Ida Boy-Ed

Begegnungen mit Georg Brandes

[60] Als sich im Herbst 1897 das literarische und gesellschaftliche Ereignis der Erstaufführung von Sudermanns »Johannes« begab, war Georg Brandes gerade in Berlin und auf dem großen Festmahl bei Felix Lehmann (damals der Teilhaber und Vertreter des Hauses I.G. Cotta Nachflg. in Berlin), das am Tage nach der Erstaufführung stattfand, hatte ich Georg Brandes als Tischherrn bekommen. Er wollte sogleich etwas aufgeklärt haben: er hatte den Eindruck eines großen Erfolges gehabt (die mehr als 100 Wiederholungen des »Johannes« bestätigten es), aber einige Berliner Kritiker hätten ihn belehrt, daß es sich nur um einen kargen Erfolg gehandelt habe. Wie sei das zu verstehen? Ich sagte ihm, daß ein Pressefeldzug gegen Sudermann begonnen habe, die psychologischen Ursachen dieses seltsamen Vorganges könne ich ihm, als fern von allem Berliner Treiben lebend, nicht erklären.

Hierauf wandte sich das Gespräch der deutschen Ausgabe seiner »Hauptströmungen« zu. Er nannte Strodtmanns Arbeit nachlässig und entstellend und fühlte sich um den rechten Eindruck seines Werkes auf deutsche Leser betrogen. Und wenn ich eine der Hauptursachen seines Zornes recht verstand, war sie die Tatsache, daß er kein Honorar erhalten hatte. Er verteilte[61] seinen Groll auf den Herausgeber und den Verlag zu gleichen Teilen. Er war voller Schärfe über vieles, was er mit seinem gebieterischen Kritiker- und Herrscherblick in Berlin beobachtet hatte. Er besaß die zweischneidige Begabung, sich so intensiv ärgern zu können, wie ich es niemals sonst gesehen habe; er schäumte förmlich, wenn das Gespräch sich zu einem ihm mißliebigen Thema wandte. Seine wahrhaft grandiose Häßlichkeit wandelte sich im Feuer seiner Leidenschaft. Mit begieriger Aufmerksamkeit ließ ich mich von den hochgehenden Wogen seines Mißvergnügens tragen, fühlte deutlich, daß mir hier ein interessantes Erlebnis beschieden sei, und war sicher in der Voraussetzung, daß Georg Brandes am andern Tage schon seine Tischnachbarin vergessen haben würde. Aber nach etwa einem Jahr bekam ich einen Brief von ihm. In seiner kleinen, ganz feinen Handschrift, die sich niemals zum Akzent eines kräftigen Striches verstärkte, rief er mir die Stunden bei jenem Festmahl ins Gedächtnis zurück, hoffte sich unvergessen und erbat meinen förderlichen Schutz für eine junge Schauspielerin, die er gern an das Lübecker Theater bringen wolle. Da ich in Lübeck dem Theater früher sehr nahe stand und meine Teilnahme nie der Talentlosigkeit lieh, so konnte ich wohl gelegentlich bewirken, daß begabte Anfängerschaft angenommen und künstlerisch vorangebracht wurde. Ich versprach Brandes, mich ernstlich seinem Wunsche gemäß zu bemühen. Es gingen in dieser Angelegenheit einige Briefe hin und her. Aber die junge Künstlerin, für die er sich einsetzte, erschien nicht auf dem ihr zugedachten Schauplatz!

Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Erscheinen[62] und Verschwinden eines Kometen und Georg Brandes Aufstrahlen in meinem Leben konnte ich nach Jahr und Tag wieder feststellen. Vom 16. Oktober datiert, bekam ich 1906 einen Brief von ihm aus Hamburg: »Vor hundert Jahren« habe er mich bei Sudermann getroffen; ich habe ihm einmal einen Dienst geleistet; jene »kleine Dame« sei aber sehr undankbar gewesen, und er habe sie aus den Augen verloren (mit ein wenig Phantasie könnte man aus dem Vorfall einen kleinen Lustspielstoff formen: das junge und wunderhübsche Talent oder Talentchen, das sich dem großen Protektor entzieht). Nun sitze er in Hamburg, habe einen Tag der trostlosen Einsamkeit hinter sich und käme am Mittag um 12 Uhr nach Lübeck. Er lud mich ein, mit ihm im Hotel zu frühstücken. Ich schickte ihm ins Hotel eine Zeile entgegen, die ihn bat, besser von mir zu denken: es sei nicht hiesige Gepflogenheit, uns von zugereisten Gästen einladen zu lassen, sondern wir beanspruchten, Wirte sein zu dürfen; ich erwarte ihn demnach alsbald bei mir. So saßen wir denn in belebtester Zweisamkeit am Tische bei rasch improvisierter Speisenfolge. Er lehnte alle die Weine ab, die man bei uns zum Lunch anbietet, zeigte sich aber für französischen Champagner geneigt, falls solcher vorhanden. Beim Heidsieck geriet er dann in ein Feuerwerk von Einfällen, Randglossen, Anekdoten. Er sprach mit Verachtung von Tiefstand der Unterhaltung in den deutschen Salons, gab aber auch zu, daß die französische nicht das sei, was er von ihr erwartet habe. Allerwärts ende das Gespräch mit der Wendung auf das Klatschhafte: ob es wahr sei, daß Alphons mit Estelle ... und ob man bemerkt habe, daß Lucile versuche, sich Prospers zu bemächtigen[63] usw. Immer seien den Leuten die Beziehungen der Geschlechter zueinander wichtiger als das geistige Interesse. Er erzählte mit der größten Indiskretion, wie die deutschen Autoren ihn mit Zusendungen belästigten, ja geradezu höhnisch sprach er darüber, daß Thomas Mann ihm die Buddenbrooks zugeschickt habe, und es fiele ihm nicht ein, das dicke Buch zu lesen. (Ich denke, er wird sich später doch damit beschäftigt haben – haben müssen.) Alle wollten durch ihn berühmt werden! Immer mehr gab er sich förmlichen Schwelgereien im Deutschenhaß hin. Und ich erschrak wieder einmal vor dem Rätsel, daß große Künstler, die bei uns das klarste und sichertragendste Echo und den weithallendsten Ruhm fanden, uns mit Haß danken. Ausnahmen wie Ibsen und Björnson sind selten. Daß Brandes ein Hasser von Kraft und Intensität sei, wußte ich ja, und für die Fähigkeit zum Hassen habe ich viel Verständnis. Hier aber mußte ich ihn mit einigen vorsichtigen Worten daran erinnern, daß eine deutsche Frau seine Zuhörerin sei.

Merkwürdigerweise war ich nicht so schroff verletzt, wie ich es jedem andern gegenüber gewesen wäre. Kämpfer sind selten liebenswürdig, aber es war eine so wundersame Mischung von Streitbarkeit und Enthusiasmus in ihm, daß er hinreißend wirkte und man nur staunte, daß er sich nicht an seinem eigenen Feuer verbrannte. Ein Enthusiast des Verstandes, ein Realist, der vermutlich erschreckt gewesen wäre, wenn man ihm die seelische Disposition zum Vordringen in die Sphäre des transzendentalen Idealismus abgesprochen hätte. Wahrscheinlich lagen auch hier die Ursachen seiner Abneigung gegen Schelling.[64]

Als er nach sehr ausgedehntem Verweilen Abschied nahm, sagte ich fröhlich, wie ich es im überströmenden Reichtum seiner Unterhaltung geworden war, er könnte beruhigt voraussetzen, daß mir aus unserer Beziehung nicht die Anregung entstehen werde, ihm ein Buch von mir zu schicken, um durch ihn »berühmt« zu werden. Er lachte und scherzte: »Na, wer weiß, tun Sie's nur doch!« Gern hätte ich ihm dann später meinen »Königlichen Kaufmann« gesandt, aber ich dachte an seinen Spott über andere Autoren und unterließ es. Erst 1911 schickte ich ihm meine »Charlotte von Kalb«, nachdem sie, als erste Biographie, von der Psychologie aus gesehen, Anerkennung von unseren großen Literaturprofessoren gefunden hatte, was ihm vielleicht nicht entgangen war. Er aber schwieg.

Der Krieg kam. Und ich erlebte es, daß sich Brandes mir mit einer sehr schönen Geste würdig näherte. Er schrieb mir am 11. November 1914 aus Kopenhagen einen, natürlich durch die politische Kontrolle gegangenen Brief, aus dem ich diese Stellen gebe: »Er fühle mit Scham, daß er mir keinen Dank gesagt habe, der ihm auf den Lippen brenne.« – »Es gehe oftmals so, daß man viel an eine Persönlichkeit denke und doch nicht dazu komme, ihr ein Lebenszeichen zu geben.« – »Ich würde in der ernsten Kriegszeit anderes zu denken haben als an seine, in meinem reichen Leben doch so vorübergehende Erscheinung. Er habe noch einmal ›Charlotte von Kalb‹ gelesen. Und müsse doch sagen, daß das kleine Buch ausgezeichnet sei.« Für diese ganz unerwarteten Äußerungen hatte ich nur eine Deutung: er entsann sich des Kataraktes von Haß gegen Deutschland, der einst, als er mein Gast war, von seinen Lippen[65] stürzte, und wollte mir nun zeigen: ich finde keine Freude an eurer Not, ich bin neutral! Wie er ja auch sonst dem Kriegserlebnis gegenüber eine objektive Haltung einnahm.

Das funkelnde und schlagfertige Gefecht, das dieser große Kämpfer ein unerhört langes Leben voll Geisteskraft bis zuletzt geführt hat, ließ ihm doch Besonnenheit. Er war wirklich ein Schöpferischer, weil er Wege zum Weiterkommen wies. Und an ein bedeutendes Wort von ihm wollen wir uns gerade in diesem Augenblick erinnern. »Reaktion als solche ist durchaus nicht gleichbedeutend mit Rückschritt. Weit entfernt davon! Im Gegenteil, eine wahre, ergänzende Reaktion ist Fortschritt. Aber eine solche Reaktion ist kräftig und von kurzer Dauer und stagniert nicht ...«[66]

Quelle:
Ida Boy-Ed. Eine Auswahl von Peter de Mendelssohn, Lübeck 1975, S. 60-67.
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