Sechzehntes Kapitel

[334] Joachim lag auf dem für Lanzenau im Wohnzimmer hergerichtet gewesenen Lager. Er fühlte sich, abgesehen von einer natürlichen Mattigkeit infolge des Blutverlustes, ganz wohl. Irgend jemand leistete ihm immer Gesellschaft. Lanzenau erschien am frühen Morgen und setzte sich zu ihm. Der ältere Mann hatte dem jüngeren dasselbe unumwundene Geständnis abgelegt wie Fanny. Joachim versteckte dabei sein Gesicht in den Kissen und murmelte nachher, des Barons Hände drückend:

»Ich allein – ich bin an allem schuld.«

Während dann Lanzenau an dem Bette saß und es überdachte, was seit Monaten um ihn geschehen, in ihm vorgegangen, vollzog sich die Wandlung vollends, die gestern in seinem Herzen begonnen, als er in Fannys schrecklich verwandeltes Gesicht gesehen. All seine eifersüchtige Liebe verklärte sich zu dem selbstlosen, einzigen Wunsch, Fanny glücklich zu sehen. Wenn er sein Alter dann auch[334] nur an ihrer Freundschaft wärmen durfte, das war ihm genug.

»Lieber Herebrecht,« sagte er einmal, »könnte sich nicht alles so lösen, daß aus Ihnen und Fanny ein Paar würde? Severina mit ihren zweiundzwanzig Jahren wird überwinden. Aber sie – aber sie?! O, ich kenne sie, die späte Leidenschaft wird sie töten.«

»Sie haben mir beide ihr Herz entzogen,« sprach Joachim schwach, »ich fühle es. Severina ging gestern stumm und drohend um mein Lager – und sie ist noch gar nicht hier gewesen.«

Er wagte nicht einmal Fannys Namen zu nennen.

»Sie wird nachher kommen. Sie hat es Severina gestern abend gesagt.«

Adrienne und Graf Taiß kamen, um nach dem Patienten zu sehen. Die junge Frau hatte nun auch alles erfahren, und ihr Blick war ernst, fast kühl. Joachim fühlte es mit Scham. Taiß, dessen lebhafte Natur sich nicht in die allgemeine gedrückte Stimmung finden konnte, scherzte mit dem Verwundeten. Severina kam mit ihrem Pflegevater dazu; die lebhafte Teilnahme, die der Pastor zeigte, gab Severina die Gelegenheit, sich in die fernste Zimmerecke zurückzuziehen, ohne Joachim zu begrüßen.

Aber ihre Augen hingen unausgesetzt an ihm, der bei ihrem Eintritt stark errötete.

In das menschengefüllte Zimmer trat nun Fanny. Wie mit einem Schlag erstarb jedes Gespräch. War[335] es möglich – konnte eine Nacht voll Gram eine Frau, die in der Vollblüte ihrer Schönheit geprangt, so altern? Die Züge scharf, die Farben gelbgrau, die Augen hohl machen?

Joachim schloß die Augen.

»Ich bitte,« sagte Fanny laut und ganz sicher, »daß der Leidende nicht von so vielen Personen auf einmal besucht wird. Lieber Herr Pastor, warten Sie vorn, es ist möglich, daß Herr von Herebrecht Ihnen nachher etwas zu sagen hat. Lanzenau, Sie bleiben wohl.«

Das hieß doch ohne Zweifel, daß alle bis auf den Baron das Zimmer verlassen sollten. Taiß hatte Erbarmen mit Severina und führte sie.

Joachim lag da mit wachsbleichem Gesicht; er wagte nicht die Augen zu öffnen, denn er fühlte, daß sie neben seinem Lager stand und ihn betrachtete. Ja, mit den brennenden Augen, die noch keine Thräne geweint, stand sie und sah ihn an.

»Joachim!«

Er erschrak vor dem Anruf und schlug den Blick zu ihr auf.

»Fanny,« stammelte er, »Fanny, vergib mir! Ich war Deiner Liebe nicht wert, das habe ich Dir immer gesagt. Ich bin schlecht und undankbar. Aber ich weiß nicht – ich konnte nicht anders – ich liebte Dich auch –«

»Und Severina auch,« schloß sie mit bitterem[336] Lächeln. »Sage, wie es kam, daß Du ihr von Liebe sprachst.«

»Ich – ich sah,« stotterte er, »ich sah, daß sie mich liebte ...«

»Und da war ich nicht im stande, ihr Gegenliebe zu versagen! Und Du sahst, daß ich Dich liebte ... und so hast Du es schon früher bei einem Dutzend gesehen und wirst es noch bei einem Dutzend sehen und immer wieder lieben. So ist Dein Herz kein Herz, es ist nur ein Echo!« rief sie, endlich der stummen Qual Befreiung in harten Worten gebend.

»Fanny!« mahnte Lanzenau.

»Gut,« sagte sie, schon wieder zusammensinkend, »ich habe nichts zu fragen als dies: die Stunde der Entscheidung ist gekommen; welche von uns beiden wird Dein Weib sein?«

»Fanny!« rief Lanzenau entsetzt.

Joachim sah Fanny an. Ihre Blicke brannten ineinander. Man hörte keinen Atemzug. Lanzenau, der dicht neben Fanny stand, beobachtete diese ineinander wurzelnden Blicke. Er las etwas darin – etwas, vor dem er zitterte. Es war, als ob in diesem bangen Schweigen der uralte Kampf Mann gegen Weib ausgefochten würde. Es war, als flammte die Verachtung des Weibes aus ihren Blicken, das alles hingegeben und für ihren höchsten Besitz nichts eingetauscht als die Kenntnis, wie Strohfeuer brennt[337] und erlischt. Es war, als trotzte aus seinen Augen das Mannesrecht.

»Vielleicht,« sprach sie endlich mit grausamer Härte, »ist für Dein schwankendes Herz die Entscheidung heute noch ein zu bitterer Kelch, den Du lieber nicht tränkest. Aber ich will ihn Dir doch reichen.«

Sie richtete sich höher auf und legte ihren Arm in den Lanzenaus, als solle der sie in der nächsten Minute fortführen.

»Lieber Freund,« sagte sie, »Sie haben die Güte, nachher an die Vormundschaft der jungen Grafen Itzelburg zu schreiben, daß Herr von Herebrecht die ihm angebotene Administratorstelle annimmt und daselbst eintreffen wird, sobald nur irgend der Zustand einer kleinen Verwundung, die er bei der Jagd erhalten, ihm zu reisen gestatte. Auch bitte ich Sie, unsern Herrn Pastor darauf vorzubereiten, daß Herr von Herebrecht noch heute um die Hand seiner Pflegetochter anhalten wird. Der Pastorin mag man sagen, daß ich mein früher gegebenes Versprechen, Severina auszusteuern, selbstverständlich so glänzend erfüllen werde, als es mir nur irgend möglich ist; habe ich doch das Vergnügen, sie in den Kreis meiner Verwandten treten zu sehen.«

Sie sprach, als sei Joachim nicht zugegen; sie ging, als höre sie nicht seinen jähen Verzweiflungsruf:

»Fanny – Fanny!«

Er blieb allein in der maßlosesten Erregung,[338] unfähig, aus Bett gefesselt. Und ihm war es in diesem schrecklichen Augenblick, als habe er nur Fanny allein geliebt, als könne er ohne sie nicht leben. Sie aber war gegangen, Verachtung im Herzen, und nie – das fühlte er, nie würde sie ihn wieder vor ihr Angesicht lassen. Er wollte sich erheben – ihr nach – ihr nach. Allein die von der Aufregung gesteigerte Schwäche warf ihn ohnmächtig zurück.

Lanzenau führte die teure Freundin seines Lebens schweigend in ihr Zimmer zurück. O, wie sie ihm dies Schweigen dankte! Von Schritt zu Schritt fühlte er ihre Hand sich schwerer auf ihn stützen. Oben endlich fiel sie bleich und kraftlos in ihre Sofaecke.

Er stand vor ihr und sah sie mit tiefstem Mitleid an.

»Mußte es sein?« fragte er. »Wird Severina ihn so glücklich machen, als Sie es gethan hätten?«

»Nein,« sagte sie, »nein; das ist die Rache, die mich sättigt. Ganz glücklich wird er niemals sein. Immer und überall wird der Gedanke an mich zwischen ihm und seinem Weibe stehen.«

»Ist das unsere edelsinnige Fanny?« rief er.

»Ich bin ein Weib, nur ein Weib,« sprach sie vor sich hin; »wäre ich es noch, wenn ich mich in dieser Stunde mit großrednerischem Pathos über mein Leid erheben könnte? Ist es eine grenzenlose Schwäche oder eine schreckliche Kraft – die Kraft, mit jeder Faser echt zu empfinden – genug, ich fühle, daß dieser Schlag die Wurzel meines Lebens getroffen hat.«[339]

Sie sagte das alles so eintönig, als spräche sie nur, um ihn nicht durch Schweigen so sehr zu ängstigen.

»Nein, Fanny,« sagte er, einen Entschluß fassend, »das darf nicht sein. Sie beurteilen das ganze Geschehnis hart, so hart, wie Frauen immer über Männer urteilen, weil sie nicht verstehen, die ausgleichende Versöhnung zwischen den natürlichen Rechten beider Geschlechter zu finden. Charakter, Ehre, Herz, alles hat Joachim in Ihren Augen verloren, weil sein noch junges Blut, seine noch nicht ausgetobten Jahre nicht die Kraft hatten, die Liebe zu verschmähen, die ihm von zwei Seiten zugleich entgegengebracht wurde.«

»Sie nehmen ihn in Schutz – Sie, sein voriger Feind? Bloß vielleicht, weil Sie meinen, es gilt hier, Ihr ganzes Geschlecht zu verteidigen für das, was ja alle Tage vorkommt?« bemerkte Fanny herbe.

»Ja, alle Tage! Sollte das nicht ein wenig für die Entschuldbarkeit sprechen? Lassen Sie sich sagen, daß es tausend und abertausend Männer gibt wie Joachim, liebenswürdig, berufstüchtig, und die sehr erstaunt wären, wenn man ihnen sagte: ›Sie haben ehrlos gehandelt, weil Sie nicht aufrichtig waren.‹ Diese hegen den selbstverständlichen Begriff von der Liebe, daß sie sich ihrer überall freuen dürfen, so lange sie ihre Jahre des ›Austobens‹ haben. Sie werden niemals eine Lüge aussprechen, niemals mit einem Herzen spielen, das heißt also, niemals Gefühle heucheln. Aber ihre Liebesversicherungen sind nur die[340] momentanen Wahrheiten der auflodernden Sinne. Der natürliche Egoismus verhindert es, daß sie sich einen rechten Begriff davon machen können, wie die bei ihnen erloschene Flamme noch schmerzlich im Herzen des Weibes fortbrennen könne. Die Treue ist ihnen ein Zukunftsbegriff, in dem sie aber einmal leben werden, denn er bedeutet ihnen das Gesetz, ›wenn Du erst einmal verheiratet bist, hört dies Getändel auf.‹ Sie werden die besten, liebevollsten Ehemänner und tragen ihre Frauen auf Händen, schon des bloßen Umstandes wegen, weil sie ihnen nur durch die Heirat erreichbar waren. Deshalb dürfen Sie Joachim verzeihen, daß er Severina vor Ihnen liebte, daß ihr Bild noch nicht ganz aus seinem Herzen entwich, als das Ihre hineintrat. Denn Sie sind die Unerreichbare, Sie wird er treu anbeten, wenn Sie vermählt sind. Darum, teure Fanny, rauben Sie sich nicht trotzig das Glück, auf das Sie so lange warteten.«

Fanny erhob sich langsam. Sie legte ihre Hände auf seine Schultern und sah ihn gramvoll an.

»Treuer, großmütiger Mann,« sagte sie, »nun versteh' ich Deine Beredsamkeit; Du sprichst für ihn, nur damit ich glücklich werde.« Sie schloß die Augen. Einen Herzschlag lang setzten ihre Pulse aus, dann sprach sie, es ging nur wie ein Hauch an des Freundes Ohr vorüber: »Es ist hoffnungslos. Es ist Severina, die ihm noch alles zu geben hat – nicht – ich – ich nicht.«[341]

Unwillkürlich, als müsse er sie retten und schützen, faßte er sie in seine Arme. Sie barg ihr Gesicht an seiner Schulter, und Thränen, die ersten Thränen stürzten aus ihren Augen.

»Fanny,« sagte er mit zitternder Stimme, »teure Fanny, bedenke Dein ganzes Leben, all Dein nützliches Wirken und wie Deine Augen über so viele sonnenlose Existenzen Licht verbreiten. Laß uns nicht allein – lebe für uns. Wir wollen Dich alle doppelt lieben.«

Sie weinte heftiger.

»Ich weiß nicht, ob ich das Leben noch tragen kann.«[342]

Quelle:
Ida Boy-Ed: Fanny Förster, Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien 1889, S. 334-343.
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