I.

[159] Man kappte in der Frühe die Seile. Bald nachdem sie die Anker gelichtet, glitten St. Paulis Mastenwälder hinter ihnen weg und Leuchtthürme tauchten empor.

Die Elbe warf schon bei Kuxhaven Wellen. Das Wasser trug jene schmutziggelbe Färbung, die es nach aufwühlender Erregung wie eine Art maritimer Gelbsucht zu bewahren pflegt. Verdrießlich und mürrisch starrte die Nordsee die Reisenden an, als sie jenseits der rothen Flaggentonnen, einige Stunden hinter Helgoland, endlich das offene Meer erreichten. Die Feldstühle fielen um, die Maschine stampfte gefährlich, die salzig bittern Seufzer der Meersirenen dunsteten über Bord. Doch die Wasserhölle beruhigte sich zusehends, ein heitrer Abend brach herein.

Immer vorwärts in der blauen Einsamkeit. Auf Schaum gewiegt, von Träumen geschaukelt, spinnt die Seele sich ein, wo es märchenstill wird in dem Einerlei der Meeresruhe.[159]

Selbst die alte Jungfer aus Stavanger zankt nicht mehr mit ihrem Freund, dem Herrn Kapitän, und dieser schweigt noch beredter wie gewöhnlich. Der Handelsagent aus Altona trinkt unmenschlich viel Toddy, nur seinem rührigen Mundwerk eine Ersatzbeschäftigung zu bieten, denn zu schwatzen wagt er nicht recht. So majestätisch dröhnt der hörbar lautlose Psalm, der feierlich zum Himmel emporsteigt. Ein einziges Gebet scheint rings der Hauch des Alles. Der Weltengeist schwebt über den Wassern. –

Die bewegte See erschien nach Nord, Süd und Ost in einförmige Bleifarbe getaucht. Im Westen aber glitt ein silberiger Lichtstreif über die öden Wasser hin und brandete mit der durchsägten Woge an den Schiffsbord, den er warm bemalte. Es war, als wolle er das einsame Schiff, dem auch nicht das kleinste Segel am unermeßlichen Horizonte grüßend winkte, gleichsam verbinden mit einer lichteren Welt – wo aus den smaragdgrünen und azurblauen Durchblicken des dunstfleckigen Aethers ein sanfter Strahlenregen herabrieselte.

Einen Teppich goldener Fäden breitete die westliche Sonne vor sich her, die in einem gelben Fluidum langsam verschwimmend wie ein güldnes Heiligenbild über dem Wasserspiegel hing – mit einem Nimbus umwoben von unerträglichem Glanz. Die Strahlen spielten in der flüssigen Tiefe wie Goldfischchen hin und her – bis auf einmal der Sonnenball zu einer rothen Scheibe einschrumpfte und endlich wie ein flimmernder Glühwurm erlosch.[160]

Die erste Nacht auf See in beklemmender Wasser wüste ängstigt stets die ungewohnte Brust. Alles sonnige Grün des Lebens scheint zu versinken, alle Schatten verschollener Leiden quellen aus dem Hades empor und geben dem Kiel Geleit als nächtige Schatten. Man fühlt sich sturmverschlagen.

Der kraftstrotzende überfütterte Holsteiner, der aussah, als sei die Seele von tausend verspeisten Ochsen und Hämmeln in ihn gefahren, mochte gut versichern, daß er jährlich zehnmal hin und herfahre auf der berüchtigten Seeroute Hamburg-Christiania. Schon bei der Mittagstafel hatte er durch seinen urwüchsigen Appetit nicht mehr zur Nacheiferung anspornen dürfen. Jetzt lag er wie ein Erschlagener in seiner Koje. Auch der gelehrte Bremenser, der prahlte, daß er als echter Sohn des Meeres wider alle Neptunische Tücke gefeit sei, brachte schon lang dem Poseidon beträchtliche Opfergaben.

Es schaukelte etwas, die See ging hoch. Eugen aber, am Steuerbord auf ein Pack Taue hingelagert, plauderte gemüthlich mit seiner Cigarre von alten stürmischen Fahrten, wo der Wind rauher pfiff als heut und seine Seele hochging in dunkeln Wogen, die jetzt gleichgültig ermattet. Die scharfe Kühlung drang durch sein Plaid, durchsiebte seine Haare und wusch ihm die Augen klar. O welche Frische, welche stählende Reinheit! Wenn das taktmäßige Aufrauschen der zurückgeschleuderten Wogen, die der Kiel durchschneidet, durch die Nacht ertönt, dann brauste eine ungeahnte Kraft in seinem Innern empor. –

Kathis musterhafter Magen hatte die erste Anfänger-Beklommenheit,[161] leichtes Unwohlsein mit Kopfschmerz, überwunden und marschirte stramm an Deck hin und her.

Ein Schiff stellt bekanntlich eine Welt im Kleinen dar, jede Schiffahrt scheint ein Abbild des Lebens. Die Freuden gering und zweifelhaft als da sind: gute Luft, Essen, Trinken und Nichtsthun – die Schmerzen dafür um so unzweifelhafter, und dem Rest der Glücklichen, die von der Seekrankheit verschont bleiben, wird als Ersatz eine unersättliche Langeweile zu Theil. Auch die Glocken erinnern an die Abschnitte des Erdenwallens, an Tauf-, Hochzeits- und Sterbeglocken – hier Frühstücks-, Mittags- und Vesperglocken genannt. Dazwischen noch »Schiff in Sicht«, allerlei Commandorufe und die eintönigen Schläge, welche die Zahl der Schiffsstunden verkünden. Ach, nur der Haifisch versteht die Qualen eines seefesten hungrigen Magens an Bord zu würdigen. Die öde gähnende Wasserfläche scheint ein ähnliches Vacuum im menschlichen Innern zu erzeugen. Der Magen zeigt eine Geräumigkeit sondergleichen – wieviel Ballast man auch in seine elastische Ausdehnung stopfe, er scheint niemals zufrieden und für alles dankbar, Verdauliches und Unverdauliches, Gewohntes und Ungewohntes.

Kathi entwickelte eine feurige Hinneigung zu Hummersalat, weil derselbe durch seinen hartnäckigen Widerstand gegen Verdauung doch wenigstens eine dauernde Füllung bewirkt. Gekochte Steine wären einem jugendlichen Magen »zur See« grade recht.

Der Mond ging auf. Er hatte eine karmoisinrothe Färbung, welche sich allmählich ins Violette, dann ins[162] Safrangelbe, dann ins Olivenfarbige verlor, bis er auf einmal in gespenstiger Helle weiß und voll auf seilten Wolkenthron emporstieg. Aber eitle breite Schattenwand thürmte sich langsam am Horizont entlang. In der Ferne huschte über die gekräuselten Wogen, dort wo sie genau unter der Leuchtwirkung des Gestirns zu ruhen schienen, ein spukhafter Glast dahin und zirkelte einen runden Strahlenkreis, der in rastloser Bewegung sich um sich selber drehte. Es war, als ob die Meerjungfrauen vor ihrem leuchtenden Herrscher mit silbernen Füßen in verwirrend hurtigem Neigen tanzten.

Das Meer holte voll und tief Athem und sang in mächtigen Rhythmen.

O allgewaltig harmonisches Brausen, o Wiederhall der ewigrollenden Sphären! Eine frische Brise fährt durch die Seele, und fegt allen Alltagsstaub von hinnen. Sanft schläft sich's in der engen Koje, wie ein Kind in der Wiege geschaukelt von der alten greisen Amme mit dem grauen Wellenhaar. Und sanft erwacht sich's, wie sie einlaufen in die Bai von Christiansand, die sie endlich empfängt nach so langer Irrfahrt. Das Wappen Norwegens weht in Lüften, sie betreten den Boden des alten Norge, der Vikingsheimath. Und dann steuern sie wieder drauf los, erst die Küste entlang, dann ins Skagerak hinein, wo meist kein Flecken Land zu entdecken und die Fluth tückischer stößt, als draußen in der offnen See.

Die Schären reihten sich im Mittagsschein aneinander. Ihre glatten nackten Wände strahlten wie Brennspiegel und die weißen Schwingen der Möven, die dort[163] nisteten oder auf den Kämmen der Brandung sich schaukelten, blitzen in stäubenden Funken. Kieferbewachsene Kuppen krönten die Ufer: sie stiegen terassenförmig auf und nieder, wie eine höhere Fortsetzung der auf- und abrollenden Meereswogen. Ueber dem Allen schwebte ein seliger Friede mit säuselndem rosigem Fittich dahin.

Im Hafen lag Schiff an Schiff. Auch solche, die Havarie gelitten. Aus den alten runzeligen Häusern lugten hübsche Frauenköpfe. In grünangestrichenen Booten fuhren junge Mädchen, allein, kräftig mit den Rudern ausholend und ihre breiten gelben Strohhüte hebend und senkend. In der Ferne sah es aus, als schwämmen Butterblumen auf dem Wasser.

Aber bald verloren sie die Küsten aus dem Auge und das breite Skagerak versetzt sie wieder ins alte Einerlei grenzenloser Einsamkeit zurück. Die Mannschaft kommt in Bewegung, der Kapitän schneidet ein finstres Gesicht und beantwortet Eugens Frage, ob er denn wirklich heraufziehe, mit einem kalten Blick seiner wasserblauen Fischaugen und einem süßlichen Zuspitzen seiner schwermüthigen Lippen: »Ja wohl!« Er – das soll nämlich heißen: der Nebel.

Alles veränderte sich. Ein plötzlich auftauchender Dunst, der wie die weiße Kaputze eines Troll über das Skagerak hinflatterte, kroch bäuchlings über die Fluth und verwischte Nähe und Ferne. Das Schiff verlangsamte sein Tempo, wie ein Roß aus scharfem Galopp sich zum Trab mäßigt und endlich sogar in Schritt verfällt. Lange Minuten hindurch, wo der Nebel sie[164] völlig rings umschlossen hielt, stoppte der Dampfer gänzlich und tastete sich Schritt vor Schritt, Kiellänge für Kiellänge, durch den Dunstkreis. Dazu das Schrillen der Kapitänspfeife, das Läuten der Nebelglocke, die Pfiffe der Dampfmaschine, alles um etwaige Schiffe aus ihrer Nähe fortzuwarnen. Doch die Gefahr, welche der Seemann ärger fürchtet als den Orkan, ging vorüber. Der Nebel fiel mehr und mehr, verzog sich und wich hinter ihnen zurück. So jäh und in so undringlicher Masse tritt er selten auf, außer in diesen norwegischen Gewässern.

Schon legten sie in Arendal an, wo sommerliche Lust die hügeligen Gassen mit traulichem Schimmer übergoß. Der frische Geruch aufgestapelten Holzes mischte sich dem feinen Salzarom des Fjords. Eugen drang in eine Conditorei ein, wo die Ladenjungfer am Klavier saß und eine Sonate spielte – ein rechtes Bild für die beschäftigungslose Behäbigkeit einer Stadt, die keinen Bettler zählt.

Au! Als Eugen seinem Entzücken über das virtuose Spiel der Ladenjungfrau, über sie gebeugt, einen etwas zu innigen Ausdruck verliehen, belehrte man ihn, daß eine Norwegische Confect-Beflissene nicht mit einer Berliner Confectioneuse zu verwechseln sei. –

Ein frostiger Frühmorgen sah sie in Christiania (für den kundigen abgekürzt: Xania) landen.

Quelle:
Karl Bleibtreu: Größenwahn. Band 2, Leipzig 1888, S. 159-165.
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