Drittes Kapitel

[160] Bald wurde ringsum im ganzen Kirchspiel allerhand über die beiden geredet; aber etwas Sicheres wußte keiner zu sagen. Nie wurde Thorbjörn nach der Konfirmation in Solbakken gesehen; und das konnten die Leute gar nicht begreifen. Ingrid kam oft hinunter, und dann machten sie und Synnöve gern einen Spaziergang in den Wald. – »Bleib nicht zu lange«, rief Synnöves Mutter der Tochter nach. – »Nein«, antwortete sie – und kam erst abends nach Hause. Die beiden Freier stellten sich wieder ein. »Sie soll selbst darüber bestimmen«, sagte die Mutter, und der Vater meinte dasselbe; als sie nun Synnöve beiseite nahmen, gab sie ihnen für die Bewerber einen Korb. Es meldeten sich mehr; aber niemand hörte, daß einer mit seinem Antrag in Solbakken Glück gehabt hatte. Eines Tages scheuerten Mutter und Tochter zusammen Milchkübel, und da fragte die Mutter, wer ihr eigentlich in Gedanken liege; das kam dem Mädchen so unerwartet, daß es ganz rot wurde. »Hast Du Dich schon einem versprochen?«[160] fragte die Mutter weiter und sah sie fest dabei an. »Nein«, antwortete Synnöve schnell. Seitdem wurde von dergleichen nicht mehr geredet.

Da sie weit und breit für die beste Partie galt, folgten ihr lange Blicke, wenn sie zur Kirche ging, der einzigen Stätte, wo sie außer dem Hause zu sehen war; sie beteiligte sich nämlich nicht am Tanz oder sonstigen lauten Festlichkeiten, weil ihre Eltern zu den Haugianern gehörten. Thorbjörn saß ihr im Kirchstuhl gerade gegenüber; aber sie sprachen, soweit es zu bemerken war, nie zusammen. Soviel meinten alle zu wissen, daß etwas mit den beiden sein mußte, und da sie nicht in derselben Weise wie andere Liebespärchen miteinander verkehrten, wurde desto mehr über sie gesprochen. Thorbjörn war nicht sehr beliebt. Das empfand er selbst; denn er stellte sich besonders ungeschlacht an, wenn er unter die Leute kam, wie beim Tanz oder auf Hochzeiten, und dadurch passierte es ihm wiederholt, daß er in eine Rauferei verwickelt wurde. Das ließ aber nach, als er einigen beigebracht hatte, wie stark er war; und dadurch wieder gewöhnte er sich, auf seinem Weg keinen andern zu dulden. – »Nun hast Du freie Hand über Dich,« sagte sein Vater Sämund, »aber denke dran, daß meine vielleicht doch noch stärker ist als Deine.«

Der Herbst, der Winter verging, der Frühling kam heran, und noch immer hatten die Leute nichts Gewisses heraus. Die Körbe, die Synnöve ausgeteilt hatte, und das Gerede darüber bewirkten, daß sie sich fast allein überlassen blieb. Nur Ingrid leistete ihr Gesellschaft; sie sollten auch zusammen auf die Alm in diesem Jahr, da die Solbakkener einen Anteil an der Granlidener Weide oben gekauft hatten. Thorbjörn richtete mancherlei für sie, und man hörte ihn dabei laut von der Höhe heruntersingen.

Einmal als er kurz vor der Abenddämmerung mit seiner Arbeit fertig war, setzte er sich hin und dachte über alles mögliche nach; doch hauptsächlich über die[161] Redereien der Leute. Er streckte sich in das rotbraune Heidekraut, legte die Hände unter den Kopf und starrte zum Himmel, der sich über den dichten Baumkronen blau und leuchtend hinzog; die grünen Blätter und Nadeln flossen wie ein zitternder Strom hinein und die dunklen Zweige zeichneten seltsame, wilde Figuren darauf. Der Himmel selbst war nur dann genau dort zu sehen, wenn ein Blatt beiseite flatterte; weiter oben zwischen den Kronen, die einander nicht nahe kamen, brach er wie eine breite Bergflut hervor und lief in lustigen Schwingungen über ihnen hin. Dadurch kam Thorbjörn in eine eigene Stimmung, und seine Gedanken beschäftigten sich weiter mit dem, was er sah. – –

– – Die Birke lachte wieder mit tausend Augen zur Tanne auf; die Kiefer starrte voll stummer Verachtung mit ihren Nadeln nach allen Seiten; denn jedesmal, wenn die Lüfte weicher wurden, schossen mehr und mehr Siechlinge auf, rannten ihr in den Weg und steckten ihr das frische Laub gerade unter die Nase. »Ihr Bande, wo wart Ihr denn im Winter?« fragte die Kiefer, fächelte sich und schwitzte Harz bei der unerträglichen Hitze. »Das ist beinah zu toll – so hoch im Norden – pfui!«

Aber da war noch eine, – eine alte, kahle Kiefer, die über alle übrigen Bäume hinwegsah, und doch einen fingerreichen Zweig fast lotrecht niederbeugen und einen dreisten Ahorn ganz oben am Schopf nehmen konnte, so daß ihm die Knie zitterten. Dieser klafterdicken Kiefer hatten die Menschen nach der Spitze zu immer mehr und mehr Zweige abgeholzt, bis ihr einmal die Geschichte zu bunt wurde und sie derart seitwärts schoß, daß die dünne Fichte neben ihr einen Schreck kriegte und sie fragte, ob sie nicht an die Winterstürme denke. »Na und ob!« sagte die Kiefer und klatschte ihr mit Hilfe des Nordwinds so heftig eins um die Ohren, daß sie fast ihre Haltung und Würde dabei verlor; und das war recht schlimm. Die gliederstarke, finstere Kiefer hatte nun mit einem mächtigen Fuß Boden gefaßt; sechs Ellen hoch ragten die Zehen aus[162] der Erde; und daß sie dicker waren als an ihrer dicksten Stelle die Weide, hatte die Weide selbst eines Abends verschämt dem Hopfen zugeflüstert, als er sie verliebt umspannte. Ihrer Kraft war sich die bärtige Kiefer voll bewußt; Zweig an Zweig jagte sie hoch über der Menschen Machtbereich in die wilde Luft, und rief dabei den Menschen zu: »Nun, holt sie Euch!«

»Nein, die können sie Dir nicht fortholen«, sagte der Adler, ließ sich gnädig auf der Kiefer nieder, schlug die Flügel mit Anstand zusammen und wischte sich einige häßliche Flecke Viehblut vom Gefieder. – »Ich meine, ich könnte die Königin bitten, hier ihren Aufenthalt zu wählen; – sie ist trächtig mit mehreren Eiern; sie wird bald legen«, fügte er leiser hinzu und senkte den Blick auf seine kahlen Füße; er schämte sich, daß ihn holde Erinnerungen an jene frühesten Lenztage überkamen, da die erste Sonnenwärme halbtoll macht. Bald hob er die Augen wieder und sah starr unter den buschigen Brauen auf zu den schwarzen Felsrücken, ob nicht die eierschwere, kränkelnde Königin von dort herniedersegele. Er flog auf, und schon konnte die Kiefer das Paar in der klaren, blauen Luft erkennen, wie es in gleicher Linie mit dem höchsten Felsgipfel dahinstrich und über seine häuslichen Angelegenheiten verhandelte. Sie war nicht frei von einer gewissen Unruhe; denn so vornehm sie sich auch schon dünkte, so mußte sie doch noch vornehmer werden, wenn sie ein Adlerpaar wiegte. Es kam herab, kam direkt auf sie zu; ohne einen Ton von sich zu geben, begann es eifrig Reisig heranzuschaffen. Die Kiefer machte sich, wenn möglich, noch breiter, – daran konnte sie keiner hindern.

Aber im ganzen Wald erhob sich ein eifriges Geraune, als alles sah, was für eine Ehre der Riesenkiefer erwiesen wurde. Da war unter anderen auch eine kleine, nette Birke, die sich in einem Weiher spiegelte und sich ein gewisses Anrecht auf die Liebe eines Hänflings einredete, der auf ihr gewöhnlich seinen Mittagsschlaf hielt. Sie hatte ihm ihren Duft in den Schnabel gehaucht, Fliegen[163] und Mücken auf ihre Blätter festgeklebt, so daß sie leicht genug zu fangen waren, ja, zuletzt hatte sie in der Hitze ein dichtes Häuschen von Zweigen gebaut und mit Blättern gedeckt, so daß der Hänfling wirklich im Begriff war, es als Sommerwohnung zu benutzen. Jetzt aber: der Adler hatte sich in der Riesenkiefer festgesetzt, und fort mußte der Hänfling. Ach, die Trauer! Er trillerte noch ein Abschiedslied; aber nur ganz leise, damit es der Adler nicht höre.

Nicht besser erging es einigen kleinen Sperlingen im Elsenstrauch. Sie hatten dort ein so sündiges Leben geführt, daß die Drossel, nebenan in der Esche, nie zur gehörigen Zeit schlafen konnte, oft ganz außer sich wurde und schimpfte. Das hatte einen ernsten Schwarzspecht derart zum Lachen gebracht, daß er beinah vom Ast gepurzelt wäre. Nun sahen sie den Adler auf der Riesenkiefer; und Drossel, Sperlinge, Schwarzspecht und alles, was fliegen konnte, mußte über Hals und Kopf fort, über und unter die Zweige. Die Drossel versicherte auffliegend mit einem Fluch, daß sie nie mehr eine Wohnung nehmen werde, in deren Nachbarschaft Sperlinge hausten.

So stand der Wald in weitem Umkreis verlassen und nachdenklich im heiteren Sonnenschein. Er sollte Freude an der Kiefer haben; aber die Freude war recht mäßig. Kam der Nordwind, dann bog er sich bange, dann peitschte die Riesenkiefer mit ihren mächtigen Zweigen die Lüfte, – ruhig und bedachtsam umflog sie der Adler, als ob ihn nur ein schwacher Windstoß streifte und etwas kümmerlichen Weihrauch vom Wald zu ihm hinauftrüge. Aber die ganze Kiefernfamilie war froh und stolz. Keins ihrer Mitglieder dachte daran, daß es selbst in diesem Jahr gar nichts wiegte. »Weg damit«, sagten sie, »wir gehören zu einem vornehmen Stamm.«

»– – – Woran denkst Du denn?« fragte Ingrid, die plötzlich lächelnd hinter ihm zwischen Strauchwerk stand, das sie zur Seite gebogen hatte. Nun trat sie vor. Thorbjörn stand auf. »Na, es kann einem wohl manches[164] durch den Kopf gehen«, sagte er und sah mit trotzigem Gesichtsausdruck über die Bäume hin. – »Das Gerede und Geklatsche da unten wird mir schließlich zu arg«, fügte er hinzu und klopfte sich etwas Erde ab. – »Warum bekümmerst Du Dich immer darum; laß doch die Leute reden.« – »Ich weiß nicht recht; – aber – sie haben noch nie etwas gesagt, was ich nicht dachte, wenn ich's auch nicht getan habe.« – »Du, das klingt häßlich.« – »Das tut's auch«, sagte er und fuhr nach kurzer Pause fort: »Aber wahr ist's.« Sie setzte sich in das Gras; er blieb stehen und blickte zu Boden. »Ich könnte leicht so werden, wie sie mich haben wollen; sie sollten mich so lassen, wie ich bin.« – »Am Ende ist es aber doch Deine Schuld.« – »Wohl möglich, aber die andern haben auch Schuld; sie sollen mich zufrieden lassen«, schrie er fast und sah zu dem Adler hinauf. »Aber, Thorbjörn«, flüsterte Ingrid. Er drehte sich zu ihr hin und lachte: »Schon gut, schon gut, wie gesagt, es kann einem wohl manches durch den Kopf gehen – hast Du heute mit Synnöve gesprochen?« – »Ja, sie ist schon auf die Alm gezogen.« – »Heute?« – »Ja.« – »Mit dem Solbakkener Vieh?« – »Ja.« – »Trallala!«


Auf den Baum die Sonne herniedersah:

Trallalirum!

Mein Schatz, wie stehst Du so leuchtend da?

Trallali, trallala!

Der Vogel erwachte, er piept:

Was gibts? Was ist los? Was gibts? –


»Morgen ziehen wir auch hinauf«, sagte Ingrid, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. »Ich gehe mit als Treiber«, sagte Thorbjörn. – »Nein«, antwortete sie, »Vater will selbst mit.« – »Ja so«, meinte er und schwieg. »Er hat heute nach Dir gefragt«, fuhr sie fort. »Wirklich?« sagte Thorbjörn, schnitt mit seinem Taschenmesser einen Zweig ab und begann ihn abzuschälen. »Du mußt öfter mit Vater reden,« sagte sie sanft, »er hat Dich sehr lieb,« setzte sie hinzu. »Wohl[165] möglich«, meinte er. »Er spricht oft von Dir, wenn Du fort bist!« – »Desto seltener, wenn ich zu Hause bin.« – »Das ist Deine Schuld.« – »Wohl möglich.« – »Rede nicht so, Thorbjörn, Du weißt, was zwischen Euch liegt.« – »Was denn?« – »Brauche ich Dir das erst zu sagen?« – »Das kommt auf eins 'raus, Ingrid; Du weißt ja, was ich weiß.« – »Jawohl, Du gehst zu sehr auf eigene Faust los, und Du weißt, das kann er nicht leiden.« – »Natürlich, er will mich noch beim Arm halten.« – »Ja, besonders wenn Du raufst.« – »Dürfen denn die Leute alles sagen und tun, was sie wollen?« – »Nein, aber Du kannst ihnen auch mehr aus dem Wege gehen; das hat Vater immer getan und ist dabei ein geachteter Mann geworden.« – »Sie haben ihn auch nicht soviel wie mich gereizt und geärgert.« – Ingrid schwieg eine Weile, sah sich um und sagte dann: »Das nützt ja nichts, wenn wir immer wieder davon reden; aber trotzdem – wenn Du weißt, daß die Leute irgendwo etwas gegen Dich haben, brauchst Du nicht gerade dorthin zu gehen.« – »Ja, gerade dorthin! Ich heiße nicht umsonst Thorbjörn Granliden!« – Er hatte den Bast vom Zweige abgeschält und schnitt nun den Zweig mitten durch. Ingrid sah ihn an und fragte etwas gedehnt: »Willst Du Sonntag nach Nordhoug?« – »Ja.« – Sie blieb eine Weile stumm, dann fragte sie, ohne ihn anzusehen: »Weißt Du, daß Knud Nordhoug zur Hochzeit seiner Schwester nach Hause gekommen ist?« – »Ja.« – Nun sah sie ihn an: »Thorbjörn! Thorbjörn!« – »Darf er jetzt mehr als früher wagen, sich zwischen mich und andere zu stellen?« – »Das tut er nicht; nicht mehr, als die anderen wollen.« – »Keiner weiß, was sie wollen!« – »Du weißt es ganz gut.« – »Sie selber sagt keinesfalls was.« – »Ach, was redest Du da zusammen!« sagte Ingrid und warf einen Blick rückwärts. Er schmiß die Zweigstücke fort, steckte sein Messer in die Scheide und wandte sich der Schwester zu. »Hör' mal, ich habe es oft recht satt. Die Leute schneiden mir und[166] ihr die Ehre ab, weil nichts offenkundig zugeht; und andererseits – ich komme ja nicht einmal nach Solbakken hinüber, die Eltern können mich nicht leiden, sagt sie. Ich darf sie nicht besuchen, wie andere Burschen ihre Mädchen, weil sie eine Heilige ist – na, Du weißt ja.« – »Thorbjörn«, sagte Ingrid und wurde immer unruhiger, als er fortfuhr: »Vater will kein gutes Wort für mich einlegen; verdienst Du sie, dann kriegst Du sie, sagt er. Geschwätz, Geschwätz auf der einen Seite und nichts, was dafür entschädigt auf der andern – ja, ich weiß noch nicht mal recht, ob sie –« Ingrid sprang auf, schloß ihm mit der einen Hand den Mund und blickte dabei rückwärts. Da wurde das Strauchwerk wieder beiseite gebogen, ein hohes, schlankes Mädchen mit errötendem Gesicht trat daraus hervor; es war Synnöve.

»Guten Abend«, sagte sie. Ingrid sah Thorbjörn an, als wollte sie sagen: »Jetzt sieh mal!« – Thorbjörn sah Ingrid an, als wollte er sagen: »Das hättest Du lieber nicht tun sollen.« Keines von beiden sah Synnöve an. »Ich darf mich wohl etwas hinsetzen; ich bin heut schon soviel gegangen.« Und sie setzte sich, Thorbjörn beugte den Kopf, um zu untersuchen, ob ihr Sitzplatz auch nicht feucht sei. Ingrid hatte schnell fort und nach Granliden hinuntergeblickt; nun rief sie plötzlich: »Ach nein! Ach nein! Fagerlin hat sich losgerissen und trampelt auf der jungen Saat herum! Das Scheusal! Und Kelleros auch! Das ist ja nicht mehr auszuhalten! Höchste Zeit, daß wir auf die Alm kommen!« und weg war sie, ohne auch nur Adieu gesagt zu haben. Synnöve stand sofort auf. »Gehst Du schon?« fragte Thorbjörn. »Ja«, sagte sie, blieb aber stehen.

»Möchtest Du nicht noch ein bißchen bleiben?« brachte er hervor, ohne sie anzusehen. »Ein andermal«, lautete die Antwort. »Das könnte lange dauern.« Sie blickte auf; er blickte jetzt auch sie an; aber es verging eine Weile, bis sie wieder sprachen. »Setz' Dich doch wieder«, sagte er etwas verlegen. »Nein«, antwortete sie[167] und blieb stehen. Er fühlte, wie in ihm der Trotz aufstieg; aber da passierte etwas, was er nicht erwartet hatte; sie tat einen Schritt vorwärts, beugte sich zu ihm hin, sah ihm in die Augen und sagte lächelnd: »Bist Du mir böse?« Und als er sie anblickte, sah er, daß sie weinte. »Nein«, entgegnete er und wurde feuerrot.

Er streckte ihr die Hand hin; aber da ihre Augen voll Tränen waren, bemerkte sie es nicht, und so zog er die Hand wieder zurück. Endlich sagte er: »Du hast alles mit angehört?« – »Ja«, antwortete sie, sah auf und lachte, aber da ihr immer noch mehr Tränen in die Augen traten, wußte er gar nicht, was er tun oder sagen sollte. Da entfuhren ihm die Worte: »Ich habe es doch vielleicht zu arg getrieben.« Das kam sehr sanft heraus; sie blickte zu Boden und wandte sich halb ab: »Du sollst nicht richten über Dinge, so Du nicht kennst.« Das wurde mit gepreßter Stimme gesagt, und ihm wurde ganz schlimm dabei; er kam sich wie ein kleiner Junge vor und wußte deshalb auch im Augenblick nichts anderes zu sagen als: »Ich bitte Dich um Verzeihung.« Aber nun strömten ihre Tränen heftig und heftiger. Das konnte er nicht mit ansehen, er ging hin zu ihr, umfaßte sie und beugte sich über sie: »Liebst Du mich wirklich, Synnöve?« – »Ja«, schluchzte sie. »Aber macht Dich das auch glücklich?« Sie antwortete nicht. »Macht Dich das auch glücklich?« wiederholte er. Sie weinte heißer als zuvor und wollte sich ihm entziehen.

»Synnöve, wir wollen ein bißchen miteinander reden«, sagte er und half ihr sich in das Heidekraut setzen; er setzte sich neben sie. Sie wischte sich die Tränen ab und machte einen Versuch zu lächeln; aber es gelang nicht. Er hielt die eine von ihren Händen fest und blickte ihr in das Gesicht. »Liebste, warum darf ich nicht nach Solbakken kommen?« Sie schwieg. »Hast Du Deine Eltern nie darum gebeten?« Sie schwieg. »Warum nicht?« fragte er und zog ihre Hand näher an sich. »Ich habe mich nicht getraut«, sagte sie ganz leise.[168]

Seine Miene wurde finster; er hob und bog den einen Fuß leicht, lehnte den Ellbogen auf das Knie und stützte seinen Kopf auf die Hand. »Auf die Art werde ich wohl nie hinüberkommen«, sagte er. Statt zu antworten, rupfte sie Heidekraut aus. »Nun ja, ich habe wohl, manches getan, was ich lieber hätte sollen bleiben lassen, – – aber etwas Nachsicht hätten sie doch haben können. Ich bin nicht schlecht,« (hier hielt er einen Augenblick inne) »bin auch noch jung – etwas über zwanzig Jahre bin ich« – er konnte nicht gleich weiter reden. »Aber wer mich richtig liebt,« sagte er wieder, »der mußte doch – –« und nun verstummte er ganz. Da klang es gedämpft von der Seite her ihm ins Ohr: »Rede nicht so, – – Du weißt nicht, wie schwer, – ich darf es ja nicht einmal Ingrid sagen – (und nun unter starken Tränen): ich habe so schwer – zu leiden.« Er umschlang sie und zog sie dichter an sich. »Sprich mit Deinen Eltern,« flüsterte er, »und Du wirst sehen, alles wird gut.« – »Es wird, wie Du willst«, flüsterte sie. »Wie ich will?« Da neigte sich Synnöve zu ihm und legte den Arm um seinen Hals. »Liebst Du mich, so wie ich Dich?« sagte sie sehr herzlich und mit einem Versuch zu lächeln. »Etwa nicht?« entgegnete er sanft und leise. »Nein, nein, Du nimmst auf mich keine Rücksicht; Du weißt, was uns zusammenbringen kann, tust es aber nicht. Warum tust Du es nicht?« Und da sie gerade im besten Zuge war, fuhr sie eifrig fort: »Lieber Gott, wenn Du wüßtest, wie ich auf den Tag geharrt und gehofft habe, da ich Dich in Solbakken sehen könnte. Aber wenn man immer von etwas hören muß, was nicht ist, wie es sein soll, und wenn es die eigenen Eltern sind, die einem damit in den Ohren liegen.« Da kam es wie eine Erleuchtung über ihn; er sah sie in Solbakken herumgehen und auf eine kurze friedliche Stunde warten, in der sie ihn sanft ihren Eltern zuführen könnte; aber nie bescherte er ihr eine solche Stunde.

»Das hättest Du mir früher sagen sollen, Synnöve.« – »Hab' ich das nicht getan?« – »Nein, nicht so.« – Er[169] dachte ein Weilchen nach, dann sagte sie, während sie ihre Schürzenzipfel in kleine Falten legte: »Dann habe ich es nicht getan, weil – ich mich nicht traute.« Da wurde er bei dem Gedanken, sie habe Furcht vor ihm, so gerührt, daß er ihr zum erstenmal in seinem Leben einen Kuß gab.

Vor Verwunderung hielt sie plötzlich mit ihrem Weinen inne; ihre Augen flackerten, sie versuchte zu lächeln, sah zu Boden, sah endlich Thorbjörn an, und nun lächelte sie wirklich. Sie sprachen nicht mehr; aber ihre Hände fanden sich wieder, doch die des andern zu drücken, das traute sich keins von beiden. Dann entzog sie sich ihm sacht, trocknete Augen und Gesicht und strich ihr in Unordnung geratenes Haar wieder glatt. Er saß da, sah sie an und dachte mit beruhigter Seele: »Hat sie mehr Schamhaftigkeit als die andern Mädchen hier, und will danach behandelt werden, so soll keiner was dagegen sagen.«

Er begleitete sie zu ihrer Alm, die nicht weit entfernt lag. Er wollte gern Hand in Hand mit ihr gehen, aber er fühlte eine gewisse Scheu, die ihm kaum erlaubte, sie zu berühren; es kam ihm schon merkwürdig vor, daß er neben ihr gehen durfte. Beim Abschied sagte er daher auch:

»Das soll lange dauern, bis Du wieder einen tollen Streich von mir zu hören bekommst.«

Im Hause fand er seinen Vater bei der Arbeit, Korn vom Schuppen zur Mühle zu tragen, denn alle Besitzer ringsum mahlten auf der Granlidener Mühle, wenn ihre Bäche kein Wasser mehr hatten; der Granlidener Bach bekam immer neuen Zufluß von den Bergen. Viele Säcke waren hinunterzutragen, manche recht große, manche riesig große darunter. Die Frauen standen unweit davon, hielten Wäsche und wrangen aus. Thorbjörn ging zu seinem Vater hin und packte einen Sack. »Kann ich Dir vielleicht helfen?« – »Das schaffe ich schon allein«, sagte Sämund, nahm schnell einen Sack auf seinen Rücken und trug ihn zur Mühle.[170] »Hier sind noch eine ganze Menge«, sagte Thorbjörn, packte zwei große, stemmte den Rücken dagegen, griff über die Schultern, faßte mit jeder Hand einen und stützte ihn seitlich mit dem Ellbogen. Auf halbem Wege traf er Sämund, der zurückkam, um mehr zu holen; rasch sah er Thorbjörn an, sagte aber nichts. Als Thorbjörn zum Schuppen zurückging, traf er Sämund mit noch zwei größeren Säcken auf dem Rücken. Diesmal nahm Thorbjörn einen ganz kleinen und zog damit ab; als Sämund ihn traf, sah er ihn an, aber länger als das vorige Mal. Da geschah es, daß sie einmal zu gleicher Zeit vor dem Schuppen waren. »Eine Einladung von Nordhoug ist gekommen,« sagte Sämund, »Du sollst Sonntag hin zur Hochzeit.« Ingrid sah ihren Bruder bittend an; auch die Mutter sah hin. »Ja so«, sagte er trocken, nahm aber diesmal die zwei größten Säcke, die er finden konnte. »Gehst Du hin?« fragte Sämund und runzelte die Stirn. – »Nein.«

Quelle:
Björnson, Björnstjerne: Gesammelte Werke. Berlin [1911], Band 1, S. 160-171.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Bjørnson, Bjørnstjerne

Synnöve Solbakken. (Synnøve Solbakken)

Synnöve Solbakken. (Synnøve Solbakken)

Vor dem Hintergrund einer romantisch idyllischen Fabel zeichnet der Autor individuell realistische Figuren, die einerseits Bestandteil jahrhundertealter Tradition und andererseits feinfühlige Persönlichkeiten sind. Die 1857 erschienene Bauernerzählung um die schöne Synnöve und den hitzköpfigen Thorbjörn machte Bjørnson praktisch mit Erscheinen weltberühmt.

70 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon