Neuntes Kapitel

[229] Als Synnöve rot im Gesicht und atemlos eintrat, waren Guttorm und Karen Solbakken schon mit dem Essen fertig. »Aber liebes Kind, wo bist Du denn gewesen?« fragte die Mutter. – »Ich bin mit Ingrid etwas zurückgeblieben«, antwortete Synnöve, und knüpfte sich gemach ein paar Tücher ab; der Vater suchte im Schrank nach einem Buch. »Was habt Ihr denn solange zu reden gehabt?« – »Ach, nichts besonderes.« – »Dann wär' es besser gewesen, Du hättest auf dem Kirchgang keinen Umweg gemacht.« – Sie stand auf und stellte der Tochter zu essen hin. Nachdem Synnöve sich an den Tisch gesetzt hatte, fragte die Mutter, die ihren Platz ihr gegenüber wieder eingenommen hatte: »Hast Du vielleicht noch mit andern geredet?« – »Ja, noch mit manchem«, antwortete Synnöve. – »Das Kind muß doch mit Leuten reden«, sagte Guttorm. »Gewiß muß sie das,« versetzte die Mutter etwas sanfter; »aber sie hätte doch mit ihren Eltern gehen können.« – Darauf bekam sie keine Antwort.

»Das war ein herrlicher Kirchgang heut,« fing sie[229] wieder an, »die Jugend in der Kirche tut einem gut.« – »Man denkt an seine eignen Kinder«, setzte Guttorm hinzu. – »Da hast Du recht,« sagte die Mutter, und seufzte; »keiner weiß, wie es ihnen mal gehen wird.« Guttorm sprach lange kein Wort. »Wir haben Gott herzlich dafür zu danken,« sagte er endlich, »daß er uns eines gelassen hat.« Die Mutter wischte mit den Fingern über den Tisch und blickte nicht auf; »sie ist doch unsere größte Freude«, sprach sie leise; »sie ist auch nicht aus der Art geschlagen«, fügte sie noch leiser hinzu. Es entstand eine lange Pause. »Ja, sie hat uns immer große Freude gemacht,« sagte Guttorm, und etwas später mit weicher Stimme: »Gott schenke ihr Glück!« – Die Mutter wischte mit den Fingern über den Tisch; eine Träne fiel darauf, und sie wischte sie weg. – »Warum ißt Du denn nicht?« fragte Guttorm, als er nach einem Weilchen aufblickte. – »Danke, ich bin satt«, antwortete Synnöve. »Aber Du hast ja noch gar nichts gegessen,« sagte nun auch die Mutter, »und Du hast einen so weiten Weg gemacht.« – »Ich kann nicht«, entgegnete Synnöve und zupfte eifrig am Zipfel ihres Brusttuchs. – »Iß, mein Kind«, wiederholte der Vater. – »Ich kann nicht«, sagte Synnöve abermals und fing zu weinen an. – »Aber, liebes Kind, warum weinst Du denn?« – »Ich weiß nicht«, und sie schluchzte. »Sie weint so leicht«, sagte die Mutter, der Vater stand auf und ging an das Fenster. »Dort kommen zwei Männer auf den Hof zu«, sagte er. »Was? jetzt am späten Nachmittag?« fragte die Mutter und ging auch an das Fenster. Sie sahen lange hinaus. »Wer kann denn das bloß sein?« sprach sie, aber nicht gerade, als ob sie fragen wollte. »Ich weiß nicht«, versetzte Guttorm, und sie sahen und sahen. »Das verstehe ich nicht recht«, sagte sie. – »Ich auch nicht«, sagte er. – »Aber sie müssen es doch sein«, sagte sie endlich. »Allerdings«, bekräftigte Guttorm. Die Männer kamen näher und näher; der ältere blieb stehen und blickte zurück; der jüngere gleichfalls; dann schritten sie weiter.[230]

»Verstehst Du, was sie wollen?« fing Karen wieder an, in demselben Ton wie vorhin. »Nein, das versteh' ich nicht«, versetzte Guttorm. Die Mutter drehte sich um, ging zum Tisch, nahm das Geschirr ab und räumte etwas auf. »Du mußt Deine Tücher wieder umbinden,« sprach sie zu Synnöve; »es kommt Besuch.«

Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, da öffnete Sämund die Tür und trat ein; Thorbjörn hinter ihm. »Gesegnete Mahlzeit«, sagte Sämund, blieb einen Augenblick an der Tür stehen und trat dann langsam ein, um jeden einzelnen zu begrüßen; Thorbjörn folgte. Sie kamen zuletzt zu Synnöve, die noch in einer Ecke mit dem Tuch in der Hand stand, nicht wußte, ob sie es umbinden sollte, ja, kaum wußte, ob sie es in der Hand hielt. »Nehmt Platz, wo Ihr wollt«, sagte die Frau. »Danke, der Weg hier herüber ist nicht weit gewesen«, antwortete Sämund, setzte sich aber doch; Thorbjörn neben ihn. »Ihr wart ja heut nach der Kirche mit einemmal fort«, sagte Karen. »Wir haben Euch gesucht«, antwortete Sämund. »Heut waren viele Menschen da«, sagte Guttorm. »Sehr viele Menschen,« wiederholte Sämund, »es war ein schöner Kirchtag.« – »Ja, wir haben eben davon gesprochen«, sagte Karen. – »Es ist einem bei solcher Konfirmation so wunderlich zumute, wenn man selber Kinder hat«, fügte Guttorm hinzu. Seine Frau rückte auf der Bank etwas ab. »Ja, freilich,« sagte Sämund, »da denkt man ernstlich über sie nach, – und deshalb habe ich mich hierher auf den Weg gemacht«, sprach er weiter, sah sich fest und sicher um, nahm den Kautabak aus dem Mund, schob ein anderes Stück hinein, und legte das alte behutsam in eine Messingdose. Guttorm, Karen und Thorbjörn sahen unruhig hierhin und dorthin. – »Ich dachte mir, ich müßte mit Thorbjörn mal hergehen,« begann Sämund langsam; »allein hätte er es wohl sobald nicht fertig gekriegt und hätte sich auch allein nicht gut Bescheid holen können«, dabei blinzelte er zu Synnöve hinüber, die das merkte. »Die Sache liegt nun so, daß er seinen Sinn auf sie gerichtet[231] hat, auf sie, die Synnöve, seit der Zeit, da er Verstand genug für so etwas hatte; und es liegt wohl ebenfalls einigermaßen so, daß sie auch ihren Sinn auf ihn gerichtet hat. Und da meine ich, ist es das beste, wenn die beiden für immer zusammenkommen. Damals, als ich sah, daß er sich selber nicht im Zaum halten konnte, geschweige denn andere, da war ich wenig dafür. Aber jetzt glaube ich, ich kann für ihn bürgen; und kann ich's nicht, so kann sie's; denn sie hat die größte Macht über ihn. – Was meint Ihr also dazu? Wollen wir sie zusammentun? Das hat ja weiter keine große Eile, aber ich weiß auch nicht, warum wir noch damit warten wollen. Du, Guttorm, bist ein Mann mit Vermögen; meins ist kleiner und geht mal später in mehrere Teile; aber ich denke, die Sache läßt sich doch machen. Jetzt sagt also Eure Meinung frei heraus; das Mädchen frage ich zuletzt, denn ich glaube, ich weiß, was sie will!«

Also sprach Sämund. Guttorm saß krumm auf der Bank, legte abwechselnd eine Hand über die andere und machte mehrmals Miene, sich aufzurichten, indem er jedesmal stärker Atem holte; aber erst nach dem vierten- und fünftenmal bekam er den Rücken gerade, strich mit der Hand über das Knie, und sah seine Frau an, streifte aber gleichzeitig Synnöve mit den Blicken. Karen saß am Tisch und wischte mit den Fingern darüber hin. »Nun ja – das ist ein schöner Antrag«, sagte sie. »Ja, ich meine, wir sollen ihn mit Dank annehmen«, sagte Guttorm laut, und seiner Stimme war eine beträchtliche Erleichterung anzuhören; dann sah er von seiner Frau fort und auf Sämund, der die Arme gekreuzt und den Rücken an die Wand gelehnt hatte. »Wir haben nur die eine Tochter,« sagte Karen, »wir müssen's uns erst überlegen.« – »Dem steht weiter nichts im Wege,« erwiderte Sämund, »aber ich weiß nicht, warum Ihr nicht gleich antworten könnt, brummte der Bär, als er den Bauern gefragt hatte, ob er nicht seine Kuh kriegen könne.« – »Gewiß können wir gleich antworten«, versetzte[232] Guttorm und sah seine Frau an. »Thorbjörn kann aber manchmal so wild sein«, sagte sie, blickte jedoch nicht auf. »Das hat sich gebessert,« erwiderte Guttorm; »Du weißt, was Du heut selber gesagt hast!« – – Das Ehepaar sah sich abwechselnd an; das dauerte eine volle Minute. »Könnten wir uns auf ihn verlassen«, sagte die Frau. »Ja,« ergriff nun Sämund wieder das Wort, »was das betrifft, kann ich nur sagen, was ich vorhin gesagt habe; mit der Fahrt geht's gut, wenn sie die Zügel hält. Sie hat eine Macht über ihn, wie man sich's kaum vorstellen kann. Das ist mir damals klar geworden, als er zu Hause bei mir krank lag und noch nicht wußte, was mit ihm würde, ob er wieder aufkomme oder nicht.« – »Du mußt nicht so hartnäckig sein,« sagte Guttorm, »Du weißt doch, was sie selber will, und wir leben doch nur für sie.« Da blickte Synnöve zum erstenmal auf und sah ihren Vater groß und dankbar an. »Ach ja,« begann Karen, nachdem es eine Weile still gewesen, und wischte mit den Fingern über den Tisch; »wenn ich solange dagegen war, dann habe ich's nicht schlecht gemeint. – Ich war wohl nicht so hart, wie sich's anhörte«; sie blickte auf und lachte; aber es wollten ihr Tränen kommen. Da stand Guttorm auf. »So ist denn in Gottes Namen das eingetroffen, was ich am meisten auf der Welt gewünscht habe«, sagte er und ging auf Synnöve zu. »Ich habe gar keine Angst deswegen gehabt,« sagte Sämund und stand ebenfalls auf; »was zusammen soll, das kommt zusammen.« Und er ging auf Synnöve zu. »Na, was meinst Du dazu, mein Kind?« sagte die Mutter, und ging nun auch auf Synnöve zu.

Die saß immer noch da; alle umstanden sie mit Ausnahme von Thorbjörn, der dort saß, wo er sich zuerst hingesetzt hatte. »Du mußt aufstehen, mein Kind«, flüsterte die Mutter ihr zu; sie stand auf und lächelte, wandte sich ab und weinte. – »Unser Herrgott sei Dein Geleit jetzt wie alle Zeit«, sagte die Mutter, umarmte sie und weinte mit ihr zusammen.[233] Die beiden Männer traten zurück; jeder ging zu seinem alten Platz.

»Du mußt zu ihm hingehen«, sagte die Mutter immer noch unter Tränen, ließ sie los und schob sie sanft vorwärts. Synnöve tat einen Schritt; aber blieb stehen, weil sie nicht weiter konnte; Thorbjörn sprang auf, ging auf sie zu, ergriff ihre Hand, wußte nicht, wie er sich benehmen sollte, und blieb Hand in Hand mit ihr stehen, bis sie ihre sacht zurückzog. Dann standen sie schweigend nebeneinander.

Lautlos öffnete sich die Tür, und ein Kopf erschien im Rahmen. »Ist Synnöve hier?« fragte jemand bedächtig. Es war Ingrid Granliden. »Jawohl, hier ist sie, komm nur herein«, antwortete ihr Vater. Ingrid zauderte. »Komm nur; hier steht alles ganz gut«, fügte er hinzu. Alle sahen sie an. Sie schien etwas verlegen; »ich bin aber nicht allein hier«, sagte sie. »Wer ist denn noch da?« fragte Guttorm. »Mutter!« erwiderte sie leise. »Immer herein mit ihr!« riefen alle vier in der Stube auf einmal. Und die Hausfrau ging ihr entgegen, während die anderen sich freudestrahlend ansahen. – »Komm nur, Mutter, Du kannst gern herein«, hörten sie Ingrid sagen. – Und herein kam Ingebjörg mit ihrer weißen Haube. »Ich hab's wohl gemerkt,« sagte sie, »wenn Sämund seinen Mund auch nicht auftun kann; und da hielten die Ingrid und ich es nicht länger aus – wir mußten her.« – »Und hier stehen die Dinge so, wie Du's wünschst«, sagte Sämund und machte Platz, damit sie besser herankönne. – »Gott segne Dich, mein Kind, dafür, daß Du ihn an Dich geknüpft hast,« sprach sie zu Synnöve, und umarmte und streichelte sie; »Du hast solange, solange fest zu ihm gehalten, und jetzt ist alles gekommen, wie Du es gewollt hast.« Und sie streichelte ihr die Backen und das Haar, und über ihr eigenes Gesicht rannen Tränen, aber sie beachtete sie nicht; sie trocknete nur Synnöve die Tränen ab. »Ja, er ist ein lieber, ein tüchtiger Junge,« sagte sie, »und jetzt bin ich auch seinetwegen ganz[234] sicher«; und sie zog die neue Tochter inniger in ihre Arme. »Mutter weiß mehr in ihrer Küche,« sagte Sämund, »als wir, die in der Sache drinstehen.«

Die Tränen und die Rührung ließen allmählich nach; die Hausfrau begann an das Abendessen zu denken, und forderte Ingridchen auf, ihr zu helfen, »denn Synnöve ist heute abend zu nichts zu gebrauchen.« Und so gingen die beiden an die Arbeit und kochten Rahmgrütze. Die Männer gerieten in ein Gespräch über die Ernte und dergleichen. Thorbjörn hatte sich an das Fenster gesetzt; Synnöve schlich zu ihm hin und legte die Hand auf seine Schulter. »Wonach siehst Du?« fragte sie.

Da wendete er ihr seinen Kopf zu, sah sie lange und mit sanfter Zärtlichkeit an, dann blickte er wieder hinaus: »Ich sehe nach Granliden hinüber,« sagte er, »es ist so wunderlich, Granliden von hier aus zu sehen.«

Quelle:
Björnson, Björnstjerne: Gesammelte Werke. Berlin [1911], Band 1, S. 229-235.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Knigge, Adolph Freiherr von

Über den Umgang mit Menschen

Über den Umgang mit Menschen

»Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.« Adolph Freiherr von Knigge

276 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon