[171] Die Granlidener Alm war schön gelegen; von ihr konnte man das ganze Kirchspiel überschauen – zuerst und am deutlichsten Solbakken inmitten seines vielfarbigen Waldes; dann die andern Höfe in ihrem Ring von Wäldern; wie Friedensstätten, die mit aller Macht und Kraft dem wilden Boden abgewonnen waren, erschienen die grünen Grasflächen mit den Häusern darauf. Vierzehn Höfe konnten von der Alm aus gezählt werden; von dem Granlidener waren nur die Dächer sichtbar; und auch sie nur vom höchsten Punkt aus. Nichtsdestoweniger setzten sich die Mädchen öfter hin, um nach dem Rauch zu blicken, der dort unten aus den Schornsteinen aufstieg. »Jetzt kocht Mutter das Mittagessen,« sagte Ingrid, »heute gibt's Pökelfleisch und Speck.« – »Hörst Du, jetzt werden die Männer gerufen,« sagte Synnöve, »wo arbeiten sie denn heut?« und die Augen der beiden verfolgten den Rauch, der[171] wild und wirbelnd in die klare, sonnenheitre Luft emportrieb, aber bald langsamer wurde, sich's überlegte – und dann breit über den Wald hinfloß, immer dünner und dünner, zuletzt nur wie ein fächelnder Flor und dann kaum mehr zu erkennen. So mancher Gedanke wurde bei diesem Anblick in ihnen wach und umkreiste das Kirchspiel. Heute waren sie in Nordhoug beisammen. Die eigentliche Hochzeit war schon ein paar Tage vorbei; aber da die Nachfeier eine Woche dauerte, klangen noch immer Schüsse und allerlei derbe Rufe zu ihnen herauf. »Die sind aber vergnügt«, sagte Ingrid. – »Ich beneide sie nicht darum«, sagte Synnöve und nahm ihr Strickzeug. »Da möchte man mit dabei sein«, sagte Ingrid, die sich hingekauert hatte, um nach dem Hofe zu blicken, wo die Menschen zwischen den Häusern hin- und hergingen – einige zum Schuppen, vor dem wohl die gedeckten Tische standen, andere paarweise in vertraulichem Gespräch etwas weiter. »Ich weiß nicht recht, was einen dahin ziehen sollte«, sagte Synnöve. »Ich weiß das auch kaum,« antwortete Ingrid, die immer noch dasaß; »vielleicht der Tanz.« Synnöve entgegnete nichts. »Hast Du noch nie getanzt?« fragte Ingrid. »Nein!« – »Hältst Du Tanzen für eine Sünde?« – »Das weiß ich nicht recht.« Ingrid mochte im Augenblick nicht weiter davon reden; denn es fiel ihr ein, daß der Tanz bei den Haugianern streng verboten war, und sie wollte Synnöves Verhältnis zu ihren Eltern in diesem Fall nicht näher berühren. Aber da ihr nun mal der Gedanke kam, sagte sie nach einer Weile: »Einen bessern Tänzer als Thorbjörn habe ich noch nie gesehen.« Synnöve blieb ein Weilchen still, dann sagte sie: »Ja, er soll gut tanzen.« – »Du müßtest ihn einmal tanzen sehen«, rief Ingrid lebhaft und wandte sich ihr zu. Aber schnell entgegnete Synnöve: »Nein, das möchte ich nicht.«
Ingrid war einigermaßen betroffen; Synnöve beugte sich über ihr Strickzeug und zählte die Maschen; plötzlich ließ sie die Arbeit in den Schoß fallen, sah vor sich[172] hin und sagte: »So herzlich vergnügt wie heute bin ich lange nicht gewesen.« – »Warum?« fragte Ingrid. »Weil er heute nicht in Nordhoug mittanzt.« Ingrid hing ihren eigenen Gedanken nach. »Ja, es sollen Mädchen dort sein, die ihn gern haben möchten«, sagte sie. Synnöve öffnete den Mund, als ob sie reden wollte, schwieg aber und zog eine Nadel heraus und eine andere ein. »Thorbjörn möchte wohl selbst gern dort sein, ja, das glaube ich gewiß«, fuhr Ingrid fort. Aber kaum hatte sie das ausgesprochen, da fiel ihr ein, was sie damit gesagt hatte; sie sah Synnöve an; die war feuerrot geworden und strickte eifrig. Nun wurde Ingrid mit einem Male alles in ihrem Zwiegespräch klar; sie klatschte in die Hände, kam schnell angelaufen, kniete im Heidekraut dicht vor Synnöve nieder und sah ihr fest in die Augen – Synnöve strickte eifrig. »So, jetzt weiß ich, daß Du mir manchen lieben Tag etwas verheimlicht hast«, sagte Ingrid. »Was meinst Du denn?« fragte Synnöve und warf ihr einen unsicheren Blick zu. »Du bist nicht böse, weil Thorbjörn tanzt«, antwortete Ingrid – die Freundin entgegnete nichts. Ingrid lachte mit dem ganzen Gesicht, schlang die Arme um Synnöves Hals und flüsterte ihr in das Ohr: »Nein, Du bist böse, weil er mit einer andern tanzt.«
»Wie kannst Du nur solchen Unsinn reden«, sagte Synnöve, riß sich los und stand auf. Ingrid stand gleichfalls auf und ging ihr nach. »Sünde ist es, daß Du nicht tanzen kannst,« sagte sie und lachte, »eine wahre Sünde! Komm her, ich will's Dir gleich beibringen«, und sie legte ihren Arm um Synnöves Hüfte. »Was willst Du?« fragte Synnöve. »Dir's Tanzen beibringen, Dir den Kummer vertreiben, daß er mit einer andern als mit Dir tanzt!« Nun mußte Synnöve auch lachen, oder wenigstens so tun. »Hier können wir gesehen werden«, sagte sie. »Gott segne Dich für die Antwort, wenn sie auch herzlich dumm war«, rief Ingrid, fing darauf an zu trällern und Synnöve im Takt herumzuführen. »Nein, nein, das geht ja nicht!« – »Du hast ja selbst vorhin gesagt,[173] Du bist lange nicht so vergnügt gewesen wie heute.« – »Ach, wenn es nur ginge!« – »Probier' es nur, dann wirst Du schon sehen, daß es geht.« – »Du bist außer Rand und Band, Ingrid.« – »Ja, so sagte auch die Katze zum Sperling, als er nicht stillhalten und sich fangen lassen wollte; komm nur.« – »Ich hätte schon Lust; aber –« – »Jetzt bin ich Thorbjörn und Du bist seine junge Frau, die nicht will, daß er mit einer andern als mit ihr tanzen soll.« – »Aber –« Ingrid trällerte, »aber«, entgegnete Synnöve noch; doch sie tanzte schon. Es war ein Springtanz. Ingrid ging mit großen Schritten und Armbewegungen wie ein Mann voraus; Synnöve folgte mit kleinen Schritten und niedergeschlagenen Augen. Ingrid sang:
Und der Fuchs unter Wurzeln der Birke lag,
Abseits vom Heidekraut,
Und der Hase sprang lustig im grünen Hag,
Über das Heidekraut.
Die Sonne gießt Licht aus üppigem Born,
Und glitzert hinten und glitzert vorn,
Über dem Heidekraut.
Und es lacht der Fuchs im Wurzelversteck,
Abseits vom Heidekraut,
Und der Hase sprang unbändig keck
Über das Heidekraut.
Mir ist heut gar so fröhlich zumut,
Juchhei, mein Häslein, wie springst Du gut
Über das Heidekraut.
Und es lauert der Fuchs im Wurzelversteck,
Abseits vom Heidekraut,
Und der Hase hüpft just zum gleichen Fleck,
Über das Heidekraut.
Daß Gott sich erbarme, Du bist hier?
Ei, Freundchen, wer heißt Dich tanzen vor mir,
Über dem Heidekraut?
[174]
»Na, ging's nicht schön?« fragte Ingrid, als sie stehen blieben, um Atem zu schöpfen.
Synnöve lachte und sagte, sie möchte lieber Walzer tanzen. »Ja, warum denn nicht?« meinte Ingrid, und sie setzten sich gleich in Positur; Ingrid erklärte ihr, wie sie die Füße stellen müsse. »Pass' auf, der Walzer ist schwer, sehr schwer ist er.« – »Ach, es wird schon gehen, wenn wir erst in Takt kommen.« Nun sollte gleich die Probe gemacht werden. Ingrid sang und Synnöve sang mit, anfangs leise vor sich hin, dann lauter und lauter. Aber plötzlich hielt Ingrid inne, ließ ihre Gefährtin los, klatschte erstaunt in die Hände: »Du kannst ja schon Walzer tanzen!« rief sie.
»Still, nicht sprechen!« sagte Synnöve und faßte Ingrid um die Taille, »wir wollen weitertanzen.« – »Aber wo hast Du das gelernt –?« – »Tralla, tralla« – und Synnöve schwang Ingrid im Kreis; die tanzte jetzt nach Herzenslust und sang dabei:
Schau', die Sonne tanzt auf dem Hankelidfjell,
Tanz', meine Liebste, der Abend naht schnell;
Schau', der Bergbach hüpft zum Meere fort,
Hopp, wilder Gesell, dein Grab wartet dort,
Schau', die Birke schwingt sich beim Windesspiel,
Schwing dich, Dirnlein! – Was brach dort, was fiel?
Schau', – –
»Was singst Du immer für merkwürdige Lieder?« sagte Synnöve und hörte auf zu tanzen. »Ich weiß gar nicht, was ich singe«, antwortete Ingrid, »Thorbjörn hat's mal gesungen.« – »Das ist eins von Zuchthaus-Bents Liedern, die kenn' ich.« – »Zuchthaus-Bent?« fragte Ingrid und genierte sich etwas. Sie sprach nicht mehr und blickte vor sich hin in die Ferne; plötzlich gewahrte sie ein Gespann unten auf dem Wege. »Du, dort fährt einer von Granliden herunter und lenkt in die Gemeindestraße ein.« – Synnöve sah auch hin. »Ist er es?« fragte sie. »Ja, das ist Thorbjörn, er will in die Stadt.« – –[175]
– – Es war Thorbjörn und er fuhr in die Stadt. Sie lag ziemlich entfernt, die Last war schwer und er fuhr deshalb langsam den staubigen Weg hin. Von oben konnte man ein Stück der Fahrstraße übersehen, und als er nun von den Bergen herunter jodeln hörte, dachte er sich gleich, von wem das wohl käme, kletterte auf die Ladung und jodelte wieder, so daß es zwischen den Felsen schallte. Nun wurde oben auf dem Horn geblasen; er lauschte, und als die Töne verklangen, richtete er sich wieder auf und jodelte. Dann fuhr er wohlgemut weiter; er sah nach Solbakken hinüber und meinte es bisher niemals in so hellem Sonnenglanz gesehen zu haben. Aber währenddessen hatte er gar nicht mehr an sein Pferd gedacht; das ging, wie es wollte. Da fuhr er plötzlich auf, der Gaul hatte einen scharfen Seitensprung gemacht, so daß die eine Deichselstange brach, und nun raste das Tier in wildem Trab vom Weg herunter über das Nordhouger Feld. Thorbjörn sprang auf und suchte es zu halten; es kam zu einem richtigen Kampf zwischen beiden; das Pferd wollte über einen Abhang, er riß es mit den Zügeln zurück; endlich zwang er es, sich zu bäumen, sprang ab, schlang die Leine um einen Baum, und nun mußte es stehen. Die Ladung war teilweise herausgeschleudert, die eine Deichselstange zerbrochen und der Gaul stand da und zitterte. Thorbjörn ging hin, faßte ihn am Zaum und redete ihm gut zu; dann wendete er das Pferd, daß es mit dem Rücken gegen den Abhang stand und nicht über ihn hinunter konnte; aber das Tier war zu scheu, um still stehen zu bleiben, – er mußte ihm sprungweise folgen, und so kam er wieder bis zur Straße. Dabei fuhr er an der heruntergefallenen Ladung vorbei; Töpfe und Krüge waren entzwei, der Inhalt größtenteils verdorben. Bisher waren Thorbjörns Gedanken nur auf die Fahrt gerichtet gewesen; jetzt dachte er an die Folgen und wurde wütend; soviel stand fest: zur Stadt konnte er nicht; und je klarer ihm das wurde, um so wütender war er. Als er auf den Weg gekommen,[176] scheute das Pferd noch einmal, und versuchte wieder einen Seitensprung, um sich loszureißen, und nun brach Thorbjörns Wut los. Mit der linken Hand hielt er es an Zaum und Gebiß fest, mit der rechten versetzte er ihm Peitschenhieb auf Peitschenhieb über die Lenden, so daß es rasend wurde und mit den Vorderhufen nach Thorbjörns Brust schlug. Aber Thorbjörn wich ihm aus und hieb nun ärger als zuvor – aus Leibeskräften – mit dem Peitschenstiel. »Ich werde Dir's schon beibringen, Du niederträchtiges Vieh«, und er hieb zu. Das Pferd wieherte, schrie, – er hieb zu. »Jetzt sollst Du einen kennen lernen, der stärker ist als Du«, und er hieb. Das Pferd schnaubte, so daß der Schaum Thorbjörns ganze Hand bespritzte; aber er schlug weiter: »Das soll das erste und letzte Mal sein, Du Schinder; da! da! und noch einen! Du sollst parieren lernen, Du Luder!« und er hieb. Inzwischen hatten sie sich völlig umgedreht; das Pferd wagte keinen Widerstand mehr, zitterte und bebte bei jedem Hieb und bog sich wiehernd zur Seite, sobald die Peitsche durch die Luft schwirrte. Da schämte sich Thorbjörn ein bißchen; er hielt inne. Im selben Augenblick bemerkte er einen Mann, der auf dem Grabenrand saß, sich auf den Ellbogen stützte und ihn anlachte; er wußte nicht warum, aber ihm wurde fast schwarz vor den Augen und, das Pferd am Zaum haltend, ging er auf den Mann mit erhobener Peitsche zu: »Jetzt sollst Du mal lachen!« Der Schlag fiel, traf aber nur halb, da sich der Mann mit einem Aufschrei in den Graben hinunterwälzte; dort blieb er auf allen Vieren liegen, richtete jedoch den Kopf hoch und schielte nach Thorbjörn. Dabei zog er den Mund schief zum Lachen, aber zu hören war kein Lachen. Thorbjörn wurde betroffen; eine Erinnerung durchzuckte ihn. Jawohl, es war Aslak.
Thorbjörn überlief es kalt.
»Du hast gewiß beidemal das Pferd scheu gemacht«, sagte er. »Ich habe ja nur hier gelegen und geschlafen,« antwortete Aslak, »und Du hast mich geweckt, wie Du[177] Dein Pferd verrückt gemacht hast.« – »Du bist es gewesen, – vor Dir haben alle Tiere Angst.« Und er streichelte den Gaul, von dem der Schweiß herabrann. »Dein Tier hat wohl mehr Angst vor Dir als vor mir; – so bin ich noch mit keinem Pferd umgegangen«, sagte Aslak, jetzt kniete er im Graben. »Halt Dein großes Maul«, erwiderte Thorbjörn, und drohte mit der Peitsche. Da stand Aslak auf und krabbelte aus dem Graben. »Ich ein großes Maul!? Fällt mir ja gar nicht ein – wo willst Du denn so schnell hin?« sagte er freundlich und kam näher; aber er wankte beim Gehen – er war betrunken. »Mit dem Weiterwollen ist es heut nichts«, meinte Thorbjörn und spannte das Pferd aus. »Das ist aber recht ärgerlich«, sagte der andere, kam noch näher und nahm den Hut ab.
»Herrjeh, was bist Du für ein großer und hübscher Bursche geworden, seitdem ich Dich nicht gesehen habe.« Er hatte beide Hände in die Taschen gesteckt, stand so fest, wie er konnte, auf den Beinen und betrachtete Thorbjörn, der das Pferd nicht von den Wagentrümmern losbekommen konnte. Thorbjörn brauchte Hilfe; aber Aslak darum zu bitten, das mochte er denn doch nicht. Der sah zu eklig aus. Auf seinem Anzug lag der Grabenschmutz, sein Haar hing wirr unter einem blanken, beträchtlich alten Hut hervor; sein Gesicht war zwar noch teilweise das frühere, wohlbekannte; aber jetzt immer zum Lachen verzogen, die Augen schienen noch geschlossener, so daß er sich hintenüber beugen mußte und der Mund etwas offen stand, wenn er jemand ansah; alle Züge waren schlaff, der ganze Ausdruck stier – denn Aslak trank. Thorbjörn hatte ihn schon vorher ein paarmal gesehen, aber Aslak tat, als wüßte er das nicht, er hatte sich im ganzen Kreis als Hausierer herumgetrieben und war am liebsten dort eingekehrt, wo es laut und lustig zuging. Dort trug er seine Lieder vor, erzählte seine Schnurren und bekam zum Lohn Branntwein. Darum war er auch auf der Hochzeit in Nordhoug gewesen; jetzt aber für einige Zeit wohlweislich verduftet,[178] weil er, wie Thorbjörn später erfuhr, nach seiner gewohnten Art die Leute solange zusammengehetzt hatte, bis eine Rauferei entstanden war, und da hatte er Angst bekommen, selbst verprügelt zu werden. »Binde das Pferd lieber an, das ist besser, als wenn Du's ausspannst,« sagte er, »Du mußt doch nach Nordhoug und Dir Hilfe holen.« Thorbjörn hatte schon selbst daran gedacht, aber der Gedanke war ihm unangenehm. »Dort ist ja heut eine große Hochzeit«, meinte er. »Auch eine große Menge Leute, die helfen können«, antwortete Aslak. Thorbjörn überlegte; aber ohne Hilfe konnte er weder vorwärts noch zurück, und so war es doch schließlich das beste, nach dem Hof zu gehen. Er band also das Pferd am Wagen fest und ging. Aslak folgte, Thorbjörn sah sich nicht nach ihm um. »Jetzt habe ich eine gute Begleitung für den Rückweg«, sagte Aslak und lachte. Thorbjörn antwortete nicht, sondern schritt schnell aus. Aslak sang hinter ihm her. »Da ziehen zwei Bauern zum Hochzeitshaus« usw., ein altes, überall bekanntes Lied. »Du gehst schnell,« sagte er nach einer Weile, »Du kommst noch früh genug hin.« Thorbjörn antwortete nicht. Bald hörten sie den Lärm von Tanz und das Geigenspiel; Köpfe erschienen in den offenen Fenstern des großen, zweistöckigen Hauses; Gruppen versammelten sich im Garten. Thorbjörn merkte, daß die Leute dort besprachen, wer wohl käme, zugleich, daß mancher ihn erkannte, auch wie kurz nachher das Pferd und die verstreute Ladung entdeckt wurden. Der Tanz brach ab und ein ganzer Menschenstrom wälzte sich aus dem Hause und ihnen entgegen. »Hier kommen Hochzeitsgäste wider Willen«, rief Aslak, als sie sich beide der Gesellschaft näherten. Thorbjörn wurde begrüßt, und ein Kreis von Menschen umringte ihn. »Gott segne das Fest, das gute Bier auf dem Tisch, die hübschen Frauensleute auf dem Tanzboden und den wackern Spielmann auf dem Schemel!« rief Aslak und drängte sich schnell in die Menge. Einige lachten, andere blieben ernst, einer sagte: »Hausierer-Aslak[179] ist immer gut aufgelegt.« Thorbjörn traf gleich Bekannte, denen er von seiner verunglückten Fahrt erzählen mußte; sie litten nicht, daß er selbst zu dem Pferd und den Sachen zurückging, und schickten andere hin. Der Bräutigam, ein junger Mann und früherer Schulkamerad von Thorbjörn, lud ihn ein, das Hochzeitsbräu zu kosten, und nun zog der ganze Haufen wieder in die Stube. Ein Teil, besonders Frauen und Mädchen, wollte wieder tanzen, ein anderer lieber ein Stündchen trinken, und Aslak, da er nun doch mal wieder da war, sollte etwas erzählen. »Aber sei vorsichtiger als vorhin«, fügte einer hinzu. Thorbjörn fragte, wo die übrigen Gäste seien. »Es ging ein bißchen laut und derb hier zu,« wurde ihm geantwortet, »da haben sich ein paar hingelegt und ruhen sich aus; wieder welche sitzen in der Scheune und spielen Karten, und welche sitzen mit Knud Nordhoug zusammen«. Thorbjörn erkundigte sich nicht, wo Knud zu finden sei.
Der Vater des Bräutigams, ein alter Mann, der auf einer Bank saß, aus einer Pfeife rauchte und trank, sagte jetzt: »'raus mit Deiner Geschichte, Aslak, einmal kann man sich sowas schon gefallen lassen.«
»Bitten noch mehr darum?« fragte Aslak, der sich auf einen Schemel gesetzt hatte, etwas abseits von dem Tisch, um den die andern saßen. »Jawohl,« sagte der Bräutigam und gab ihm ein Glas Branntwein, »ich bitte Dich auch darum.« – »Bitten mich noch mehr auf die Art?« fragte Aslak wieder. »Ja, das tun sie«, sagte eine junge Frau auf einer Seitenbank und reichte einen Becher Wein hin; es war die Braut, ein Frauenzimmer von zwanzig Jahren, blond, mager, mit großen, schwarzen Augen und einem strengen Zug um den Mund. – »Ich höre Deine Geschichten gern«, setzte sie hinzu. Der Bräutigam sah sie, sein Vater sah ihn an. »Ja, die Nordhouger haben immer gern meine Geschichten gehört,« antwortete Aslak, »auf Ihr Wohl!« und er leerte sein Glas, das ihm ein Brautführer gebracht hatte. »Vorwärts, los!« riefen mehrere. »Von Sigrid, der[180] Herumtreiberin«, schrie einer. »Nein, das ist eine zu eklige Geschichte«, entgegneten andere, hauptsächlich Frauen. »Von der Lierer Schlacht«, bat Svend Tambour. »Lieber was Lustiges«, sagte ein schlanker Bursche, der die Jacke ausgezogen hatte, sich an die Wand lehnte, und dabei immer mit der rechten Hand ein paar jungen Mädchen, die vor ihm saßen, in die Haare fuhr. Die Mädchen schimpften, aber dachten nicht daran, fortzulaufen.
»Jetzt erzähle ich, was mir paßt«, sagte Aslak. »Schwerenot«, murmelte ein älterer Mann, der auf dem Bette lag, rauchte, sein eines Bein herunterbaumeln ließ und mit dem andern wiederholt gegen eine Sonntagsjacke stieß, die über dem Bettpfosten hing. »Weg mit Deinem Bein von meiner Jacke!« rief der Bursche an der Wand. »Weg mit Deiner Hand von meinen Töchtern«, rief der Alte. Da liefen die Mädchen fort. »Ja, ich erzähle, was mir paßt,« sagte Aslak wieder, »Branntwein ist gut, der schießt ins Blut!« Und er schlug klatschend die flachen Hände zusammen.
»Du sollst erzählen, was uns paßt,« wiederholte der Mann im Bett; »der Branntwein kommt von uns.« – »Was meinst Du damit?« fragte Aslak und riß die Augen weit auf. »Das Jungschwein, das wir fett machen, schlachten wir auch,« sagte der Mann und baumelte mit dem Bein. Aslak schloß die Augen wieder; aber hielt den Kopf noch hoch; dann ließ er ihn sinken und antwortete nichts. Verschiedene redeten ihn an; aber er hörte es gar nicht. »Der Branntwein hat ihn untergekriegt«, sagte der Mann im Bett. Da sah Aslak auf und fing wieder an, das Gesicht zum Lachen zu verziehen. »Ja, jetzt sollt Ihr ein lustiges Stückchen hören,« sagte er, »Herrgott, ist das lustig!« setzte er hinzu und lachte mit weit geöffnetem Munde, aber hören konnte keiner irgend welches Lachen. »Er hat heute seinen guten Tag«, sagte der Vater des Bräutigams. »Hat er auch,« entgegnete Aslak, »doch erst einen Schluck auf den Weg!« und er streckte die Hand hin. Er bekam[181] ein Glas Branntwein, trank es langsam hinunter, bog den Kopf zurück, kostete den letzten Tropfen aus und wandte sich zu dem Mann im Bett: »So, jetzt bin ich Euer Schwein«, und er lachte wieder unhörbar wie vorher. Dann legte er seine Hände um das eine Knie, hob den Fuß auf und nieder, schaukelte den Oberkörper dabei hin und her – und dann fing er an:
»Ja, es war einmal ein Mädchen da drüben in einem Tal. Wie das Tal hieß, geht Euch nichts an, und auch nicht, wie das Mädchen hieß. Aber hübsch war die Dirne, und das fand auch der Besitzer des Hofs – psst, keinen Namen! – und bei dem diente sie. Sie kriegte guten Lohn, und sie kriegte mehr als sie kriegen sollte, nämlich ein Kind. Die Leute sagten, es sei von ihrem Herrn, aber er sagte das nicht; denn er war ein verheirateter Mann; und sie sagte es auch nicht; denn sie war stolz, die arme Trude. So logen sie denn was bei der Taufe zusammen – es war ja ein Elend für den Jungen, daß sie ihn geboren hatte, – da war's auch gleich, ob er mit 'ner Lüge getauft wurde. Sie kriegte einen Unterschlupf dicht beim Hof, und das paßte der Besitzersfrau natürlich nicht. Kam das Mädchen ihr mal nahe, dann spuckte sie es an, und kam der kleine Junge auf den Hof und wollte mit ihrem Jungen spielen, dann ließ die den Hurenbengel fortjagen: ›Besseres ist er nicht wert‹, sagte sie.
Tag und Nacht lag sie ihrem Mann in den Ohren, er solle das Bettelvolk hinausschmeißen. Der Mann sträubte sich dagegen, solange er Mann war –; aber dann verlegte er sich aufs Saufen, und da kriegte das Weib die Oberhand. Das war ein Elend für die arme Person. Von Jahr zu Jahr ging es mit ihr zurück, und zuletzt war sie mit ihrem Jungen dicht am Verhungern; aber der wollte nicht fort von seiner Mutter, der kleine Junge.
So vergingen allmählich acht Jahre; sie waren vergangen, und noch immer saß sie auf ihrer Stelle, obgleich sie immer weg sollte. – – – Und schließlich kam sie[182] weg! – – Vorher aber stand der Hof in lustigen, hellen Flammen und der Mann verbrannte, weil er besoffen war – das Weib rettete sich mit ihren Kindern und sagte aus, die Dirne, die dicht beim Hofe wohnte, habe den Brand angelegt. Das war wohl möglich. – – Aber es war auch was anderes möglich. – – Sie hatte so 'nen wunderlichen kleinen Kerl von Jungen. Acht Jahre mußte der sehen, wie sich seine Mutter abrackerte, und er wußte auch, wer schuld daran war; denn seine Mutter sagte es ihm oft, wenn er fragte, warum sie immerzu weine. Das tat sie auch an dem Tage, bevor sie ausziehen sollten, und darum war er fort in der Nacht. – Aber sie mußte auf Lebenszeit ins Zuchthaus, denn sie hatte selbst vor dem Gerichtsschreiber gesagt, daß sie das lustige Feuer auf dem Hofe angesteckt habe. Der Junge zog im Kirchspiel herum und alle unterstützten ihn, weil er so 'ne schlechte Mutter hatte. – Dann zog er weiter, weiter in eine ganz andere Gegend, da wurde er nicht mehr unterstützt; da wußte ja keiner, wie schlecht seine Mutter war. Ich glaube nicht, daß er selbst darüber sprach. – Zuletzt hörte ich, daß er besoffen war, und die Leute sagen, er sei zuletzt gar nicht mehr aus dem Suff herausgekommen; ob das wirklich richtig ist, soll ungesagt bleiben; aber richtig ist, daß ich nicht weiß, was er Besseres hätte tun können. Er ist ein schlechter, gemeiner Kerl; er kann die Menschen nicht leiden, besonders nicht die, die gut zueinander sind; und die gut zu ihm sind, die erst recht nicht. Und er möchte, daß die andern gerade so sind wie er selbst; das sagt er aber bloß, wenn er besoffen ist; und dann weint er, weint er, daß es Tränen hagelt, und über rein nichts; – denn worüber hätte er denn zu weinen? Er hat keinem einen Pfennig gestohlen oder, wie andere, was Böses angestellt, – also warum weint er? Und doch weint er, weint er, daß es Tränen hagelt. Und wenn Ihr das mal sehen solltet, dann glaubt ihm nicht, denn er tut's bloß, wenn er besoffen ist, und da ist er nicht zurechnungsfähig.« – Und[183] mit dem letzten Worte fiel Aslak rückwärts vom Schemel und weinte heftig los; aber das ging schnell vorüber; denn er schlief ein. – »Jetzt ist das Schwein voll,« sagte der Mann im Bett, »dann heult er sich immer in den Schlaf.« – »Das war eine häßliche Geschichte«, sagten die Frauen und standen auf, um aus der Stube zu kommen. »Ich habe ihn noch nie eine andere erzählen hören, wenn er sie selbst aussuchen durfte«, sagte ein alter Mann, der von seinem Platz an der Tür aufgestanden war: »Gott weiß, warum ihm die Leute so gern zuhören«, fügte er hinzu und sah dabei die Braut an.
Buchempfehlung
Am Hofe des kaiserlichen Brüder Caracalla und Geta dient der angesehene Jurist Papinian als Reichshofmeister. Im Streit um die Macht tötet ein Bruder den anderen und verlangt von Papinian die Rechtfertigung seines Mordes, doch dieser beugt weder das Recht noch sich selbst und stirbt schließlich den Märtyrertod.
110 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro