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[197] Synnöve hatte an dem Tage, nachdem Thorbjörn auf der Hochzeit gewesen, von dem Vorfall erfahren. Sein jüngerer Bruder war mit der Nachricht[197] auf die Alm gekommen; aber Ingrid hatte ihn auf dem Flur abgefaßt und ihm eingeschärft, wie weit er erzählen solle. Synnöve wußte also nicht mehr, als daß Thorbjörn mit Wagen und Ladung umgekippt, dann nach Nordhoug um Hilfe gegangen und dabei mit Knud in Streit geraten war; er habe etwas abgekriegt, liege auch zu Bett; aber es sei nicht gefährlich. Eine Geschichte, die Synnöve mehr böse als traurig stimmte; und je mehr sie darüber nachdachte, desto mutloser wurde sie. Wie fest hatte er ihr versprochen, sich so zu benehmen, daß ihre Eltern nichts gegen ihn sagen konnten! Aber auseinanderbringen sollte das ihn und sie doch nicht!
Die Verbindung zwischen Tal und Alm war spärlich, und die Zeit dehnte sich, bis Synnöve weitere Nachricht bekam. Die Ungewißheit drückte sie schwer; Ingrid wollte auch nicht wiederkommen, – es mußte also etwas besonderes vorgehen. Sie war abends nicht mehr in der Stimmung zu singen, um das Vieh nach Hause zu locken, und schlief nachts nicht gut, weil ihr Ingrid fehlte. Dadurch war sie am Tage müde, und somit wieder ihr Herz nicht gerade leichter. Sie ging umher und wirtschaftete, scheuerte Kübel und Töpfe, machte Käse, setzte Milch an, aber ohne rechte Freude an der Arbeit, und Thorbjörns jüngerer Bruder, sowie der andere Junge, die zusammen hüteten, hielten es nun für ausgemacht, daß mit ihr und Thorbjörn etwas los sein müsse, und das gab ihnen oben auf der Weide Stoff für vieles Gerede.
Am Nachmittag des achten Tages, seit Ingrid nach Hause gerufen worden, verspürte Synnöve stärkere Herzbeklemmung denn je. Nun war schon soviel Zeit vergangen, und sie hatte noch immer keine genaue Nachricht. Sie ließ ihre Arbeit liegen und setzte sich hin, um auf das Kirchspiel hinunterzuschauen; das gab ihr etwas wie einen Zusammenhang mit denen unten, und ganz allein mit sich mochte sie nicht sein. Dabei wurde sie müde, legte den Kopf auf den Arm und schlief[198] sofort ein; aber die Sonne stach und ihr Schlaf war sehr unruhig. Sie glaubte sich zu Solbakken in der Bodenkammer, wo ihre Sachen standen und sie gewöhnlich schlief; die Blumen dufteten so schön zu ihr hinauf; aber nicht mit dem Duft wie sonst; mehr wie Heidekraut. Woher mag das wohl kommen? dachte sie und sah durch das offene Fenster. Ja, da stand Thorbjörn unten im Garten und pflanzte Heidekraut ein. »Aber, Liebster, warum tust Du das?« fragte sie. »Die Blumen wollen nicht wachsen«, sagte er und ließ sich nicht stören. Da tat es ihr um die Blumen leid, und sie bat ihn schließlich, sie ihr heraufzubringen. »Ja, gern«, antwortete er, sammelte die herausgezogenen Blumen und machte sich auf den Weg; aber nun saß sie gar nicht mehr in der Bodenkammer, denn er konnte sofort zu ihr. In demselben Augenblick kam ihre Mutter dazu. »In Jesu Namen, will der Ekel von Junge zu Dir?« rief sie, sprang dazwischen und stellte sich vor ihn hin. Das wollte er sich nicht gefallen lassen, und nun fingen die beiden an, zu ringen. »Mutter, Mutter, er will mir ja nur meine Blumen bringen«, bat Synnöve und weinte. »Das hilft nichts«, sagte die Mutter und ging ihm stärker zuleibe. Synnöve wurde ängstlich, so ängstlich; sie wußte nicht, wem von den beiden sie den glücklichen Ausgang des Ringens wünschen sollte; verlieren aber sollte keiner. »Seht Euch mit den Blumen vor«, rief sie; doch sie rangen immer heftiger und heftiger, und die schönen Blumen wurden dabei überall umhergestreut, von der Mutter zertreten, von Thorbjörn zertreten; Synnöve weinte. Als Thorbjörn aber die Blumen hingeworfen hatte, wurde er mit einem Male furchtbar häßlich, ganz widerlich; das Haar auf seinem Kopfe wuchs, sein Gesicht verlängerte sich, die Augen bekamen einen wilden Ausdruck und mit spitzen Klauen griff er nach der Mutter. »Nimm Dich in acht, Mutter; siehst Du nicht, das ist nicht er, das ist ein andrer – nimm Dich in acht!« schrie sie und wollte hin und der Mutter helfen, konnte sich aber nicht vom Fleck rühren. – Da[199] hörte sie ihren Namen rufen; dann noch einmal. Und im Nu verschwand Thorbjörn und auch die Mutter. »Ja«, antwortete Synnöve und erwachte. »Synnöve!« klang es von neuem. »Ja«, rief sie und blickte auf. »Wo bist Du denn?« Das ist Mutter, dachte Synnöve, stand auf und ging auf den Platz zu, wo die Mutter mit einem Eßkorb in der Hand stand, sich mit der anderen die Augen beschattete und nach ihr ausschaute.
»Hier liegst Du und schläfst auf der kalten Erde?« sagte die Mutter. »Ich war so müde,« antwortete Synnöve, »und hatte mich nur einen Augenblick hingelegt, und da bin ich mit einemmal fest eingeschlafen.« – »Davor mußt Du Dich hüten, mein Kind – – Hier in dem Korb habe ich Dir etwas mitgebracht; ich habe gestern gebacken, weil Vater eine längere Reise machen will.« Aber Synnöve fühlte, etwas anderes müsse die Mutter hergeführt haben, und sie meinte nicht ohne Grund von ihr geträumt zu haben. Karen – so hieß ihre Mutter – war, wie gesagt, klein und schmächtig von Gestalt, hatte blondes Haar, und blaue Augen, die rastlos umherblickten. Sie lächelte ein wenig, wenn sie sprach; aber nur wenn sie mit Fremden sprach. Ihr Gesichtsausdruck war sehr scharf geworden; sie war hastig in ihren Bewegungen und machte sich immer etwas zu tun. – Synnöve bedankte sich für das Mitgebrachte, nahm den Deckel vom Korb und wollte nachsehen, was darin war. »Das kannst Du später tun«, sagte die Mutter; »ich habe wohl bemerkt, daß Du Töpfe und Kübel noch nicht abgewaschen hast; das mußt Du immer besorgen, mein Kind, ehe Du schlafen gehst.« – »Ja, das war auch nur heute.« – »Komm jetzt, ich will Dir helfen, da ich doch nun mal hier bin,« fuhr Karen fort, und schürzte sich auf. »Du mußt Dich an Ordnung gewöhnen, ob ich Dich nun unter Augen habe oder nicht.« Sie ging in die Milchkammer, und Synnöve folgte ihr langsam. Nun nahmen sie die Gefäße herunter und wuschen auf; die Mutter untersuchte, wie die Wirtschaft imstande sei, fand es nicht schlecht, gab eifrig[200] Anweisungen und half auch Synnöve beim Ausfegen. Und damit vergingen ein oder zwei Stunden. Während der Arbeit hatte sie der Tochter erzählt, was sie zu Hause gemacht hatten und wie sie durch die Vorbereitungen für Vaters Reise in Anspruch genommen war. Dann fragte sie Synnöve, ob sie auch nicht vergessen habe jeden Abend, vor dem Schlafengehen, in Gottes Wort zu lesen. »Denn das darf man niemals unterlassen, sonst ist es mit der Arbeit am anderen Tage schlecht bestellt.«
Als sie nun fertig waren, gingen sie hinaus und setzten sich, um auf die Kühe zu warten; und als sie dasaßen, fragte die Mutter nach Ingrid; sie wollte wissen, ob sie nicht bald wieder heraufkomme. Synnöve wußte nicht mehr darüber als die Mutter. »Ja, so kann es einem Menschen ergehen«, sagte die Mutter und Synnöve begriff sofort, daß sich das nicht auf Ingrid bezog; sie wollte gern einem weiteren Gespräch über diesen Gegenstand vorbeugen, fand aber nicht den Mut. »Wer unseren Herrgott nicht im Herzen trägt, der wird an ihn erinnert, wenn er's am wenigsten erwartet«, sagte die Mutter. Synnöve erwiderte kein Wort. »Ich habe immer gesagt: aus dem Burschen wird nichts. – Ist das ein Benehmen? Pfui!« – Sie hatten sich beide hingekauert und blickten vor sich hin; aber keine sah die andere an. »Hast Du gehört, wie es ihm geht?« fragte die Mutter, und warf ihr einen kurzen Blick zu. »Nein«, antwortete Synnöve. – »Es soll schlecht um ihn stehen«, sagte die Mutter. Ein Druck legte sich auf Synnöves Brust. »Ist es gefährlich?« fragte sie. »Ja, der Messerstich in der Seite; – und dann soll er noch am ganzen Leibe zerschlagen sein.« Synnöve fühlte, wie ihr das Blut in das Gesicht schoß; schnell drehte sie sich zur Seite, damit die Mutter es nicht sehen sollte. »Ja, aber es hat wohl im ganzen nicht viel zu sagen?« fragte sie so ruhig, wie sie vermochte; doch der Mutter war es aufgefallen, daß Synnöves Atem heftig ging, und darum entgegnete sie: »Ach nein, das[201] wohl nicht.« Da dämmerte es Synnöve auf, daß etwas sehr Schlimmes passiert war. »Liegt er zu Bett?« fragte sie. – »Ja, natürlich. Wie muß das seine Eltern treffen, – solch brave Leute. Gut erzogen haben sie ihn ja auch, so daß unser Herrgott nicht mit ihnen darüber in das Gericht gehen kann.« Synnöve wurde so beklommen zumut, daß sie sich kaum noch fassen konnte. Da fuhr die Mutter fort: »Nun zeigt es sich, wie gut es war, daß sich niemand an ihn gebunden hat. Unser Herrgott lenkt alles zum besten.« Vor Synnöves Augen schien sich alles zu drehen; sie glaubte vom Berg herunterzustürzen.
»Ich habe immer zu Vater gesagt: Gott schütze uns; wir haben nur die eine Tochter, und für die müssen wir sorgen. Vater ist ja etwas weich, so brav er sonst ist; aber da ist es gut, daß er sich dort Rat holt, wo er ihn findet; und das ist in Gottes Wort.« Als nun Synnöve noch bei all ihrem Kummer daran denken mußte, wie liebevoll ihr Vater immer gegen sie war, da wurde es ihr immer schwerer, die Tränen hinunterzuwürgen; aber es nützte nichts – sie fing zu weinen an. – »Du weinst?« fragte die Mutter und sah sie an; aber Synnöve ließ sich nicht richtig ansehen. »Ja, ich mußte an ihn denken, an Vater, und da – –«, und nun strömten die Tränen. – »Was hast Du denn nur, mein liebes Kind?« – »Ach, ich weiß selbst nicht recht ... das ist so plötzlich über mich gekommen ... vielleicht hat er Unglück auf der Reise«, schluchzte Synnöve. – »Wie kannst Du solchen Unsinn reden,« sagte die Mutter, »warum soll nicht alles gut abgehen? – Nach der Stadt und auf ebenen, breiten Fahrwegen.« – »Ja, denke nur ... wie es ihm gegangen ist ... dem andern«, schluchzte Synnöve. – »Ja, dem! – Aber Dein Vater fährt doch nicht wie toll darauf los, sollt' ich meinen. Der kommt sicher ohne Unfall nach Hause, – sofern unser Herrgott seine Hand über ihn hält.«
Die Mutter machte sich über Synnöves Tränen, die gar nicht aufhören wollten, allmählich Gedanken. »Es[202] gibt vieles auf der Welt, das schwer genug zu ertragen ist; aber da muß man sich damit trösten, daß noch Schwereres hätte kommen können«, meinte sie. »Der Trost ist recht schwach«, sagte Synnöve und weinte heftig. Die Mutter konnte es nicht über das Herz bringen, ihr das zu antworten, was sie dachte; sie sagte nur: »Unser Herrgott verhängt so manches über uns auf sichtbare Weise, – das hat er wohl auch diesmal getan«; dann stand sie auf, denn die Kühe brüllten schon auf dem Hang; das Geläut erklang, die Jungen jodelten, und langsam kam der Zug heran, weil das Vieh satt und ruhig war. Da bat die Mutter Synnöve, ihm mit ihr entgegen zu gehen; Synnöve stand auf und folgte ihrer Mutter; aber sehr langsam.
Karen begrüßte nun eifrig die Herde; – da kam eine Kuh nach der andern; die Kühe erkannten sie wieder und brüllten; – sie streichelte Tier für Tier, und freute sich, daß sie sich so herausgemacht hatten. »Ja«, sagte sie, »unser Herrgott ist dem nahe, der ihm nah ist.« Sie half nun die Kühe hineinbringen; denn es wollte heut mit Synnöve gar nicht flecken; Karen sagte weiter nichts und half ihr auch noch beim Melken, obgleich sie nun länger oben bleiben mußte, als sie sich vorgenommen hatte. Als dann noch die Milch durchgeseiht war, machte sie sich fertig, nach Hause zu gehen; Synnöve wollte sie begleiten. »Nein,« sagte die Mutter, »Du bist müde, die Ruhe wird Dir gut tun.« Dann ergriff sie den leeren Korb, gab ihrer Tochter die Hand, blickte sie fest an und sagte dabei: »Ich komme bald wieder, um zu sehen, wie es Dir geht – – halt Dich zu uns und denke nicht an andere.«
Kaum war die Mutter außer Sehweite, da überlegte Synnöve, woher sie am schnellsten einen Boten nach Granliden bekommen könne; sie rief Thorbjörns jüngeren Bruder, um ihn hinunterzuschicken; aber als er kam, meinte sie, daß es doch zu heikel sei, sich ihm anzuvertrauen, und sagte: »Laß nur, Du kannst wieder gehen.« Sie wollte selbst hinunter; Gewißheit mußte[203] sie haben; es war eine Sünde von Ingrid, daß sie ihr gar keine Nachricht zukommen ließ. Die Nacht war hell, der Granlidener Hof nicht so entfernt, daß sie den Weg nicht machen konnte, wenn ihr Herz sie trieb. Während sie nun noch dasaß und darüber nachsann, faßte sie in Gedanken alles zusammen, was ihr die Mutter gesagt hatte, und fing wieder an zu weinen; aber jetzt zauderte sie nicht mehr, wie sie es den ganzen Tag über getan hatte, band sich ein Tuch um und stahl sich über einen Schleichweg hinunter, damit es die Jungen nicht merkten.
Je weiter sie kam, desto mehr eilte sie; zuletzt sprang sie den Fußsteig hinab; dabei lösten sich kleine Steine und rollten hinunter. Sie erschrak. Obgleich sie wußte, daß das Geräusch nur von den rollenden Steinen kam, war es ihr doch, als befinde irgendein Wesen sich in der Nähe; sie mußte stehen bleiben und lauschen. Es war aber nichts; schneller sprang sie talwärts; ihr Fuß stieß nun gegen einen großen Stein, der mit dem einen Ende aus dem Wege hervorstak, herausgedrängt wurde und hinunterflog. Das gab ein Getöse, es prasselte in den Büschen; ihr wurde bange, und um so mehr, als sie nun genau wahrnahm, daß etwas unten auf dem Wege sich aufrichtete und bewegte. Zuerst glaubte sie an ein Raubtier; sie blieb mit verhaltenem Atem stehen; die Gestalt dort unten stand gleichfalls still. »Hoi–ho!« hörte sie rufen. Ihre Mutter! Das erste, was Synnöve tat, war, sich schleunigst zu verstecken. Sie wartete dann eine ganze Zeit, um sich zu vergewissern, ob die Mutter sie auch nicht erkannt habe und zurückkomme; aber das war nicht der Fall. Dann wartete sie noch länger, um die Mutter recht weit voraus zu lassen; als sie sich nun wieder auf den Weg machte, ging sie vorsichtig, und bald näherte sie sich dem Hof.
Ihr wurde wieder etwas beklommen ums Herz, als sie ihn erblickte, und das nahm mehr und mehr zu, je näher sie kam. Der Hof lag in tiefer Stille; die Arbeitsgeräte standen an die Wände gelehnt, Holz lag[204] gehauen und aufgestapelt, und die Axt war in den Hackeklotz getrieben. Sie ging vorbei und hin bis zur Tür; dort machte sie noch einmal Halt, sah sich um und lauschte; nichts rührte sich. Und als sie noch dastand und sich überlegte, ob sie in die Bodenkammer zu Ingrid hinaufgehen solle oder nicht, da mußte sie daran denken, daß in ebensolcher Nacht Thorbjörn vor einigen Jahren in Solbakken gewesen war und ihr die Blumen eingepflanzt hatte. Hastig zog sie die Schuhe aus und schlich die Treppe hinauf.
Ingrid bekam einen großen Schreck, als sie erwachte und sah, daß es Synnöve war, die sie geweckt hatte. – »Wie geht es ihm?« flüsterte Synnöve. Da wurde Ingrid ganz wach, erinnerte sich an alles und wollte sich erst anziehen, um nicht sofort antworten zu müssen. Aber Synnöve setzte sich auf die Bettkante, bat liegen zu bleiben und wiederholte ihre Frage.
»Jetzt geht's besser,« antwortete Ingrid im Flüsterton, »ich komme bald nach oben zu Dir.« – »Liebe Ingrid, Du mußt mir nichts verhehlen; Du kannst mir nichts so Schlimmes erzählen, das ich mir nicht schon schlimmer vorgestellt habe.« Ingrid versuchte noch sie zu schonen; aber die Furcht ihrer Freundin zwang ihr die Worte heraus und ließ keine Zeit zu Ausflüchten. Geflüsterte Fragen, geflüsterte Antworten; die tiefe Stille ringsumher machte beides noch ernster; die Zeit der Unterredung wurde zu einer feierlichen, zu einer Weihestunde, in der man auch der herbsten Wirklichkeit gerade in das Auge zu sehen wagt. Doch beide waren überzeugt, daß Thorbjörns Schuld diesmal gering war, und daß er nichts begangen hatte, das sich zwischen ihn und ihr Mitgefühl stellen konnte. Da weinten sich beide frei aus, aber leise, – und Synnöve weinte am stärksten; sie saß ganz zusammengekauert auf der Bettkante. Ingrid suchte sie durch Erinnerungen aufzuheitern: wie froh und vergnügt waren sie alle drei so manchesmal gewesen! Aber nun passierte es wie so oft, daß jede winzige Erinnerung[205] an Tage voll Sonnenschein in Kummer und Tränen zerrann.
»Hat er nach mir gefragt?« flüsterte Synnöve. – »Er hat fast gar nicht gesprochen.« – Plötzlich erinnerte sich Ingrid des Zettels, und das fiel ihr arg auf die Seele. – »Fällt's ihm zu schwer, zu sprechen?« – »Das weiß ich nicht – er denkt wohl desto mehr.« – »Liest er in der Bibel?« – »Mutter liest ihm vor; jetzt muß sie es alle Tage tun.« – »Was sagt er dann?« – »Er spricht fast gar nicht, hab' ich Dir ja gesagt; er liegt still da und sieht vor sich hin.« – »Liegt er in der bunten Stube?« – »Ja.« – »Mit dem Kopf zum Fenster?« – »Ja.« Sie blieben eine Weile stumm; dann sagte Ingrid: »Das kleine Sankthans-Spiel, das Du ihm geschenkt hast, hängt am Fenster und dreht sich.«
»Jetzt ist mir alles ganz gleich,« sagte Synnöve plötzlich und entschieden; »nichts auf der Welt soll mich von ihm trennen; es mag kommen, wie es will.« Ingrid war sehr befangen. »Der Doktor weiß noch nicht, ob er wieder ganz gesund wird«, flüsterte sie.
Da hob Synnöve ihren Kopf und sah Ingrid mit verhaltenem Weinen und stumm an; dann ließ sie ihn wieder sinken und saß in tiefen Gedanken da; die letzten Tränen rannen über ihr Gesicht; es folgten keine mehr, sie faltete die Hände, verharrte aber sonst regungslos; sie schien einen großen Entschluß zu fassen. Mit einem mal stand sie auf, lächelte, beugte sich über Ingrid und gab ihr einen langen, heißen Kuß. »Bleibt er siech, so werde ich ihn pflegen. Jetzt rede ich mit meinen Eltern.«
Das rührte Ingrid tief, aber bevor sie sprechen konnte, fühlte sie, wie ihre Hand erfaßt wurde: »Leb' wohl, Ingrid, ich gehe nun wieder allein zurück.« – Und Synnöve wandte sich schnell der Tür zu.
»Der Zettel!« flüsterte Ingrid ihr nach. – »Was für ein Zettel?« fragte Synnöve. Ingrid war schon aufgestanden, suchte ihn hervor und brachte ihn der Freundin;[206] aber während sie ihn mit der linken Hand ihr unter das Brusttuch schob, umschlang sie den Hals Synnöves mit der rechten, gab ihr den Kuß wieder, und ihre großen warmen Tränen fielen auf das Gesicht der Wartenden. Dann drängte Ingrid sie sanft hinaus und schloß die Tür; sie hatte nicht den Mut, das weitere zu sehen.
Synnöve ging langsam die Treppen hinunter, aber da sie zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt war, machte sie unvorsichtigerweise ein lautes Geräusch dabei, erschrak, lief durch den Flur, griff nach ihren Schuhen und eilte, den Zettel in der Hand, an den Häusern vorbei, über den Hofraum und direkt zum Gitter; dort blieb sie stehen, begann den Hang hinan zu steigen schnell und schneller, denn ihr Blut war in Wallung geraten. So schritt sie aus, sang leise vor sich hin, lief immer ungestümer, bis sie zuletzt müde war und sich hinsetzen mußte. Da erinnerte sie sich des Zettels. – –
Als die Schäferhunde am nächsten Morgen laut wurden, die Hirtenjungen erwachten und die Kühe gemolken und dann herausgelassen werden sollten, war Synnöve noch nicht zurück.
Als die Jungen sich darüber wunderten und einander fragten, wo sie wohl sein könne, und entdeckten, daß sie nachts gar nicht in ihrem Bett gewesen war, – da kam Synnöve. Sie war sehr bleich und still. Ohne ein Wort zu reden, schickte sie sich an, das Frühstück für die Jungen zu bereiten, legte ihnen den Vorrat zurecht, den sie für den Tag mitnehmen sollten, und half später beim Melken.
Der Nebel drückte noch auf die niedriger liegenden Hänge, der Tau glitzerte vom Heidekraut über die braunrote Felsfläche; es war etwas kalt, und wenn der Hund bellte, erklang ringsherum Antwort. Die Herde wurde hinausgelassen; die Kühe brüllten in die frische Luft und Tier auf Tier zog den Viehsteig hinab; aber dort saß schon der Hund, erwartete sie und hielt sie solange zurück, bis alle zur Stelle waren; dann ließ er sie weiter ziehen; die Herdenschellen läuteten über die[207] Hänge, der Hund kläffte, so daß es widerhallte, und die Jungen wetteiferten im Jodeln. Aus all diesem Wirrwarr von Tönen ging Synnöve fort und hin zu dem Platz, wo sie und Ingrid früher immer gesessen hatten. Sie weinte nicht, sondern saß still da, blickte starr vor sich hin und verspürte nur ab und zu etwas von dem vergnüglichen Lärm, der sich weit und weiter entfernte und mit der größeren Entfernung besser ineinanderfloß. Dabei fing sie an leise zu singen, dann immer lauter und zuletzt sang sie mit klarer voller Stimme ein Lied, das sie nach einem anderen, ihr aus der Kinderzeit bekannten, umgedichtet hatte:
Hab Dank für alles, was da geschehn,
Seit wir als Kinder im Walde spielten.
Ich dachte, das Spiel sollte weiter gehn,
Bis wir am Himmelstor hielten.
Ich dachte das Spiel sollte weitergehn
Von dort, wo die Birken uns Obdach boten,
Bis hin, wo die Solbakkenhäuser stehn
Und zu dem Kirchlein, dem roten.
Ich harrte so manchen Abend hell
Und ließ den Blick an den Tannen hangen;
Doch Schatten warf das dunkelnde Fjell,
Und Du, Du kamst nicht gegangen.
Ich harrte, harrte – – – die Welt entschlief.
Ich lauschte, spähte, wieder und wieder,
Doch die Leuchte schwelte und brannte tief
Und die Sonne ging auf – und ging nieder.
Die armen Augen spähten zu viel,
Sie taten nur immer nach einem schauen,
Nun wissen sie längst kein ander Ziel,
Und brennen unter den Brauen.
Sie sagen, mir könnte viel Trost geschehen
Im Kirchlein hinter der Fagerleite;[208]
Doch bittet mich nicht dorthin zu gehen!
Er säße mir dort zur Seite.
Doch gut, so weiß ich doch, wer es war,
Der die Höfe tat geneinander legen
Und junge Augen schuf warm und klar
Und Wälder durchzog mit Wegen.
Doch gut, so weiß ich doch, wer es war,
Der jene Kirche dort schuf zum Beten
Und machte, daß sie dort Paar um Paar
Vor seinen Altar treten.
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