[103] Krastinik dichtete nun frisch drauf los. Als höchstes Ideal schwebte ihm die schöne Form, das virtuose Schönreden, vor. Hier waltete ein psychologisches Gesetz ob. Denn, obschon durch innere Stürme hin-und hergerüttelt, verleugnete der Graf natürlich nie den früheren Offizier und die hocharistokratische Erbschaft des östreichischen Feudalgeistes. Der Aristokrat pflegt wie im Leben, so auch in der Kunst die Form. Seinen Standesgenossen, den Pseudo-Dichter Graf Platen bewunderte der edle Lord über Alles. So drechselte er denn an seiner markigen und bilderreichen Sprache, die wie Alles bei ihm auf den Effekt berechnet war, meist so lange herum, bis sie schwulstig und gequält wirkte.
Es gehört zum guten Ton eines Mannes der guten Gesellschaft, daß er Jedermann möglichst viel Verbindliches sage. Man muß sich beliebt zu machen wissen. Krastinik bewährte auch hierin den besten Ton. Er machte jedem Litteraten den Hof und sprach über Jeden gut – aus Klugheit, wobei er natürlich Jedem verschwieg, daß er[103] hinter seinen Rücken ebenso intim mit dessen Todfeinden verkehre. Seine angeborenen Gentleman Manieren fielen unter den Litteratenplebejern wohlthätig auf. Er übervornehmte noch die »vornehmsten« Frack-Geister, den schönen Ernst Kabel und den noch schöneren Emil Buttermann (den Leib-Romanzier der »Berliner Tagesstimme« als Protegé der Frau Dr. Bergmann, Chef-Redactrice dieses Weltblattes). So führte Krastinik ordentlich die bisher dort unbekannte Gattung des Offiziers und Junkers typisch in die Dichtergilde ein, ohne indeß mit systematischem Ernst diese Theil-Aufgabe zu verfolgen, die ihm vielleicht eine feste Stellung in der Litteratur gesichert hätte.
Eine besondere Zuneigung bewies dem hochgeborenen Herrn Grafen kein Geringerer, als Heinrich Edelmann. Diesen Messias der Poesie, welcher alle drei Jahre ein lyrisches Gedichtchen als epochemachende Missethat verübte, verehrte Alldeutschland als Leiter eines umfangreichen Pump-Systems. Auch die Mildthätigkeit edler Freundinnen hinter den Coulissen wirkte in wohlthätigem Halbdunkel. Seine berühmteste Leistung bildete das lyrisch-melodramatisch-symphonische Opus »Paris«, worin die Belagerung von Paris und die Kaiserproklamation mit gegenseitig auftretenden Massen-Chören in zwölftausend griechischen Tetrametern besungen wurden.
Sein Aeußeres schien unheilverkündend: Er glich einem verhungerten Aasgeier. Seine Raubvogelnase, seine blutlosen schmalen Lippen, sein mangelndes Kinn, sein lauernder Blick bildeten für den Physiognomiker ein anmuthiges Ensemble, welches durch seine sauber elegante[104] Kleidung, sowie sein liebenswürdiges und doch reservirtes Wesen, in welchem er den sinnenden Idealisten herauszubeißen strebte, nicht verdeckt werden konnte. Seine Lieblingsstellung, in welcher boshafte Aufpasser wie Schmoller und Leonhart ihn häufig mimisch abkonterfeiten, entpuppte unbewußten Selbst-Verrath. Er saß dann nämlich fromm und vornehm als Jesuitenpater am Tisch, nur hier und da ein salbungsvolles Wörtlein mit seiner stillen sanften Stimme lispelnd, und blickte die Redenden mit verklärtem Schief-Blick an, während sein Denkerhaupt halb zur Seite hing und seine Hand unterm Tisch seinen gold-umränderten Kneifer putzte. Man mußte bei dieser unterm Tisch hantirenden Hand unwillkürlich an »Mogeln« beim Kartenspiel denken.
Eigentlich war er nur ein halber Mann, eine Hälfte, wie ein Siamesischer Zwilling, der mit einem andern Wesen verwachsen. Seine schönere Hälfte stellte nämlich ein Herr Rafael Haubitz vor, mit welchem zusammen er eine Serie kritischer Broschüren plante, unter dem Titel: »Die idealen Waffenbrüder.« Darin wurde ein süddeutscher Graf, der außer mehreren Millionen auch ein didaktisches Talent besaß, als Genie gepriesen; andere Leute hingegen, deren Hand zu fest am Federhalter klebte, um »offen« zu sein, mit gebührender Verachtung bestraft. Man hätte diese Waffenbrüder sozusagen zu Fechtmeistern promoviren können, wegen unerschöpflichen Reichthums an allerlei Finten.
So »fochten« sie denn rüstig weiter als wackre Handwerksburschen der parnassischen Heerstraße und erwarben[105] sich den ehrlich verdienten Beinamen: »Die ungeschundenen Raubritter.«
Wie gesagt, begrüßte Edelmann einen neuen Priester des Idealismus mit wahrer Inbrunst und bedurfte nach dem Titel »Graf« keines Beweises mehr für die Bedeutendheit desselben. Er sah's ihm gleichsam an der Tasche an.
Da Krastinik den Wunsch aussprach, auch den Musagetes Rafael kennen zu lernen, so wurde verabredet, daß ihn Edelmann in den berühmten Verein » Drauf« führen solle, wo als Vorsitzender und Vice-Vorsitzender die beiden idealen Waffenbrüder fungirten.
So sah denn der Neophyt der litterarischen Mysterien den Messias der Zukunftspoesie dort leibhaftig.
Dieser Gott erkor als sterbliche Hülle die Gestalt eines bleichen Jünglings mit langwallender schwarzer Mähne, Spitzbärtchen und Kneifer. Er litt an permanentem Stockschnupfen und stotterte ein wenig; dabei lag im Tonfall seiner Stimme eine undefinirbare Arroganz. Sein Roman »Die neuen Riesen« in sechs Bänden befand sich seit beiläufig sechs Jahren unter der Presse und tauchte regelmäßig als mystischer Lockvogel auf, wenn ein neuer bedeutsamer Pump der beiden Waffenbrüder inscenirt werden sollte. Sie versandten dann neben den Privatbriefen, welche das Erscheinen dieses Meisterwerks nebst dem Dantesken Epos »Lied der Völkermuse« (»Mölkerfusel« hieß dies ungeborene Riesenwerk im Privatjargon der litterarischen Kreise) ankündigten, noch ein Plakat:
[106]
»Demnächst erscheint:
Kritische Schneidemühle.
Herausgegeben von Heinrich Edelmann und
Rafael Haubitz.«
Zugleich erbaten sie dabei Einsendung sämmtlicher Werke des Autors »behufs eingehender Würdigung« sowie von Manuscripten aus der »geschätzten Feder« des erkorenen Opfers. Besonders das Manuscript-Anhäufen gehörte in das System der Waffenbrüder als eine Art Strebepfeiler des Ganzen. Sie wußten, daß der Autor um sein Manuscript bangt, wie eine Henne um ihr Küchlein, und gerne ein Darlehn sendet, um wenigstens sein »verlegtes« Manuscript zurückzukaufen.
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Rafael empfing den Grafen sehr gnädig und beehrte ihn mit huldvollem Handdruck, als Heinrich ihm mit verschwimmenden Augen, indem er gerührt seinen Kneifer putzte, einen neuen edeln Kämpen des Idealismus vorstellte. »Jaja, bewahren wir uns den I-I–Idealismus!« geruhte er zu stottern »darin liegt Alles. Die Phi–Philister haben den idealen Sinn schmählich ver–ä–loren. Nicht aber wir, die deutsche Ju–Jugend. – Sehen Sie, lieber Krastinik – Sie nennen mich doch einfach Haubitz? ich bitte darum – sehn Sie unsern Verein ›Drauf‹! Kommen Sie häufig her! Aus ihm wird dereinst der große Dichter der Zeit hervorgehn. Wir beginnen damit, unsre Begriffe zu läutern, ehe das Schaffen anhebt.«
Das sei sehr löblich, bekräftigte Krastinik trocken.[107] Mittlerweile sah er sich die Garde du Corps an, die, um die beiden Reform-Messiasse gepaart, daselbst tagte. »Drauf«! Wahrhaftig, das schienen ordentliche Draufgänger, unter Umständen auch Durchgänger. Manche sahen so pfiffig aus, daß man ihnen den geriebensten Pump-Idealismus schon zutrauen mochte. Andre wieder bewahrten noch ein kindliches Wesen und schienen vom Rasirmesser der Erfahrung noch verschont, obschon sie krampfhaft ihr keimendes Bärtchen zupften. Man hatte da auch einen gewissen Victor Hugo, oder Carlyle redivivus, einen Sagus des Nordens mit völlig verwildertem Urwald-Bart und titanischem Haarwuchs. Sein breiter Turner-Hemdkragen war noch unübertüncht von Europens Höflichkeit und schien bei der letzten Sintfluth zum letzten Mal in der Wäsche gewesen. Übrigens trug er bei der größten Kälte einen Turneranzug aus Drillich; darunter freilich Jägersches Woll-Regime, so daß es ihm nichts schaden konnte. Doch brauchte das ja Niemand zu wissen: die wunderbare Abhärtung des Sagus bildete einen Grundpfeiler seines Ansehens bei den Gläubigen »Jungdeutschlands«. Diese Litteraturstudenten verehrten diesen würdigen Meergreis, Ambrosius Sagusch (man leitet hieraus einfach »Sagus« ab), wie einen heiligen Vater. Wenn er so mit Pfingstapostelzungen zu säuren anhob, verehrte man ehrfürchtig eine neue Apokalypse, eine Offenbarung Johanni in ihm. »Im Anfang war das Wort und das Wort ward Fleisch« – was Wunder also, daß er während seiner Wortspendung mit würdevollem Bedacht diverse Fleischgerichte zu sich nehmen mußte, deren[108] Werth in irdischem Mammon nachher auf gemeinschaftliche Kosten seiner Verehrer festgestellt wurde.
Kurz, Ambrosius Sagusch blieb eine naive kindliche Seele und schnorrte grundsätzlich gleich beim ersten Mal. Hierin war er Doctor Heinrich Edelmann überlegen und wich von dessen Spinnen-System beträchtlich ab, welches langsam, aber sicher seine Fliegen umgarnte. Obschon daher Jeder von Beiden über den Andern offiziell urtheilt, derselbe sei »ein vornehmer idealer Geist«, herrschte doch eine verkniffene Animosität zwischen dem Sagus und den verbrüderten Weihepriestern, welche von kleinlichen Seelen vielleicht als Geschäftsneid ausgelegt werden konnte. »Ah, lieber Graf, bist Du da?!« rief Sagusch, indem er den Grafen zärtlich umarmte, der darüber etwas betroffen schien. »Ich habe schon viel von Dir gehört. Deutschen Gruß und Handschlag! Warum sind wir alle so kalt? Warum fliegst Du nicht in meine Arme?«
»Ich danke Ihnen, werther Herr ...« stammelte der Graf erstaunt. Aber da grollte ein gewisser Unmuth in des Sagus Seherstimme, als er, die Jupiterlocken schüttelnd, losknurrte: »Neune mich doch Du!«
Krastinik verbeugte sich verlegen, wurde aber eiligst von einigen Litteraturstudenten über die ihm zu Theil gewordene Ehre belehrt. Der Sagus, welcher die Wurzeln alles Übels zugleich auszurotten wußte, verpönte nämlich das neumodische »Sie«. Dafür sagte er zu Frauen »Ihr,« zu jungen Leuten »Er« und zu auserkorenen Schlachtopfern »Du«. Man fand das riesig originell, wie es einem Riesengeiste geziemt, dessen Roman-Ungethüm[109] »Die Strohmer« an die schönsten Dunkelheiten des seligen Mystikers Hamann gemahnte.
Der löbliche Verein »Drauf« schien vollzählig versammelt und die Versammlung konnte nun losgehn. »Wer ist denn das da?« fragte Krastinik plötzlich, »Der da am andern Ende mit dem düstern Blick und der ausgearbeiteten Stirn, der so lebhaft plaudert?«
»Ach, das – ist Leonhart!« machte Edelmann gedehnt. »Wie der sich nur heut herverirrt hat! Er war doch noch niemals hier.«
»Ja, er hat einen jungen Frischling mitgebracht, der hier eingeführt sein wollte. Wieder mal Einer von seinen Protegés. Wie lange wird's dauern! Sie müssen wissen, lieber Freund,« wandte sich Haubitz an den Grafen, »dieser Leonhart – ein Bramarbas und Aufspieler ohne alle und jede Begabung – hängt in seiner trostlosen Unreife eben stets von den Anregungen ab, die ihm von Andern zugetragen werden. Was er heut feierlich in den Himmel hebt, erklärt er morgen für den ungeheuerlichsten Unsinn. Heut entdeckt er ein Genie, morgen ist's ein dummer Junge.«
»Ja, so ist's!« versicherte Edelmann mit einem wohlwollenden Mitleidsseufzer »Der arme Leonhart! Da hat er jüngst ein Drama geschrieben ›Nemesis‹ – da hat ihn aber die Nemesis gehörig ereilt. Ein trauriges Opus à la Grabbe. Er ist ...«
»Ah, meine theuren Herrn Waffenbrüder!« unterbrach ihn eine tiefe Stimme von eigenthümlich vibrirendem Wohlklang.[110] »Ich erlaube mir hier, Ihnen einen Collegen vorzustellen, der Ihre Bekanntschaft zu cultiviren wünscht: Herr von Lämmerschreyer.«
Leonhart war. herangetreten und präsentirte dabei einen jungen Menschen, der sich das Air eines Offiziers in Civil gab und sehr elegante Verbeugungen cultivirte. Aus seiner Uhrkette baumelten eine Reihe Medaillons und sein hellgrauer Anzug wurde durch einen weißen Hut vorteilhaft gekrönt. Ein glänzender Wirbelscheitel legitimirte ihn als Inhaber eines wandelnden Bürstenladens. Seine griechische Nase und seine niedrige Stirn liefen ineinander über, seilt kleiner lüsterner Mund athmete brutale Geilheit, seine Schlangenäuglein zwinkerten verschmitzt frech, halb von dem breiten Augenlid bedeckt wie Schweinsaugen. Seine aufgedunsenen Backen und sein stattlicher Leibesumfang befähigten ihn zum Hamletschmerz, obschon er grade keinen Vater zu rächen hatte. Doch »fett und kurz von Athem sein« ist ja das erste Erforderniß zum melancholischen Dänenprinzen – das Uebrige findet sich.
»Ah, Ihre ›Oden am Strome der Zeit‹ empfing ich!« Der immer herablassende Heinrich schüttelte dem neuen Bruder in Apollo innig die Hand. »Werde mich demnächst mit Kraft und Nachdruck darüber äußern!« Sobald er diese Lieblingsphrase losließ, wußten Eingeweihte, daß er keine Zeile unter zwanzig Mark Pump-Gebühren schreiben werde – nie ohne dieses.
»Jaja, er bezeugt darin sich und seinen näheren Freunden seine und ihre Erhabenheit, wuchtig aufstampfend[111] in Pindarischen Metren!« lachte Leonhart. »Wie heißt doch gleich die Eingangs-Widmung?
Laß mich hochauftönend im Odenschwung
Rufen Heil uns Söhnen der Gottheit, Heil!
Nieder mit Pfaffen, Tyrannen und Prosa! Hoch
Verskunst und Tugend!
Fahren Sie so fort, lieber Odensänger! – Apropos,« wandte er sich an den biedern Heinrich »ich habe Ihnen noch gar nicht gedankt für Ihren schönen Brief über mein Drama ›Nemesis‹. Sie werden's also wirklich nächstens ausführlich besprechen? Ach, ich kann Ihnen nicht sagen, wie es mich erfreut, daß grade Sie sich so günstig darüber aussprachen.«
Hier räusperte sich Ambrosius Sagusch doch etwas bedenklich, Krastinik sah betreten aus und über Heinrichs bleiche Wange flog ein flüchtiges Roth. Eine boshafte Freude blitzte in Leonharts Auge und er fuhr unverdrossen fort:
»Sehen Sie, das hat mich ergriffen, dieser ungekünstelte collegiale Zuruf: ›Ihr Drama hat einen gewaltigen Odem. Es ist in seiner Art, ich möchte sagen, vollkommen.‹
Und Sie, lieber Haubitz, Sie machen ja Ausstellungen, aber Sie schließen doch ernst und ehrlich: ›Jedenfalls besitzen Sie eine elementare Dichterkraft.‹ Das war mein Urtheil stets und ist es noch heute! Dank, Dank! – Aber da klingelt ja unser Präsident zur Tagesordnung.. auf Wiedersehn!« Nachdem er diesen parthischen Pfeil abgeschossen, setzte sich Leonhart mit seinem eingeführten Gast behaglich nieder und bestellte eine Flasche gefälschten[112] Rheinweins, da Edelmann in aller Eile aus seinen Vorsitzenden-Platz geeilt war, um der unheildrohenden Festnagelung des bösartigen Realisten zu entrinnen. Krastinik verlor jedoch den seltsamen Menschen nicht aus den Augen, an den ihn alsbald ein unerklärliches Interesse fesselte. Nach den Warnungen, die ihm zu Theil geworden, hatte er vermieden, ihn anzureden, was ihm freilich durch den kalten Gruß des hochmüthigen Dichters erleichtert wurde.
Es wurde nun ein Vortrag des abwesenden Ehrenmitglieds Paulus Hartung, genannt »der Knüppelreformer«, verlesen. Derselbe war datirt: »Geschrieben am Jahrestag meines letzten Selbstmordversuches« und brach in der Mitte ab, »da der Autor plötzlich von einer Gemüthskrankheit ergriffen wurde« – eine traurige Mittheilung, welche jedoch die Anwesenden mit stoischer Ruhe entgegen nahmen, da ja Jeder von ihnen aus eigener Erfahrung den Rummel kannte.
Paulus Hartung war augenscheinlich in Spanien reichbegütert und stolz will man den Spanier. Daher entwickelte er als Baumeister voll Lustschlössern eine Sicherheit, als sei er zum Oberhofbaurath der hochlöblichen Vorsehung bestallt. Kommen, hören, sehen und staunen! Das Theater müsse vorerst durch Niederreißung sämmtlicher Kunstbuden gereinigt werden. Sodann sei Abschaffung der Coulissen nöthig und ein Orchester voll Posaunenbläsern habe als Chor im antiken Sinne mit nägelbeschlagenen Kothurnsocken zu beiden Seiten des Podiums aufzumarschiren. Ferner verlangte der Knüppelreformer ein neues klassisches Reportoir, dessen eisernen[113] Bestand die Komödien von Lenz und Klinger sowie »Die Kindsmörderin« voll Leopold Wagner zu bilden hätten. Nur so, der lästigen Concurrenz fremder Götzen wie des Engländers Shakespeare entledigt, werde das »Jüngste Deutschland« seine hohen Ziele einer Theaterreform im Sinne einer wahren Volksbühne erreichen und vor allem seine eignen Stücke zur Aufführung bringen, wobei er besonders auf das allbekannte herrliche Blutschande-Trauerspiel unseres Rafael Haubitz »Der Würgeengel« hinweise.
Lebhafter Beifall lohnte den gediegenen Vortrag. Nur Leonhart hatte sich wenig taktvoll benommen und stets mit der Hand schmunzelnd über seinen Schnurrbart gestrichen, als verberge er mühsam seine Heiterkeit. Auch Lämmerschreyer profitirte nicht viel – seine ganze Dichterseele wandte sich der homerischen Begierde des Trankes und der Speise zu, während er zwischen dem Kauen einige Anekdoten von einem »feudalen Weib« zum Besten gab, wie es einem solchen Verehrer der Tugend und Todfeind aller Tyrannen angemessen.
»Sie übernehmen den Wein, Herr Leonhart? Ich behalte mir Revanche vor!« meldete der Jüngling hochtrabend.
»Oller Renomierstengel!« brummte jener zwischen den Zähnen.
Eilt gewaltiger Kumpen mit Hummersalat fuhr vor, welchen Lämmerschreyer bestellt hatte. »Welch ein Gebirge! Der reine Kau-Kasus!« wortwitzelte der Jüngling.
Leonhart ermunterte ihn ironisch zu kräftigen Einhauen.[114] »So ist's recht, mein Lieber! Den Dicken gehört die Zukunft.«
»Dank Ihnen.« Der Jüngling brach sich eine weite Gasse in das Gericht und begleitete diese ritterliche Handlung mit dem prickelnden Witzwort: »Die Stätte, die ein guter Mensch betrat, ist eingeweiht – weeß Knäbbchen – für alle Zeiten.«
Hier wurde er aber unliebsam unterbrochen.
Ein Studiosus der Philosophie, der starr und steif wie ein steinerner Gast dagesessen und den Orakeln gelauscht, dafür aber unbändig viel geistige Getränke genossen hatte, fühlte sich voll dem Kneifer Lämmerschreyers schon wiederholt beleidigend gestreift. Jetzt brach er plötzlich ganz unmotivirt los: »Mein Herr, wünschen Sie was von mir? Sie haben mich fixirt.«
Lämmerschreyer ließ die Gabel fallen und starrte ihn majestätisch an. Das empörte jenen Musensohn aufs höchste, er sprang auf und rief: »Sie! Sie fixiren mich ja immer noch. Wenn Sie Student sind, geben Sie mir Ihre Karte!«
»Die bekommen Sie nicht!« schnaubte Jener mit ausgeworfener Nase. Er war jedoch sehr blaß geworden.
»Was? Erst fixiren und dann nicht Karte geben? Das ist eine erbärmliche Kneiferei!«
Hier legte sich jedoch Leonhart energisch ins Mittel und nach üblichem Hin- und Hergerede erklärten sich Beide für Ehrenmänner. Während dieser lebhaften Vorlage am andern Ende der Tafel, welche hier und da durch die Klingel des Präsidenten Edelmann beschwichtigt[115] wurden, hielt ein Individuum am entgegengesetzten Ende der Tafel einen unverdauten und unverdaulichen Vortrag über den »Begriff der Schönheit«. Es mummelte und murmelte ununterbrochen so fort, indem es in sein Weinglas stierte, und versicherte unablässig, daß »Schönheit der Einklang von Form und Inhalt« sei. Als dies Murmelthier schwieg, sprang Herr Rafael Haubitz auf und bewies in längerer Rede, die er stotternd hervorsprudelte, daß »die Begeisterung« (»Begeiferung?« fragte Leonhart seinen Nebenmann) das eigentliche Prinzip der Poesie sei, wobei er auch wieder die alte Phrase herleierte, bei Chinesen und Negern sei das Schönheitsideal ein ganz anderes als bei uns.
Er suchte sodann darzuthun, daß man den Begriff des Schönen in physiologische und associative Eindrücke zerlegen könne. So z.B. wirken, beim Hinaustreten aus einem Zimmer auf eine thauige Wiese im Morgenlicht, zuerst rein physiologisch das Licht, die Frische, das Grün: als angenehmer Sinneseindruck. Später aber trete das associative Gefühl hinzu: Licht und frische Luft sind gesund für jedes Lebewesen, das Grün aber wirkt schön, weil wir damit in der Erinnerung den Begriff einer blühenden Natur associiren. Warum würde ein grüner Mensch auf uns abschreckend wirken? Weil wir einen solchen noch nie gesehen haben (»Oho! Grüner Junge!« murmelte Leonhart) und das Angenehme geselligen Verkehrs in unserer Vorstellung nur mit weißen Menschen associirt sei. Daher auch unsre Abneigung gegen Schwarze, die von diesen erwidert werde.[116]
Hier bemerkte ein zartes feines Stimmchen, einem mimosenhaften Jüngling angehörig, daß die Natur doch dann nicht schön wirken könne, wenn man sie durch eine rothe Glasscheibe betrachte. Sie wirke aber dabei nur befremdlich, keineswegs unschön. Nachdem dann noch ein furchtbar gelehrtes und bemoostes Haupt von 24 Jahren einen Discurs über die Undulationsschwingungen gehalten und Helmholtz' Theorieen auf den Begriff des Schönen angewandt hatte, trat jetzt ein allgemeines Hin- und Hergerede ein, das der Präsident umsonst zu stoppen suchte. Jeder disputirte auf eigene Faust und verfocht die tiefsinnigsten Theorieen über die Gesetze der poetischen Production. Da erbat sich Leonhart Gehör, und nachdem nothdürftige Stille hergestellt, begann er also:
»Wir haben soeben manch geistreiches Wort vernommen, sind über Vieles belehrt. Erlauben die Herrschaften nun, daß auch ich zu jeder einzelnen These meinen Genf gebe. Wir haben die uralte Prase gehört, Schönheit entstehe, wenn Form und Inhalt sich decke. Nun, in einem Menzel'schen Bild oder etwa in Laibl's ›Drei alten Weibern‹ decken sich Form und Inhalt wunderbar d.h. sind von gleich origineller Häßlichkeit. Ist also auf diese Weise Schönheit entstanden? Keineswegs. Aber ist darum diese meisterliche Häßlichkeit nicht kunstwerkmäßig ausgeführt? Ja.«
Nun gehört aber ohnehin in die Rumpelkammer der alten Ästhetik, die von Aristoteles und Lessing bis auf Vischer und Nordau nur dummes Zeug zusammengeschwätzt hat, die thörichte Voraussetzung, die Kunst habe[117] die Schönheit zum weck. Macbeth als Mörder ist ganz gewiß nicht »schön«. Vielmehr wird das Gleichgewicht der Schönheit d.h. der sittlichen Naturharmonie, erst durch die Zoten des betrunkenen Pförtners, also etwas an sich Häßliches, wieder hergestellt. Wenn wir aber die Wahrheit mit den Realisten als Zweck der Kunst bezeichnen, so verlockt uns auch dies in Irrwege. Wahrheit soll sein der einzige Zweck der Wissenschaft, aber soll sein nur ein Mittel der Kunst. Der Fanatismus der Wahrheit führt uns naturgemäß zur Übertreibung und Karrikatur, also zur Unwahrheit, gerade wie etwa Atheismus zum Aberglauben führt. Die spitzfindigen Erzeugnisse von Ibsen sind wahr, aber nicht schön – und darum wirken sie kalt, blutlos, didaktisch, doctrinär. Nicht schön – fehlt da auch noch etwas Anderes: sie wirken zerrissen, fragmentarisch, wie ein höhnisches Fragezeichen. Es fehlt die Abrundung, der vollausgetragene innere Abschluß. Nun, welches Element möchte denn wohl das letztgenannte Kunsterforderniß hinzuleiten? Denken wir an Schillers allgemeingehaltene Phrase vom »Wahren, Guten und Schönen.« Das Gute – das soll bedeuten: den philosophischen Tiefblick in das Getriebe der Welt und des Herzens, der mit unentwegter Sittlichkeit immerdar die versöhnende innere Lösung findet, selbst beim zeitlichen Untergang des Guten. Eine gewisse Erhabenheit der Anschauung gehört unbedingt zu einem wahren Dichterdenker und zu einem Kunstwerk höherer Gattung.
Das Wahre und Gute in seiner Vereinigung[118] bildet das Schöne, oder vielmehr ist bereits das Schöne. So stellt der grausigste aller Romane, »Raskolnikow«, vollendete Schönheit dar, weil er vollendet Wahres und Gutes in sich birgt. Die meisten Werke von Zola sind nicht schön und nicht kunstvollendet, weil sie mir theilweise wahr und gut sind; »Germinal« und »L'Assomoir« aber nähern sich der idealen Schönheit, weil sie viel Wahres neben einigem Unwahren und manches Gute, von innerer Ergriffenheit und moralischer Erhebung Zeugende, aufweisen.
Ein anderes Gesetz der Schönheit, als das eben aufgestellte, giebt es nicht. Die sonstige »Form« ist etwas Sekundäres.
Wie aber den Künstlergeist in eine Seelenverfassung versetzen, welche das Wahre und Gute d.h. das Schöne erfassen und darstellen kann? Meister Haubitz hat uns allerlei von »Begeisterung« vordeklamirt – ist ihm diese Dame vorgestellt? Leicht möglich. »L'enthousiasme est de tous les sentiments celui-ci qui donne le plus de bonheur« sagt Frau von Staël.
Dieses Gefühl, welches »das meiste Glück giebt«, bezeichnet also den Grad höchster Extase. Glaubt nun ein psychologisch geschulter Kopf, daß dieser Zustand bei Schöpfung eines Kunstwerkes anhalten könne? Doch höchstens bei gewissen Hochmomenten.
Wenn wir nun constatiren, daß durchdringender combinirender Verstand ebensosehr wie reiche Phantasie für echte Dichtung nothwendig erscheinen, wodurch der Begeisterungs-Humbug schon in sich zusammenbricht, so[119] locken wir mit all dem keinen Hund vom Ofen für die Frage: Was ist der geheime Grundkeim des dichterischen Wesens? Nun, meine Herrn, Meister Haubitz hat uns die fable convenue wieder aufgewärmt, die schon in Wielands »Abderiten« der Demokritos zum Besten giebt, daß die Schönheitsbegriffe eines Negers andere seien als die unsern. Allein, was kommt denn für uns bei dieser Prämisse heraus, was gewinnen wir mit dieser Beobachtung? Nichts, denn sie gehört gar nicht hierher. Die äußerlichen und sinnlichen Schönheitsbegriffe sind allerdings verschieden; das können wir, ohne fremde Welttheile zu behelligen, unter uns selbst beobachten. Der eine schwärmt für dicke Frauen, dem andern sind diese ein Horreur. »Was dem Einen sin Uhl is, is dem Andern sin Nachtigall.« Aber die Schönheitsbegriffe der Kunst, von denen doch hier allein die Rede ist, die Begriffe der intellectuellen und moralischen Schönheit waren zu allen Zeiten und unter allen Völker die gleichen. Was edel handeln heißt, weiß der Schwarze wie der Weiße, und was schlecht handeln heißt, ebenso. – Auch mit den physiologischen und associativen Eindrücken ist's eine eigene Sache. So erweckt eine rothe Wange uns Lustempfindungen, weil wir diese Röthe als Gesundheit deuten. Andrerseits aber kann eine rothe Wange das Zeichen der Schwindsucht sein. Sie erweckt uns also Peinliche Empfindungen. Gleichwohl wirkt eine rothe Wange unter allen Umständen auf uns als angenehm d.h. schön, weil diese lebhaftere Farbe die Eintönigkeit der Züge belebt. Außerdem wirkt sogar die veritable Schwindsucht selbst, welche bekanntlich die Züge[120] verfeinern und gradezu vergeistigen kann, auf uns häufig als schön – allerdings nur auf den Gebildeten, auf den gröberen Sinnenmenschen nie. Der Begriff des Schönen ist also im letzten Grunde genommen ebenso abstrakt wie der des Guten – also voll physiologischen und associativen Einflüssen unbestimmbar. Aus diesem Grunde würde z.B. auf den Kunstgebildeteten eine lebendig gewordene Venus von Milo physiologisch als vollendet schön wirken, auch wenn sie stumm und dumm wäre. Hingegen würde sie unter diesen Umständen bei einem normalen Menschen niemals Liebe erwecken können, d.h. jene Schönheit besitzen, die alle Sinne gefangen nimmt. Das heißt also: die rein physiologisch als schön wirkende Schönheit – ja, wirkte sie auch wie die Venus associativ, all unsern Kunstanschauungen gemäß – wird nie als vollkommene, als absolute Schönheit wirken.
Das Psychische spricht unbedingt das entscheidende Wort – so zwar, daß ein unschönes, weder physiologisch noch associativ reizendes Aeußere sich unendlich verschönert durch innere Vorzüge und eine anmuthig seelenvolle Frau auf die Dauer die Schönste besiegt, sobald der Wettkampf um die Liebe des Mannes hervorgerufen wird. Aus diesem Grunde war es ernst gemeint, wenn Alcibiades den Sokrates als »schönsten der Hellenen« bezeichnete Die Griechen faßten eben den Begriff der Schönheit in ihrem eigentlichen Sinne auf – eine Schönheit, welche man selbst durch lebhaftes Mitfühlen gleichsam ergänzt und mitschafft.
Nun denn, dies ergänzende mitschaffende Gefühl für[121] das Schöne d.h. das Wahre und Gute halte ich für den eigentlichen Keim einer echten Dichterbegabung. – »Das Herz ganz voll von einer großen Empfindung« »Der Dichter darf nur schildern, was er liebt oder geliebt hat« – diese Worte Goethes seien Richtschnur. Dies Gefühl, das man philosophisch die Sympathie nennt – meine Herrn, ich erhebe mein Glas auf dies Eine, was den Dichter macht, die »weltumfassende Liebe.«
Als er sein langes Pronunciamento beendet, verbeugte sich Leonhart plötzlich mit leichtem Auflachen: »Mahlzeit, meine Herrschaften! Laßt's euch gut gehn!« und verließ die verblüffte Versammlung, während ihm Lämmerschreyer nach einer eleganten Rundum-Verbeugung mit dem Ruf »Herr Doctor, Ihr Überzieher!« dienstfertig nacheilte.
»Der kommt wohl nicht wieder!« bemerkte Krastinik trocken zu Edelmann, welcher mit vielsagendem Schweigen und unheilverkündendem Schielen unterm Tisch seinen Kneifer putzte.
»Wie er sein Froschtalent größenwahnsinnig aufbläht!« platzte Rafael mit ungewöhnlicher Heftigkeit los. »Er kann nicht ernst genommen werden. Welche unlöslichen Widersprüche, welche trostlose Unreife und erschreckliche Unwissenheit!«
Der Sagus des Nordens schüttelte majestätisch sein bemoostes Haupt und wirkte vernichtend durch vielsagendes Schweigen. Ein Engel durchschritt lautlos das Zimmer. Es war, als ob ein Mehlthau sich auf die Blüthen dieses litterarischen Reform-Frühlings niedergesenkt hätte. Und[122] doch hatte Leonhart ja gar nichts Verletzendes gesagt. Aber ein erdrückendes Gefühl von uneingestandener Ueberlegenheit dieses »Renommisten« beklemmte den freien Odem der stolzen Stürmer und Dränger. So drängen sich die Schafe ängstlich um den Leithammel zusammen, wenn der Löwe in die Herde fiel und sich ein Lamm von dannen trug.
»Schändlich, schändlich! Sehen Sie, Herr Graf, diese Vermöbelung im sogenannten Witzblatt ›Rempler‹. Das ist Tell's Geschoß, das ist Leonhart's grobe Klaue!«
Mit diesem Aufschrei tiefer sittlicher Entrüstung stürmten Haubitz und Edelmann in Krastiniks Stube.
»Nun, nun, lassen Sie doch sehn!«
»Das dürfen Sie nicht auf sich sitzen lassen, hochverehrter Herr Graf,« rief der Edle-Mann mit dem Brustton der Ueberzeugung, indem er ihm ein Zeitungsblatt überreichte. »Doch nein, bewahren Sie ein würdiges Schweigen. Das ist vornehmer. Vornehmsein – darin liegt Alles. Seien wir vornehm!«
Krastinik las.
Es giebt eine gewisse Presse, die dem nicht mehr ungewöhnlichen Sport sich hingiebt, reiche und vornehme Leute, die in ihren Mußestunden der sogenannten Muse opfern, in die thätlich werdende Literatur hineinzuzerren.
Solche bevorzugten Geister – sei es nun, daß sie umfangreiche Banquiergeschäfte betreiben, oder Villen in Italien oder sonstwo besitzen, sei es, daß sie sich des Prinzentitels oder doch wenigstens irgend einer andern hohen Geburt erfreuen – werden dann sorgfältig als[123] »Dichter« präparirt. Sie bilden den »neuen hoffnungsvollen Nachwuchs«, welchen man den alten Berühmtheiten, vor denen man sonst auch unterthänigst katzbuckelt, mit triumphirendem Reklamegeschrei gegenüberstellt. Es wird daher leicht begreiflich scheinen, wenn gemeine Sterbliche, welche ohne den Vorzug des Reichthums und hoher Geburt als »Literaten« auftreten, solchen »neuen Byrons,« »deutschen Flauberts,« »Berliner Shakespeares« und vor allem jener gräßlichen Wereschagin-Sorte, die »zugleich ein Sänger und ein Held« die Unreife ihrer Pro dukte durch prahlerische Ich-Reminiscenzen verbrämt, mit grimmigem Mißtrauen begegnen.
Nun, jetzt hat man uns den Dichter Xaver Graf von Krastinik entdeckt.
Schon das Hervorheben seiner »vornehmen Weltabsonderung« – die trotzdem die betreffenden M.S. in die Hände der Recensenten fallen ließ – wirkte bedenklich.
Wir kennen sie, diese großen Seelen, diese vornehmen Naturen, welche ihren Größenwahn in der Einsamkeit verstecken (warum publiziren sie denn, da sie's ja »doch nicht nöthig haben?«) und nur mitleidig hier und da ein Wörtchen davon fallen lassen, daß der hochstrebende gedankentiefe Idealismus ihrer heimlichen Dichtersünden natürlich bei solchen Verlegern, Theaterdirektoren u.s.w. keinen Anklang finden könne. Diese »Vornehmheit«, wozu sich noch die bekannte Wereschagin'sche »Bescheidenheit« (diese frechste aller Streberlügen) gesellt, verfehlt nicht ihren Zweck. Eine stets zu solcher Handlaugerei bereite Corybautenrotte trägt den neuen Götzen in die Arena und steckt mit frenetischem Hosianna natürlich die thörichte Menge an. Jetzt kommt der gewöhnliche Verlauf der Farce. Statt des »Schiller'schen Gedankenfluges« erhalten wir elendige Coulissenrhetorik, mit raffinirtesten Bühnenmätzchen zugestutzt. Statt »byronischem Weltschmerz« die alten Affen des Titanismus. Aber es hält nicht lange. Der neue Schiller und weiß Gott was Alles und der dämonisch-byronische Hinker werden zum alten Eisen geworfen. »Des Kaisers neue Kleider.«
Denn in Berlin ist alles nur Modesache. Man muß den Moment ausnützen, länger als zwei Jahre dauert's ja doch nie.
Solche und ähnliche Befürchtungen konnten durch die Proben nicht[124] zerstreut werden, die man uns aus Krastiniks Dichtungen bot. Dieselben waren theils ungenießhar, theils platt. Mit Recht hob allerdings ein Referent hervor, daß das Abwischen des Gesäß-Schweißes an seinem Trakehner nach einem Budapester Wettrennen, wie der Herr Graf dies in originell realistischen Versen schildert, von reicher Selbsterlebtheit zeuge. Nun, wir sind der denkbar größte Verehrer der Subjectivität. Aber, offen gestanden, scheint uns eine »Hymne an die Unsterblichkeit«, in der Dachkammer gedichtet, genau ebenso selbsterlebt und jedenfalls um 100 Procent gewichtiger.
Man verstehe uns recht. Gegen dies Abwischen in erträglichen Versen haben wir gar nichts. Aber dergleichen uns als besondere Genialität vorzuführen – dagegen haben wir ungemein viel. Denn hieraus resultiert eine Spezies, die man am besten als »Kavalier-Poesie« bezeichnen möchte. Nicht wahr, für das in prosaischen Tagesarbeiten hinschlendernde Publikum muß es ja ungeheuer interessant sein zu hören, wie ein »Graf« hoch zu Roß durchs Leben dahinbraust? Nein, mein werther Xaver Graf von Krastinik, daß Sie ein schöner Offizier und eleganter Sportsmann waren und davon, wie auch von etwaigen hochgeborenen und »gar nicht geborenen« Liebschaften, nicht uneben zu plaudern wissen – das macht Sie noch lange nicht zum Dichter, »zugleich ein Sänger und Held«. Aber daß Sie wirkliches und wahres poetisches Empfinden und Darstellungsvermögen besitzen, das erst adelt Sie zum Dichter.
Doch ich erlaube mir den ganz ergebensten Vorschlag, den »Grafen« künftig auf dem Titelblatt wegzulassen. Es erweckt dies immer jenes ungünstige Vorurtheil, unter dem anfangs größere Dichter wie Sie: »Graf Platen«, »Graf Strachwitz«, und »Graf A. von Würtemberg« zu leiden hatten.
Jaja, wenn wir mal 'was produciren sollten, so werden wir auf den Titel das Pseudonym »Arthur Graf Nirgendburg« setzen und unser Schloß verführerisch ausmalen. Wenn der biedere Recensent liest, wie der gnädige Graf auf Jagd gehn und leuteselig mit Dero Unterthanen verkehren so denkt Itzig: »Teufel noch mal! ›Schloß Nirgendburg in der Grafschaft Nirgendheim‹ – am Ende lädt er mich auch mal zur Jagd ein!« Und der neue Heinrich von Kleist ist fix und fertig.
[125] Unser Krastinik – wir wollen ihn mal mit Weglassung seines Titels beehren – läßt sich nur in der freien Dienstzeit herab, mit der Bürgerjungfrau Poesie ein wenig zu scharmuziren.
Ja, Herr von Krastinik – Sie gestatten mir den »Grafen« fallen zu lassen – arbeiten Sie recht fleißig wie andere gemeine Sterbliche und es kann noch was aus Ihnen werden – trotzdem man Sie als »Graf« entdeckt hat.
»Nun, was sagen Sie dazu?« Edelmann putzte wie gewöhnlich unterm Tisch seinen Kneifer, um als Maskirung schielend das Auge darauf zu richten, während er Krastiniks Gesicht beobachtete.
»Gar nichts,« erwiderte der Graf kühl, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich lege das Blatt ad acta. Er ist ungerecht, aber auch hier Zeigt sich etwas – wie soll ich sagen: Die Tatze des Löwen«.
Und dabei blieb er, trotzdem Haubitz darin »den Zahn der Schlange« erkennen wollte.
Aristokraten werden von Jugend an auf Lebensklugheit eingedrillt, gerade durch das Pflegen der äußeren Lebensformen und die stete dadurch erzeugte Selbstzucht.
Halb aus Vornehmheit, halb aus Klugheit, beschloß Krastinik daher, seinen Groll zu verbeißen. Es reiste doppelt in ihm der Wunsch, diesen seltsamen Rempeler, der schon die halbe Welt beleidigt hatte, kennen zu lernen.
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