkommt«, meinte Thorbjörn, und Sämund antwortete: »Ist auch das beste, wenn einer sein Glück nicht im Lande gefunden hat.« – Und sie schritten wieder stumm weiter. »Du gehst ja am Weizen vorbei«, rief Thorbjörn. »Den besehen wir uns auf dem Rückweg«; – und sie schritten weiter. Thorbjörn mochte nicht mehr fragen wohin; denn die Granlidener Feldmark ließen sie hinter sich.

Quelle:
Björnson, Björnstjerne: Gesammelte Werke. Berlin [1911], Band 1, S. 214-229.
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