Zehntes Kapitel

[222] Was sind die kühnsten und seligsten Entschlüsse der Nacht gegen die nüchternen Wirklichkeiten des Tages!

Als Fanny am nächsten Morgen Joachim sah, zitterten ihr die Kniee, die Stimme schien ihr versiegt, Flammenglut deckte ihr Antlitz. Aber er war unbefangen heiter wie immer.

Und unter der Dienerschaft des Hauses war großes Erstaunen: Frau Förster gab verkehrte Befehle! Frau Förster vergaß oft, was sie vor einer Viertelstunde angeordnet! Wenn man sie anredete, fuhr sie erschreckt auf! Und sie ritt allein bei regnerischem Windwetter aus! Und die Pastorsleute waren neulich abgewiesen worden – zum ersten, unerhört Aufsehen erregenden mal – weil Frau Förster Kopfweh habe! Was bedeutete das?

»Was bedeutet das?« fragte sich auch Severina, als Fanny beim Vorlesen nicht mehr malen konnte, überhaupt nicht mehr stillsitzen zu können schien. Was[222] bedeutete das, daß Fanny sie nicht immer aufforderte: »Komm morgen wieder!« War das Gedankenlosigkeit? Und warum dann diese Gedankenlosigkeit? Was beschäftigte sie so ganz? Oder wollte sie Severina nicht mehr so oft mit Joachim zusammenkommen lassen? Hatte sie das heimliche Verlöbnis entdeckt und billigte es nicht? Aber dann entsprach es Fannys Art, dies offen zu sagen und Severina sowie Joachim eine Vernunftrede zu halten. Was bedeutete das also?

Mit dem Instinkt des liebenden Weibes, das im tiefsten Herzen weiß, der Geliebte sei kein Fels, sondern ein unergründliches Meer mit veränderlichem Wogenschlag, mit dem Instinkt, der sich an der Sorge schärft, fühlte Severina plötzlich, daß es bedeuten könne, Fanny liebe Joachim.

Sie hatte nicht die Klugheit Lanzenaus, der sich gesagt, »daran rühren, heißt Flammen schüren«; sie hatte die eifersüchtige Todesangst ihrer Jugend und ihres Temperaments.

»Joachim,« sagte sie eines Tages, als sie sich in Adriennens Wohnzimmer befanden, während die junge Frau nebenan das schreiende Kind besänftigte, »Joachim, merkst Du nicht, daß Fanny ganz verändert ist?«

»Wieso verändert?«

»Nun, sie wird immer dunkelrot, wenn Du eintrittst.«

In diesem Augenblick kam Adrienne herein, holte aus einem Schrank ein frisches Kleidchen und sprach[223] dabei von den Schmerzen, die der arme Schelm von den Zähnen habe.

Währenddessen standen die beiden mit pochendem Herzen am Fenster.

Severina fühlte ihres bis zum Halse hinauf schlagen. Was wird Joachim antworten? Hat er es auch schon bemerkt? Hat es Eindruck gemacht?

Die Eifersucht, die immer ihre Schläge zurückführt gegen diejenigen, welche sie auszuteilen meinen, hatte Severina zu einer fürchterlichen Unvorsichtigkeit fortgerissen, von deren Tragweite freilich in diesem Augenblick nichts zu spüren war.

Kaum hatte Adrienne das Zimmer wieder verlassen, so wiederholte Severina ihre Frage:

»Nun – hast Du nichts bemerkt?«

Joachim schwieg noch einen Herzschlag lang.

»Ach – Unsinn!« sagte er dann mit einem fast ärgerlichen Gesicht.

Wenn man einen Funken vor sich niederfallen sieht, erschrickt man immer.

Von dieser Stunde an bemerkte auch Joachim, daß Fanny sich ganz verändert habe. Die natürlichste Rückwirkung dieser Veränderung war, daß Joachim etwas Unfreies bekam. Wie sollte ihn die Frage nicht beschäftigen, weshalb Fanny zuweilen bei seinem Eintritt erglühte, und wie sollte das Grübeln darüber ihn nicht verhindern, mit Severina den alten Ton einer Zärtlichkeit anzuschlagen, die[224] alle Gedanken ausschließlich auf die Eine, Geliebte gerichtet gehalten.

Mit steigender Unruhe bemerkte Severina eine ganz neue Zerstreutheit an ihm, sah auch, daß er beflissener um Fanny war als vordem. Anstatt die Neugier in seiner jungen und ungefesteten Seele unberührt zu lassen, – denn eine natürliche, von Eitelkeit und von Verehrung für Fanny gesteigerte Neugier war es, die Joachim zunächst erfaßt hatte – anstatt also die unberührt zu lassen, beging sie die Thorheit, Joachim durch Vorwürfe und Fragen zu beunruhigen, ja, ihn geradezu zu verstimmen. Es gab kleine Scenen zwischen den heimlich Verlobten, die Joachim anfangs dadurch zu beendigen suchte, daß er heftig erklärte, wenn Fanny ihm denn ein wärmeres Interesse schenke, habe er nur dankbar dafür zu sein und es durch erhöhte Verehrung zu vergelten. Später aber ging er von der Heftigkeit, mit der er das Recht der Neigung und ehrfurchtsvollen Gegenneigung zu beweisen suchte, zu der schroffen Behauptung über, alles bestände nur in Severinas Einbildung, Fanny sei gar nicht verändert. Und eben in dem Maße, wie diese Veränderung offenbarer wurde, bestritt er sie mehr und mehr. Und Joachim, ohne sich dessen bewußt zu sein, halb aus Trotz gegen Severina, halb aus noch unerkanntem Verlangen, Fannys aufleuchtendes Auge zu sehen, fing an, alle seine Zeit Fanny zu widmen, und das war im November so ziemlich der ganze Tag.[225]

Fannys Wesen war in dieser Zeit von dem Sonnenschein eines unaussprechlichen Glückes durchglüht. Die Gewißheit, daß sie geliebt werde, ward ihr nie erschüttert. Sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um Severinas bleiche Wangen und unruhige Augen zu bemerken.

So kam der Tag heran, an dem Fanny und Joachim nach der Taißburg fahren sollten. Ein Tag, an den Severina mit allen Qualen eines eifersüchtigen Herzens dachte, denn dann würden Joachim und Fanny allein viele Stunden im Wagen zusammensitzen, und Adrienne wollte durchaus nicht mit.

»Mir ist nicht nach Festen ums Herz. Wenn ich erst einen Brief von Arnold habe, finde ich vielleicht die innere Freiheit, heiter zu sein. Laßt mich still bei meinem Kinde,« bat sie, und dagegen etwas zu sagen, wäre Fanny die letzte gewesen.

Severina mußte für die wenigen Nächte im Herrenhause schlafen; der Pastor und seine Frau sollten am Tage bei den einsamen Frauen sein. So glaubte Fanny alles auf das beste bestellt zu haben.

Zwei Tage vor ihrer Abfahrt hüllte sich die Welt in einen frühen Winterschnee, der so andauernd und so dicht auf die leicht gefrorene Erde fiel, daß es offenbar ward, aus der Wagenreise würde eine lustige Schlittenfahrt werden. Das machte Fanny Spaß.

»Es gibt eine lustige Fuhre,« sagte sie, »voran Achim und ich im Schlitten mit den Juckern, hinterher[226] der Kartoffelschlitten mit den Braunen als Gepäckdroschke.«

Joachim staunte über den Riesenkoffer, den Fanny in den Flur schaffen ließ.

»Soll alles, was da drin ist, in drei Tagen angezogen werden?« fragte er.

»Natürlich,« sagte Fanny, »ich gehe darauf aus, mit einigen Gersonschen Kleiderwundern Erfolg zu haben.«

Sie, die Einfache, nie Geputzte, hatte sich in die Mühe des Nachdenkens gestürzt, was ihr am schönsten stände. Severinas Hände zitterten, als sie Fanny beim Einpacken half, und ihr Herz klopfte, als sie jetzt Joachim darüber scherzen hörte. O, es war nur seinetwegen, nur um ihm zu gefallen.

Und sie war wieder so verblendet, ihm das zu sagen, ihm daraus einen Vorwurf zu machen – einen blinden, ungerechten Vorwurf. Die letzte, hastige Minute, die ihnen ein Zufall zum unbeachteten Abschied gönnte, ward ihr und ihm dadurch verbittert. Er fühlte Severinas Liebe gleich einer Tyrannei auf sich lasten, und sie litt unter seiner Unfreundlichkeit in einem unbeschreiblichen Grade.

Die ganze Hausbewohnerschaft, die Pastorsleute, Adrienne und Severina standen im Flur und auf dem Beischlag, als die »lustige Fuhre« abging.

Die Jucker, die Joachim selbst lenkte, trugen stolze schwarzweiße Roßhaarbüschel auf den nickenden Köpfen[227] und eine schwarzweiß gestreifte Decke, die sich an den Schlitten schloß, in der Fahrt sich wie ein Segel blähte und die Schlitteninsassen vor umherspritzender Erde oder aufgestiebtem Schnee beschützte.

Joachim hatte eine Pelzmütze auf dem Blondhaar und einen mächtigen Pelz an. Seine Hände staken in pelzgefütterten Fahrhandschuhen. Fannys Gesicht guckte gleichfalls aus dem hochgeschlagenen Kragen ihres Wagenpelzes; auf ihrem Kopf saß ein Sealskinbaret. Sie sahen, als sie nun auch das Pantherfell über ihre Kniee gedeckt hatten, gerade aus, als wollten sie direkt nach Sibirien fahren.

Trotzdem gab die Pastorin noch tausend Ratschläge und trotzdem lief Adrienne noch nach einem Cognacfläschchen. Severina hörte den lachenden Abschied mit stummer Verzweiflung an. Wie diese unnützen Reden vom glücklichen Hinkommen, vielmals Grüßen, nicht Erkälten, keinen Wind schlucken, wie sie ihre Ungeduld erregten! Wie gleichgiltig, wie alltäglich, wie fade war das alles! Unerträglich! Die eine Warnung, die einzige, rief ihnen niemand zu!

Und alles andere war so verächtlich daneben. Da fuhren sie hin. Sie winkten lachend zurück. Die Glöckchen an den Roßhaarbüschen klingelten silbern. Die Decke blähte sich. Da fuhren sie und hinterher glitt das häßliche Lastgespann. Es war, als ob zwei auf Nimmerwiederkehr auszögen und gleich ihren Hausrat mitnähmen. Fort – da – und da – noch ein[228] letztes Winken. Und Severinas Glück fuhr auf gleitendem Schlitten, auf glatter Bahn in die Welt hinein. Kam es ihr wieder? Sie ging mit stummen Lippen und in schweigender Qual, in der Einsamkeit den Mut zur Hoffnung zu suchen.

Wer kennt nicht die Schönheit der Welt, wenn sie in üppiger Sommerschwüle farbenprächtig ihre Reize enthüllt? Wer kennt nicht die zarten Zauber der Natur, wenn sie in der Frühlingsjugend ihre ersten grünen Schleier über die Fluren hinbreitet? Ueberall ist die Schönheit zu Hause: sie thront unter den Palmen Siziliens und schaut aus glühenden Augen über das blaue südliche Meer; sie sitzt auf den grauen Felsenschroffen der Alpen und sieht mit ehernem Antlitz zum nahen Gewölk empor; sie wandelt mit stillen, freundlichen Blicken unter den Buchenwäldern des Nordens, am schilfbesäumten Ufer langsam fließender Flüsse entlang. Aber nie ist sie so unbegreiflich, so geisterhaft schweigsam, als wenn sie über den unermeßlichen Schneegefilden der norddeutschen Ebene schwebt. Da ist ihr Wesen Majestät, aber es ist nicht die stolze Majestät des Lebens, es ist die erhabene der Ruhe.

Weit und breit kein Farbenton als der silberweiße. Selbst dort am Horizont der Waldsaum, der sonst bläulich schimmert, ist von frischen Schneelasten weiß beschüttet. Die Knicke, welche die Landstraße einfassen, gleichen niedrigen weißen Mauern.

Lautlos schlagen die raschen Pferdehufe auf die[229] schneegepolsterte Straße, lautlos gleiten die Schlitten in der Spur. Das lustige Klingkling der Glöckchen ist der einzige Ton, der laut wird. Der andere Schlitten, auf dem die Jungfer bei den Koffern sitzt und mit dem Kutscher schwatzt, ist längst zurückgeblieben.

Jetzt nähern sie sich einem Dorf. Der Rauch wölkt sich weißlich gegen den blauen Himmel; die Schornsteine, denen er entsteigt, haben da, wo sie im Dache wurzeln, einen kleinen dunklen Kreis um sich, den die Wärme in den Schnee getaut. Der Schnee liegt locker, dick und weiß auf den schräg abfallenden Dächern; die der Straße zugewandten Häuserseiten gucken mit ihren Fenstern aus dem Schneerahmen wie alte Frauengesichter aus weißen Tüllmützen. Aus den Pappeln fliegen Raben auf. Ein Bauernwagen mit dampfenden Pferden zieht langsam vorbei. Das eintönige Geräusch des Dreschflegels klingt aus einer Scheune und aus dem Schulhause der plärrende Gesang der Kinder. Der Schulmeister, der zum Fenster hinaussieht, grüßt – er hat die »Mittelbacher« erkannt.

Vorüber! Und wieder das weite, stumme, geisterhafte Land.

Und Fanny und Joachim haben noch kein Wort zu sammen gesprochen, kein einziges. Ihr ist es lange nicht aufgefallen, und er hat geschwiegen in Verlegenheit, was er sagen soll, wie er am besten den unbefangen lustigen Ton trifft, der sonst zwischen ihnen üblich ist. Dann ist ihr das Schweigen wie eine[230] süße Beängstigung auf die Seele gefallen, und zuweilen hat sie mit schnellem Auge das liebe Angesicht gestreift. Er hat den Blick gefühlt – jedesmal. Und das Schweigen ist auch ihm immer beklemmender geworden. Er weiß, er fühlt es, daß das Weib an seiner Seite ihn liebt. Dies Bewußtsein klopft in seinen Pulsen, schnürt ihm die Kehle zu – er weiß, wenn er jetzt spricht, das Alltäglichste, das Einfachste, wird der Ton, sein Ton, über den er keine Herrschaft mehr hat, auch ihr seine Erregung verraten. Und von Minute zu Minute wird es schwerer, das Schweigen zu brechen.

In der hellen Einöde ringsum sind sie so allein. Das Schweigen wird zur Qual. Er weiß, daß er mit einem Blick, mit einem Wort ein Geständnis hervorrufen kann, und er hat nicht mehr die Kraft, dies zu wollen oder nicht zu wollen. Alles ist aus seinen Gedanken wie gelöscht, außer der Spannung, die ihn ganz beherrscht: was wird geschehen, was wird das erste Wort sein, das Fanny spricht?

Wer will ihn verdammen? Die Spannung wird unerträglich. Irgend etwas soll und muß geschehen. Wenn er so noch drei Stunden neben der schönen Frau sitzen soll, so nahe, daß ihr Gewand seine Füße deckt, daß ihr Ellenbogen zuweilen den seinen streift, daß ihr Parfüm ihn umduftet, und immer dazu dies gewitterschwüle Schweigen, dann, so ist ihm, dann könnte er wahnsinnig werden.[231]

Er will ein Ende machen und lustig schwatzen, damit sie sieht, daß er kein solcher Narr ist, zu denken, eine Fanny könne ihm, dem Unbedeutenden, ihr Herz geben. Sie soll meinen, daß ihm so etwas im Traum nicht einfällt. Auch durchzuckt es ihn flüchtig, daß er Severina das schuldig sei.

Er wendet sich zu ihr. Sekundenlang bleibt ihm noch jeder Laut in der Kehle stecken. Dann kommt eine leere Frage heraus, aber in zitterndem Ton.

»Sind Sie auch kalt, Fanny?«

Sie erhebt die Augen zu ihm und sieht ihn an. Seine Worte hat sie gar nicht verstanden, aber der langsame, zärtlich eindringliche Tonfall seiner Stimme macht, daß ihr der Atem stockt. Sie lächelt mit feuchten Augen.

Er schlingt die Zügel um den linken Arm, fährt aus seinen riesigen Handschuhen, sucht unter dem Pantherfell ihre Hand, streift auch dieser den Handschuh ab und sagt, ihre kalten Finger zwischen seine warmen nehmend, mit derselben bedeckten, unbeherrschten Stimme:

»Sie haben so kalte Hände, Fanny.«

Ihre Finger zittern in den seinen. Ihr Auge sucht hilflos seinen Blick.

»Fanny ...«

Er stockt. Es wird dunkel vor seinen Augen; ihm ist, als ob alles Blut ihm in die Pupillen träte.

»Fanny, was ist Ihnen?« murmelt er.[232]

Sie schüttelt den Kopf lächelnd, mit nassen Blicken und faßt seine Hände fester.

»Haben Sie mich lieb, Fanny?«

Sie antwortet nichts. Aber sie neigt ihren Kopf gegen seine Schulter und legt ihre Arme um seinen Hals.

Dabei hat es an den Zügeln einen heftigen Ruck gegeben und die Pferde stehen.

»Fanny!« ruft er, die Welt vergessend.

Er küßt ihren Mund.

Und da springt die Flamme aus ihrem Herzen hervor und sie sagt es ihm mit tausend beredten Worten, wie sie ihn liebt, wie sie bereit ist, ihm alles zu geben, ihre Gegenwart und ihre Zukunft.

Das Gebäude eines unfaßlichen Glücks steigt vor Joachim auf. Sein rasches Blut wallt in heißen Wünschen Fanny entgegen. Dankbarkeit, überwältigte Eitelkeit vielleicht und seine überschäumende Jugendkraft rauben ihm alle Besinnung. Kein flüchtigster Gedanke führt ihn jetzt zu Severina zurück. Er glaubt, daß alles, was er je empfand, ein Irrtum war und daß der Inhalt dieser Stunde die Wahrheit ist. –

Unterdes kam der andere Schlitten der Herrschaft nach; das Läuten der Glöckchen, deren auch die beiden Braunen trugen, schreckte die Glücklichen auf.

Joachim ergriff die Zügel, Fanny schmiegte sich an ihn und weiter ging die sausende Fahrt. Aber nicht mehr so schweigsam wie zuvor.[233]

Welche Thorheiten sind thöricht genug, um von den Lippen verschmäht zu werden, die sich eben im Küssen geübt; welche Worte sind zu groß, um nicht von Herzen gewählt zu werden, die sich eben dem Glück erschlossen?! Fanny und Joachim plauderten und lachten in dem Vollrausch ihrer neuen Zusammengehörigkeit.

Als sie endlich die Taißburg erblickten, sagte Fanny:

»Eins, Geliebter, verzeihe mir: daß ich Dich nicht schon heute der ganzen Gesellschaft als meinen künftigen Gatten vorstelle. Freilich, es wird mir unmöglich sein, mein Glück zu verbergen; mögen sie denken, was sie wollen. Aber die Rücksicht auf Lanzenau verbietet mir, eine Verlobung zu verkündigen, die einen herben Schmerz für ihn bedeutet.«

In Joachims Gesicht ergoß sich jäh dunkle Röte. Lanzenau, der von seiner Beziehung zu Severina wußte – Severina – o Gott, wenn Fanny das erfuhr! Und wenn Severina erfuhr – eine große Angst beklemmte sein Herz.

»Was ist Dir?« fragte Fanny angstvoll. Und einen ganz verkehrten Schluß auf den Grund seiner sichtlichen Bestürzung machend, fuhr sie im Ton einer heiligen Versicherung fort:

»Sei gewiß, daß Lanzenau niemals von mir die mindeste Hoffnung empfing, mich je die Seine zu nennen. Wenn dies auch nur im entferntesten der Fall wäre, kannst Du sicher sein, mein Achim, daß[234] ich lieber auf alles Glück verzichtet hätte, ehe ich ihn durch einen Wortbruch gekränkt haben würde.«

Diese Worte vermehrten Joachims Verwirrung. Gewaltsam faßte er sich und sagte:

»Ich war von anderen Gedanken bestürzt. Später will ich sie Dir vielleicht gestehen. Aber wird Dir niemand Deine Wahl verargen? Fanny Förster und der junge, unbedeutende, arme Schlucker, der Dir nichts bringt als seinen schönen alten Namen! Und auch auf diesen legst Du kaum Wert, denn ich weiß, Du schätzest den Adel gering; man bot ihn Dir schon an und Du schlugst ihn ab.«

»Ah,« dachte Fanny, wieder in neuen Irrtum fallend, »das war's, seine Armut fiel ihm ein und daß vielleicht gar Krämerseelen denken könnten ...«

Deshalb ging sie liebevoll auf seine Schlußbemerkung ein, die er nur gemacht, um irgend eine Ablenkung zu finden.

»Du irrst, mein Herz,« sagte sie; »ich schätze einen schönen alten Namen sehr. Allein den modernen Adel finde ich abgeschmackt. Wenn sich heute jemand auszeichnet durch wissenschaftliche oder künstlerische Thaten oder durch Leistungen auf staatlichem, wirtschaftlichem oder humanem Gebiet, dann adelt ihn diese Leistung mehr und hebt ihn stolzer aus der Masse des Volkes hervor, wie jedes ›von‹ oder jede Baronisirung könnte. Die Aristokratie der Thaten ist in der Geschichte der Kulturvölker immer die allererste. Aber ich verachte[235] deshalb den alten Geburtsadel nicht; im Gegenteil finde ich es sehr schön, wenn einem von Geburt her schon das Bewußtsein überkommt: ›Mein Geschlecht war seit Jahrhunderten gut erzogen, gut ernährt.‹«

»Die reine Darwinistin!« warf Joachim scherzend dazwischen.

»Aber dasselbe Bewußtsein kann sich in vornehmen Bürgerfamilien entwickeln, zumal wenn einzelne Glieder derselben sich in der vorhin erwähnten Weise auszeichneten. In der Försterschen Familie war es seit Generationen heimisch; ich bin eine von Grävenitz, weißt Du, allein ich habe immer das Gefühl gehabt, daß Fanny Förster ein Name sei, der ebenso – ja, ehrlich gesagt – imponirender klänge als Fanny von Grävenitz.«

»Du hast ihm den höchsten Glanz gegeben,« sagte Joachim, ihre Hand drückend.

»Siehst Du, Dein Arnold denkt wie ich. Er begnügt sich nicht mit dem ererbten Namen Herebrecht, er will diesem neuen Glanz hinzufügen,« sprach Fanny weiter.

»Nur ich als Krautjunker von Profession,« scherzte Joachim, »muß so ruhig im Dunkeln weiter wurzeln.«

»O,« rief Fanny erglühend, »Du sollst sehen, was wir noch alles zusammen Segensreiches wirken werden. Graf Taiß ist in unserem ganzen Bezirk der angesehenste, mächtigste und thätigste, auch erfolgreichste Landwirt und Patron; er pflegte bisher zu scherzen, daß ich allein seine Rivalin sei. Du und ich zusammen[236] müssen dasselbe, müssen mehr leisten als er. Sie sollen alle einmal begreifen, daß ich meinen zweiten Lebensgefährten klug wählte. Ja, auch das thörichte Herz kann klug wählen.« Und dabei sah sie ihn stolz und voll Liebe an.

»Mag kommen, was will,« dachte Joachim mit dem blinden Mute jemandes, der sich in ein brennendes Haus gestürzt hat, »so vieler Liebe gegenüber bleibe ein Felsen hart!«

Das letzte Gespräch hatte ihnen beiden wenigstens die äußere Ruhe zurückgegeben, als sie in den Hof der Taißburg einfuhren, sahen sie scheinbar mit ihren gewöhnlichen heiteren Gesichtern in die Welt.[237]

Quelle:
Ida Boy-Ed: Fanny Förster, Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien 1889, S. 222-238.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Fanny Förster
Fanny Förster

Buchempfehlung

Klopstock, Friedrich Gottlieb

Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne

Hermanns Schlacht. Ein Bardiet für die Schaubühne

Von einem Felsgipfel im Teutoburger Wald im Jahre 9 n.Chr. beobachten Barden die entscheidende Schlacht, in der Arminius der Cheruskerfürst das römische Heer vernichtet. Klopstock schrieb dieses - für ihn bezeichnende - vaterländische Weihespiel in den Jahren 1766 und 1767 in Kopenhagen, wo ihm der dänische König eine Pension gewährt hatte.

76 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon