|
In unsern weiten Tälern ragt wohl manchmal eine größere Anhöhe empor, die nach allen Seiten freiliegt und von der Sonne den lieben langen Tag über bestrahlt wird. Leute, die dichter am Fuß der Felsen und auf sonnenärmeren Plätzen wohnen, nennen solche Anhöhe: Solbakken, d.h. Sonnenhügel. Das Mädel, von dem hier die Rede sein soll, wohnte auf solchem Sonnenhügel, und von ihm hatte ihr Heimatshof den Namen; dort blieb der Schnee im Herbst am spätesten liegen und schmolz im Frühling am zeitigsten.
Die Besitzer des Hofes waren Haugianer und wurden »Leser« genannt, weil sie sich mehr als alle ihre Nachbarn befleißigten, die Bibel zu lesen. Der Mann hieß Guttorm, die Frau Karen. Sie hatten einen Sohn, aber der starb ihnen, und nun gingen sie drei Jahre lang nicht auf die Ostseite der Kirche. Als die drei Jahre um waren, bekamen sie eine Tochter, die sie gern nach dem toten Knaben nennen wollten. Er hatte Syvert geheißen, und sie wurde Synnöv getauft, weil sie nichts ähnlicher Klingendes finden konnten. Aber die Mutter sagte immer »Synnöve«: sie hatte nämlich, als das Kind noch klein war, die Gewohnheit, seinem Namen am Ende ein »mein« hinzuzufügen, und das ging ihr nach dem »e« leichter von der Zunge, gleich viel – als das Mädchen größer wurde, hieß sie bei allen so wie bei ihrer Mutter: Synnöve. Und es gab nur eine Stimme: seit Menschengedenken war im ganzen Kreise kein so anmutiges Mädchen aufgewachsen, wie Synnöve Solbakken. Schon in ihrem zartesten Alter nahmen die Eltern sie an jedem Sonntag, an dem eine Predigt war, mit in die Kirche, obgleich Synnöve zunächst nicht mehr verstand, als daß der Pastor auf den Zuchthaus-Bent[135] schimpfte, den sie unten vor der Kanzel sitzen sah. Doch der Vater wollte sie mit haben, – »damit sie sich daran gewöhne«, sagte er; und die Mutter wollte es, »weil keiner wissen könne, wie auf das Kind unterdessen zu Hause aufgepaßt würde«. Fing auf dem Hofe ein Lamm, eine kleine Ziege oder ein Ferkel zu verkümmern an, erkrankte eine Kuh, dann wurde das Tier sofort Synnöve geschenkt, und von der Stunde an, meinte die Mutter, erholte es sich. Der Vater glaubte nicht recht daran, aber, »jedenfalls war es ja gleichgültig, wem es gehörte, wenn es nur gedieh«.
Auf der anderen Seite des Tales, dicht an den hohen Felsen, lag ein Hof, der Granliden, d.i. Tannwald, hieß, weil er mitten in einem großen Tannenforst, dem einzigen in weitem Umkreis, lag. Der Urgroßvater des jetzigen Besitzers hatte sich seinerzeit mit unter der Mannschaft befunden, die nach Holstein gezogen war, um dort den Russen zu erwarten, und hatte von dieser Kriegsfahrt eine Menge fremder und merkwürdiger Samensorten mitgebracht. Die pflanzte er rings um sein Haus; aber im Lauf der Zeit war ein Keim nach dem anderen eingegangen; nur aus den Tannäpfeln, die wunderlicherweise zwischen den Samen geraten waren, erstand ein dichter Wald, der das Haus jetzt von allen Seiten beschattete. »Der Holsteinfahrer« hatte Thorbjörn nach seinem Großvater geheißen, und sein ältester Sohn wieder nach seinem Großvater: Sämund, und in der Folge trugen die Hofbesitzer immer abwechselnd die Namen: Thorbjörn und Sämund – seit schier undenklichen Zeiten. Aber es ging die Sage, nur immer der in der Reihenfolge zweite Mann habe auf Granliden Glück, und zwar kein »Thorbjörn«. Als dem jetzigen Besitzer Sämund ein Sohn geboren wurde, kam ihm das wohl in den Sinn; er hatte aber nicht den Mut, sich gegen den Familienbrauch aufzulehnen, und nannte das Kind wieder Thorbjörn. Er sann, ob der Junge nicht so erzogen werden könne, daß er um den Stein des Anstoßes, den ihm das Gerede in den Weg gelegt hatte, glatt[136] herumkomme. Ganz sicher war er nicht, aber er glaubte zu bemerken, daß der Bengel ein Hitzkopf sei. »Das wollen wir ihm schon austreiben«, sagte Sämund zu seiner Frau, und als Thorbjörn drei Jahr alt war, saß sein Vater manchmal mit der Rute in der Hand bei ihm und zwang ihn, die zerstreuten Holzspäne auf ihren richtigen Platz zu tragen, den Tassenkopf, den er heruntergeworfen, aufzuheben, die Katze, die er gekniffen hatte, zu streicheln. Währenddessen ging die Mutter meistens aus der Stube.
Sämund wunderte sich sehr, daß er immer mehr an dem Jungen zu verbessern fand, je größer der Bengel wurde. Er hielt ihn zeitig zum Lesen an und nahm ihn mit auf das Feld, um ein Auge auf ihn zu haben. Die Mutter hatte ein großes Hauswesen und kleine Kinder zu besorgen; sie konnte nicht mehr tun, als den Jungen jeden Morgen beim Anziehen zu streicheln und zu ermahnen und seinetwegen mit dem Vater an den Feiertagen, da sie Zeit für einander hatten, eindringlich zu reden. Thorbjörn aber dachte sich, wenn er Prügel kriegte, weil a-b ab und nicht ba lautet, oder wenn ihm nicht erlaubt wurde, die kleine Ingrid mit derselben Rute zu hauen, womit ihn sein Vater schlug: »Es ist doch merkwürdig, daß ich es so schlecht haben soll und meine kleinen Geschwister so gut!«
Da er meistens mit seinem Vater zusammen war und nicht viel mit ihm reden durfte, wurde er wortkarg, doch er dachte sich sein Teil. Einmal, als sie gerade mit dem nassen Heu beschäftigt waren, entfuhr ihm doch eine Frage: »Warum ist in Solbakken das ganze Heu schon trocken und eingebracht, wenn es bei uns noch naß draußen liegt?« – »Weil sie dort mehr Sonne haben als wir.« – Da merkte er zum ersten Male, daß der Sonnenglanz, an dem er sich oft erfreut hatte, für die drüben sei, und er eigentlich benachteiligt war. Fortan sah er häufiger als früher nach Solbakken hinüber. »Sitz nicht so da und reiße den Mund auf,« sagte der Vater und versetzte ihm einen Puff; »hier[137] müssen alle rackern, die Großen wie die Kleinen, um etwas ins Haus zu kriegen.«
Als Thorbjörn sieben oder acht Jahr alt war, nahm Sämund einen neuen Jungknecht an; er hieß Aslak und hatte sich, trotz seiner Jugend, schon weit in der Welt herumgetrieben. Am Abend, da er zuzog, lagen die Kinder schon im Bett, aber wie Thorbjörn am nächsten Morgen am Tisch vor seinem Lesebuch saß, schlug einer die Stubentür mit einem Fußtritt auf, wie ihn Thorbjörn noch nie gehört hatte – und das war Aslak, der nun mit einem großen Haufen Brennholz hereintrampelte und die Scheitern mit einem Schwung auf die Diele warf, daß sie nur so herumflogen. Dann hopste er in die Höhe, um den Schnee abzuschütteln, und rief bei jedem Hopser: »Kalt ist es, sagte die Trollbraut, als sie bis zum Gürtel im Eis steckte!« Der Vater war nicht da, die Mutter fegte den Schnee zusammen und trug ihn, ohne ein Wort zu sagen, hinaus. – »Nach was glotzt Du denn?« fragte Aslak den Thorbjörn. »Nach nichts«, sagte der Junge, denn er hatte Angst. »Hast Du schon den Hahn dahinten in Deinem Lesebuch gesehen?« – »Ja.« – »Wenn's Buch zu ist, sind auch 'ne Menge Hühner um ihn herum, – hast Du das auch schon gesehen?« – »Nein.« – »Na, dann sieh mal nach.« – Der Junge tat's. – »Schafskopf!« sagte Aslak zu ihm. – Aber von dieser Stunde an hatte keiner soviel Macht über ihn wie Aslak.
»Du kannst gar nichts«, sagte eines Tages Aslak zu Thorbjörn, als der wie gewöhnlich hinter ihm herstapfte. – »Ja, ich kann schon alles bis zur vierten Seite.« – »Das ist was Rechtes! Du hast noch nicht mal was vom Troll gehört, der mit dem Mädchen solange tanzte, bis die Sonne aufging, und dann platzte, wie ein Kalb, das saure Milch gesoffen hat!« So große Kenntnisse hatte Thorbjörn noch nie auf einmal gehört. »Wo war das?« fragte er. – »Wo das war? Das war dort drüben in Solbakken.« – »Hast Du denn schon von dem Mann gehört, der sich dem Teufel für ein paar[138] alte Stiefel verschrieben hat?« – Thorbjörn erstaunte dermaßen, daß er vergaß zu antworten. – »Du denkst wohl wieder, wo das war? Das war auch in Solbakken, dort dicht neben dem Bach, siehst Du? Herrgott, mit der Christenlehre hapert's noch recht sehr bei Dir. Du hast wohl noch nicht mal von Kari Baumrock gehört?« – »Nein«; von der hatte er noch nicht gehört. Und während Aslak nun arbeitete, erzählte er immer schneller von Kari Baumrock, von der Mühle, die Salz auf dem Meeresgrunde mahlte, vom Teufel mit den Holzpantinen, vom Troll, der mit dem Bart im Baumstamm festsaß, von den sieben grünen Jungfrauen, die aus Schützenpeters Wade die Haare zupften, während er schlief und gar nicht aufwachen konnte, – und das war alles in Solbakken passiert. – »Lieber Gott, was ist denn heute in den Jungen gefahren?« sagte die Mutter am nächsten Tage, »er kniet schon seit heute morgen dort auf der Bank und sieht nach Solbakken 'rüber.« – »Ja, heute strengt er sich an«, sagte der Vater, der seine Glieder reckte und sich den ganzen Sonntag über ausruhte. »Er hat sich mit Synnöve Solbakken versprochen, erzählen die Leute,« meinte Aslak, – »die Leute erzählen ja soviel«, setzte er hinzu. Thorbjörn verstand das nicht recht, bekam aber doch einen feuerroten Kopf. Als Aslak darauf aufmerksam machte, kroch der Junge herunter von der Bank, nahm seinen Katechismus vor und fing an, darin zu lesen. »Tröste Dich nur mit Gottes Wort,« sagte Aslak, »Du kriegst sie ja doch nicht.«
Gegen Ende der Woche dachte Thorbjörn: nun haben die anderen die Sache vergessen, – und so fragte er seine Mutter ganz leise (denn er schämte sich ein bißchen): »Du, wer ist denn Synnöve Solbakken?« – »Ein kleines Mädchen, dem mal Solbakken gehören wird.« – »Hat sie auch einen Baumrock an?« Die Mutter sah erstaunt auf den Jungen. »Was sagst Du da?« Er merkte, daß er eine Dummheit gesagt hatte, und schwieg. »Ein hübscheres Kind hat noch keiner[139] gesehen,« fügte die Mutter hinzu, »und die Hübschheit hat ihr unser Herrgott zum Lohn beschert, weil sie immer artig und brav ist und sehr fleißig beim Lernen.« Nun wußte er's und konnt' es beherzigen.
Sämund hatte einmal mit Aslak im Feld zusammen gearbeitet; am Abend desselben Tages sagte er zu Thorbjörn: »Daß Du mir nicht mehr mit dem Knecht zusammensteckst!« Aber Thorbjörn achtete nicht darauf. Einige Zeit darauf hieß es wieder: »Find' ich Dich noch mal bei ihm, dann geht's Dir schlecht!« – Da schlich der Junge Aslak nach, wenn es der Vater nicht sah. Der überraschte sie, als sie wieder beisammensaßen und plauderten; Thorbjörn bekam Prügel und wurde in die Stube gejagt. Später wartete er auf die Gelegenheit, wenn sein Vater im Felde zu tun hatte.
An einem Sonntag, da der Vater in der Kirche war, machte Thorbjörn zu Hause dumme Streiche. Aslak und er warfen sich mit Schneebällen. »Nein, Du tust mir weh, – wir wollen nach was anderem werfen«, bat Thorbjörn. Aslak war sofort bereit, und so warfen sie zuerst nach der dünnen Tanne beim Vorratsschuppen, dann nach dem Schuppentor und endlich nach dem Fenster. – »Nicht nach den Scheiben, sondern nach dem Rahmen«, sagte Aslak. Aber Thorbjörn traf eine Scheibe; er wurde ganz blaß. »Schadet nichts, wer hat's denn gesehen? wirf nochmal und besser!« Thorbjörn traf wieder eine Scheibe. »Jetzt will ich nicht mehr.« Im selben Augenblick trat seine älteste Schwester, die kleine Ingrid aus dem Hause. »Du, wirf nach der mal!« Und Thorbjörn tat, wie ihm geheißen; das Mädchen weinte, die Mutter kam heraus und sagte dem Jungen, er solle aufhören. »Wirf, wirf«, flüsterte Aslak. Thorbjörn – aufgeregt und in Hitze – warf. – »Du bist wohl nicht mehr richtig im Kopf«, sagte die Mutter und lief auf ihn zu. Da rannte er fort, sie hinterdrein; Aslak lachte, die Mutter drohte; endlich faßte sie den Jungen vor einem Schneehaufen und hob schon die Hände, um ihn ordentlich durchzubläuen. – »Ich haue[140] wieder,« rief er, »das ist hier so Sitte.« Die Mutter ließ ganz betroffen die Hände sinken und sah ihn an. »Das hast Du von einem andern«, sagte sie darauf, nahm ihn still bei der Hand und führte ihn in die Stube. Sie sprach kein Wort mehr mit ihm, beschäftigte sich mit seinen kleinen Geschwistern und erzählte ihnen, Vater komme bald aus der Kirche nach Hause. Da begann es tüchtig heiß in der Stube zu werden. Aslak bat um Erlaubnis, einen Verwandten zu besuchen, und durfte gleich gehen; aber Thorbjörn wurde viel kleiner, als Aslak gegangen war. Er hatte schauderhaftes Magendrücken und so feuchte Hände, daß er damit Flecke in sein Buch machte. Wenn Mutter nur Vater nichts sagen wollte, wenn er käme; aber sie darum zu bitten, das kriegte er nicht fertig. Es wurde ihm ganz grün vor den Augen – und die Uhr an der Wand sagte: »Klaps, klaps«. Er mußte zum Fenster hin und nach Solbakken sehen. Das lag still wie immer und verschneit da und glänzte wie perlenbedeckt in der Sonne: das Haus lachte aus allen Fensterscheiben, und von denen war gewiß keine entzwei; der Rauch zog höchst vergnügt aus dem Schornstein und sagte Thorbjörn, daß auch dort für die Kirchgänger gekocht wurde; Synnöve sah bestimmt nach ihrem Vater aus und würde nicht ein bißchen Prügel kriegen. Der Junge wußte nicht mehr recht, was er anfangen sollte, und wurde mit einemmal schrecklich zärtlich mit seinen Schwestern. Gegen Ingrid war er besonders gut und schenkte ihr sogar einen blanken Knopf, den er von Aslak bekommen hatte. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, und er umarmte sie auch. »Liebes Ingridchen, bist Du mir böse?« – »Nein, liebes Thorbjörnchen, Du kannst mich soviel schneeballen, wie Du willst.« Aber da schüttelte sich jemand mit Auftrampeln draußen auf dem Flur den Schnee ab. Und richtig, – das war Vater. Er schien in sanfter und guter Stimmung zu sein; und das war noch schlimmer. »Na«, sagte er und sah sich um; – es war merkwürdig, daß die Wanduhr nicht auf die Diele rasselte.[141] Die Mutter brachte das Essen. »Wie geht's, wie steht's?« fragte der Vater, setzte sich hin und nahm seinen Löffel. Thorbjörn sah seine Mutter an; die Tränen kamen ihm dabei in die Augen. »So lala«, sagte sie unglaublich langsam, und er merkte wohl, daß sie noch mehr sagen wollte. »Ich habe Aslak erlaubt, auszugehen«, sagte sie. – »Für diesmal bin ich durch«, dachte Thorbjörn – und fing mit Ingrid zu spielen an, als ob nichts andres seine Gedanken beschäftige. So lange hatte Vater sich noch nie beim Essen aufgehalten, und Thorbjörn suchte ihm jeden Bissen nachzuzählen, aber als er bis zum vierten gekommen war, wollte er ausprobieren, wie weit er zwischen dem vierten und fünften zählen könne, und da geriet er ganz aus der Ordnung. Endlich stand der Vater auf und ging hinaus. Die Scheiben, die Scheiben klirrten in des Jungen Ohren, und er sah nach, ob sie ganz seien, die in der Stube. Ja, die waren alle ganz. Aber jetzt ging Mutter dem Vater nach. Thorbjörn nahm die kleine Ingrid auf den Schoß und sagte so sanft, daß sie ihn ganz erstaunt ansah: »Wollen wir nicht beide, ›Goldkönigin auf der Wiese‹ spielen, Du und ich?« Ja, das wollte sie gern. Und nun sang er, während die Beine unter ihm zitterten:
Feine Blume,
Wiesenblume,
Höre mir jetzt zu!
Und willst Du meine Liebste sein,
Dann kriegst Du einen Mantel fein,
Mit Gold in Hauf
Und Perlen darauf;
Bimmel, Bammel, Bimmel,
Wie lacht die Sonne vom Himmel!
Da antwortete sie:
Goldkönigin,
Perlenkönigin,
Höre mir jetzt zu:
Mag nicht Deine Liebste sein,[142]
Mag nicht Deinen Mantel fein,
Mit Gold in Hauf
Und Perlen darauf;
Bimmel, Bammel, Bimmel,
Wie lacht die Sonne vom Himmel!
Doch als das Spiel im besten Gange war, trat der Vater wieder in die Stube und sah Thorbjörn groß an. Der drückte sich fester an Ingrid und fiel nicht mal vom Stuhl herunter. Der Vater drehte sich um und sagte nichts; eine halbe Stunde verging, und er hatte immer noch nichts gesagt, – und der Junge war schon fast beruhigt und wäre beinahe vergnügt geworden; aber das traute er sich doch nicht. Er wußte gar nicht mehr, was er denken sollte, als ihm der Vater selbst beim Ausziehen half; er fing wieder an, etwas zu zittern; da tätschelte ihm der Vater den Kopf und streichelte ihm die Backen; das war Thorbjörn nicht passiert, so lange er denken konnte, und deshalb wurde ihm so warm um das Herz und im ganzen Körper, daß seine Furcht zerrann, wie Eis im Sonnenstrahl. Er wußte nicht, wie er in das Bett kam, und da er weder singen noch laut reden durfte, faltete er still die Hände, betete ganz leise sechsmal das Vaterunser vorwärts und rückwärts und fühlte, während er einschlief, daß er doch niemand auf Gottes grüner Erde so lieb habe wie seinen Vater.
Als er am nächsten Morgen im Halbschlaf dalag, empfand er einen schrecklichen Angstdruck: er sollte Prügel kriegen, wollte schreien, konnte aber nicht. Da er die Augen aufschlug, merkte er zu seiner großen Erleichterung, daß er nur geträumt, aber er merkte auch bald, daß ein anderer Prügel kriegen sollte, nämlich Aslak. Sämund ging in der Stube auf und ab – und was solcher Gang zu bedeuten hatte, das wußte Thorbjörn genau. Der etwas kleine, doch stämmige Mann sah unter den buschigen Augenbrauen manchmal derart Aslak an, daß der hinlänglich spürte, was in der Luft lag; Aslak selbst saß auf dem Bodenrand einer umgekippten[143] großen Tonne und ließ seine Beine herunterbaumeln oder zog sie über Kreuz in die Höhe. Er hatte wie gewöhnlich die Hände in die Hosentaschen gesteckt und die Mütze auf dem Kopf leicht hintenüber gedrückt, so daß das schwarze Haar in vollen Büscheln unter dem Schirm hervorquoll. Sein etwas schiefer Mund war noch schiefer gezogen, den Kopf hielt er halb schräg und blickte durch seine halbgeschlossenen Augenlider von der Seite nach Sämund hin. »Ja, Dein Junge ist verrückt,« sagte er, »aber schlimmer ist, daß Dein Pferd den Teufel im Leibe hat.« Sämund blieb stehen: »Du bist ein Flaps«, sagte er so, daß die Stube dröhnte, und Aslak die Lider noch dichter schloß. Sämund nahm seinen Gang wieder auf; Aslak saß eine Weile still da. »Ja, richtig den Teufel im Leibe«, wiederholte er und schielte nach seinem Herrn, um zu sehen, was für eine Wirkung seine Worte hätten. »Waldscheu ist der Gaul«, rief Sämund im Gehen, »einen Baum hast Du über ihm gefällt und jetzt will er nicht mehr ruhig an den Bäumen vorbei.« Aslak hörte das mit an und erwiderte nach einer kurzen Pause: »Du kannst ja glauben, was Du willst; Glauben macht selig; aber daß Du damit Dein Pferd wieder gesund machst, das glaube ich nicht« – im selben Augenblick jedoch drückte er sich tiefer in die Tonne und deckte sein Gesicht mit der Hand. Sämund war fest auf ihn zugegangen und sagte halblaut, aber in recht unheimlichem Ton: »Du niederträchtiger ...« »Sämund«, erklang eine Stimme vom Herde. Ingebjörg, seine Frau war es, die rief und ihn beruhigen wollte, wie sie ihr Jüngstes beruhigte, das auf ihrem Schoß saß, bange war und schreien wollte. Zuerst wurde das Kind still, dann schwieg auch Sämund, aber er hielt die für einen so stämmigen Mann etwas kleine Faust Aslak dicht unter die Nase, während er sich vor ihm aufpflanzte und ihm mit lodernden Blicken förmlich das Gesicht zu versengen suchte. Dann ging er, wie vorher, auf und ab, sah ihn aber wiederholt hastig an. Aslak[144] war ganz blaß, lachte jedoch mit dem halben Gesicht Thorbjörn zu, während die andere, Sämund zugewandte Hälfte ganz stramm blieb. »Schenk' uns Geduld, lieber Gott im Himmel«, sagte er nach kurzer Stille, machte aber flugs den Ellbogen krumm, wie, um einen Schlag abzuwehren. Sämund war ihm gegenüber stehen geblieben, stampfte nun mit dem Fuß auf den Boden und schrie dabei mit aller Kraft: »Lästre seinen Namen nicht, Du –« Ingebjörg sprang auf, kam mit dem Säugling heran und legte sanft die eine Hand auf den erhobenen Arm ihres Mannes. Er sah sie nicht an, ließ aber den Arm sinken. Sie setzte sich, er ging wieder auf und ab; keiner sprach ein Wort. Nach einiger Zeit ließ es Aslak keine Ruhe: »Ja, der dort oben hat 'ne Menge zu tun in Granliden.« »Sämund, Sämund«, rief Ingebjörg leise und ängstlich, aber bevor er es noch gehört hatte, war er zu Aslak hingerast. Der streckte seinen Fuß vor; diesen beiseite schlagen, am Fuß und am Kragen den Burschen packen, ihn hochheben und gegen die geschlossene Tür schleudern, daß die Füllung in Stücke ging und der ganze Kerl kopfüber hinausflog, war für Sämund das Werk weniger Augenblicke. Seine Frau, Thorbjörn, alle Kinder, schrien und baten; das ganze Haus war ein Jammer. Aber Sämund dem Aslak nach; ohne die Tür richtig aufzumachen, nur die Holzstücke und Spitter fortstoßend, packte er den Knecht zum zweiten Male, trug ihn durch den Flur, hinaus in den Hof, hob ihn wieder hoch und warf ihn mit aller Macht zu Boden. Und als er merkte, daß zu viel Schnee dalag, um den Fall wuchtig genug zu machen, kniete er auf die Brust Aslaks hin, schlug ihm in das Gesicht, hob ihn zum dritten Male hoch, trug ihn zu einer schneefreieren Stelle wie der Wolf einen erjagten, zerfleischten Hund, warf ihn wieder hin, kniete wieder auf ihm – und, wer weiß, welches Ende es genommen hätte, wenn sich nicht Ingebjörg, den Säugling auf dem Arm, zwischen die beiden geworfen hätte. – »Mach' uns nicht unglücklich!« schrie sie.[145]
Eine Weile darauf saß Ingebjörg in der Stube; Thorbjörn zog sich an, der Vater ging auf und ab und trank hin und wieder einen Schluck Wasser; aber die Hand zitterte ihm so dabei, daß das Wasser manchmal über den Tassenrand auf die Diele spritzte. Aslak kam nicht herein, und Ingebjörg machte kurz darauf Miene, hinauszugehen. »Bleib«, sagte Sämund, mit einem Ton, als wenn er gar nicht zu ihr spräche; und sie blieb. Bald jedoch ging er selbst. Er kam nicht wieder. Thorbjörn las fortwährend, ohne aufzublicken, obgleich er nicht imstande war, den kleinsten Satz zusammenzubringen.
Weiterhin am Vormittag war das Haus in gewohnter Ordnung, obgleich allen zumute war, wie nach dem Besuche eines noch nie dagewesenen Fremden. Thorbjörn wagte endlich auf den Hof zu gehen, und der erste, den er dort traf, war Aslak, der alle seine Habseligkeiten auf einen Schlitten – Thorbjörns Schlitten – geladen hatte. Thorbjörn starrte ihn an, er sah gräßlich aus. Sein Gesicht war mit Blut beklebt und beschmiert; er hustete und faßte sich oft an seine Brust. Erst blickte er den Jungen stumm an und stieß darauf hart die Worte hervor: »Ich kann Deine Augen nicht leiden, Bengel«; dann setzte er sich mit gespreizten Beinen auf den Schlitten und fuhr bergab. »Du kannst zusehen, wie Du Deinen Schlitten wiederkriegst«, rief er, während er sich noch einmal umdrehte und lang die Zunge herausstreckte. Dann zog er weiter. In der nächsten Woche kam der Gerichtsdiener nach Granliden; der Vater ging öfter fort; die Mutter weinte und war auch ein paarmal fort. »Wo geht Ihr denn immer hin?« »Ach, Aslak hat uns was Tüchtiges eingebrockt.«
Einige Tage darauf wurde die kleine Ingrid ertappt, wie sie sang:
»O Du holdselige Erden
Kannst mir gestohlen werden;
Das Mädel reckt und streckt sich weit;
Der Junge ist nicht recht gescheit;[146]
Die Wirtin kocht nur Sudelbrei,
Der Wirt ist faul und sauft dabei;
Die Katze ist die einzig kluge,
Sie leckt den Milchrahm aus dem Kruge.«
Da fragten die Eltern, von wem sie das schöne Lied gelernt habe. »Ja, von Thorbjörn.« Der Junge bekam einen großen Schreck und stotterte, daß er es von Aslak habe. Nun wurde ihm unter Androhung gehöriger Prügel verboten, je wieder solche Lieder zu singen oder sie Ingrid zu lehren. Kurz darauf fluchte die kleine Ingrid. Thorbjörn mußte wieder vor das Gericht, und Sämund meinte, das beste sei, wenn er als Anstifter gleich die Rute kriege; aber er weinte und gab das hochheilige Versprechen, es nie wieder tun zu wollen; so kam er für diesmal noch davon.
Am Sonntag darauf sagte der Vater zu ihm: »Damit Du zu Hause keine dummen Streiche machst, sollst Du heute mit mir in die Kirche.«
Buchempfehlung
Epicharis ist eine freigelassene Sklavin, die von den Attentatsplänen auf Kaiser Nero wusste. Sie wird gefasst und soll unter der Folter die Namen der Täter nennen. Sie widersteht und tötet sich selbst. Nach Agrippina das zweite Nero-Drama des Autors.
162 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro