Sechstes Kapitel

[133] Einige Wochen waren vergangen, die Natur stand in den satten Farbentönen des Hochsommers. Auch auf Busch und Baum im Park hatten die langstieligen Schößlinge des Johannistriebes ihre gelbliche Farbe schon in so tiefes Grün verwandelt, daß man den neuen Zuwachs kaum noch vom ersten Laub unterschied. Auf den Beeten blühten Georginen und Astern, korallenrot leuchtete hier und da aus dem Gezweig die reife Vogelbeere. Erntewagen, hoch mit gelbem, schimmerndem Roggen beladen, fuhren vorn in den Hof; das Leben des Tages fing mit dem Sonnenaufgang an und endete mit dem Eintritt der Dunkelheit. Von Joachim bekamen die Damen wenig zu sehen, er zeigte sich bei dem Mittagsmahl und abends noch ein Stündchen. Schon morgens um vier Uhr hörte Fanny ihn pfeifend über den Hof gehen, mit den Leuten reden, zum Thore hinausreiten. Sie wachte regelmäßig davon auf, wenn er seine Fensterläden aufstieß, und horchte dann mit jenem Behagen, das man empfindet, wenn[133] man, selbst in wohliger Ruhe verweilend, den Lebensäußerungen lieber Menschen lauscht.

Das Zusammenarbeiten mit Joachim war ihr geradezu ein Vergnügen. Was Lanzenau und sie sich mühsam mit der Zeit als Autodidakten in dem Beruf angeeignet hatten, war Joachim das einfachste Abc seiner landwirtschaftlichen Kenntnisse. Mit einer großen Schnelligkeit und Sicherheit seiner Entschlüsse verband er eine Art von Sorglosigkeit, die nur dem Bewußtsein entspringen konnte, daß er seinen Aufgaben gewachsen sei. Dabei hatte er ein merkwürdiges Talent, überall zu sein; auch die anfängliche Mißstimmung der Leute, die nur ungern Fannys persönliche Aufsicht entbehrten und sich stolz gefühlt hatten, daß ihre praktischen Ratschläge von der Herrin begehrt und gehört worden seien, auch die Mißstimmung hatte er spielend überwunden. Nicht daß er durch besondern Vorsatz leutseligen Wesens das erreicht hätte, bewahre, er hatte diese Mißstimmung überhaupt nicht bemerkt und sie ahnungslos durch sein immer gleich heiteres Wesen, durch seinen gutmütigen Verkehrston entwaffnet. Morgens war er der erste, abends der letzte, und Fanny bewunderte seine Elastizität, die ihm dann abends noch gestattete, die Damen auf allerlei harmlose Art, durch Anekdoten, Neckereien, zum Lachen zu bringen oder gar zu singen.

Lanzenau bemerkte zwar einigemale, daß jetzt mehr Musik auf Mittelbach gemacht würde als früher, wo Fanny nur gelegentlich sein in der That nicht[134] gewöhnliches Klavierspiel begehrte; aber schließlich sah er selbst ein, daß die Menschenstimme, wenn sie so schön, so wohlgebildet und zu Herzen gehend wie die Joachims sei, doch die beste Seelenerquickung bleibe, und begleitete mit Freuden die Vorträge des auch von ihm wohlgelittenen jungen Mannes. Lanzenau war durch seinen neuen Wohnsitz nicht sehr gegen früher um Fannys Gesellschaft betrogen; seine Ankunft war täglich für ihn eine Freude, ward täglich freudig bewillkommt, und da er Fanny von einer wahrhaft strahlenden, ja, beinahe übermütigen Heiterkeit sah, fühlte er sich innerlichst hoffnungsfreudig und glücklich.

Adrienne hatte frischere Farben und eine leise Rundung der Wangen bekommen, zur Heiterkeit schien sie aber ein für allemal keine Anlage zu besitzen, ihre anfängliche Apathie war einer größern Beweglichkeit gewichen, doch hatte diese den Charakter einer nervösen Unrast. Tagelang sah sie den kleinen Joachim, welcher der Abgott seines Onkels und Fannys war, kaum an; dann kamen Tage, wo sie zu dem Kind eine fieberische Neigung zeigte. Von Arnold war beängstigend lange keine Nachricht mehr gekommen; aber nur Fanny oder Joachim stürzten auf den Postboten mit der Frage zu, ob er einen Brief aus Afrika habe.

Die Lesestunden mit Magnus fanden regelmäßig statt und waren wenigstens für drei der Beteiligten von so großem Reiz, daß es ihnen nicht auffiel, wie teilnahmslos Severina dabei saß. Fanny malte mit[135] einem wahren Feuereifer; ihr technisches Können war aber keineswegs sicher genug, um ihr immer das Gelingen zu verbürgen. Sie war bereits bei dem dritten Bild Adriennens, und dieses endlich schien der Meinung aller nach zu gelingen. Adrienne saß ihr unbeweglich gegenüber, die Arme auf den Stuhllehnen, die Füße auf dem Schemel vorgestreckt, das Auge ins Blaue gerichtet, den rötlichen Kopf leicht an das Rückenpolster des Sessels gelegt. Magnus saß in einer Linie mit Fanny und las vor; Novellen von Storm oder Heyse, zuweilen auch Gedichte oder eine jener monumentalen Novellen von Konrad Ferdinand Meyer. Er hatte eine sonore Stimme und einen Vortrag, der ebenso fern von falschem Pathos als von Einförmigkeit war; auch verstand er die schwierige Kunst, jedem Werk eine vom Inhalt geforderte besondere Färbung zu geben durch ernstern oder leichtern Tonfall seines männlichen Organs.

Adrienne hörte weltvergessen zu. Manchmal huschte jäh durch ihr Gedächtnis die Erinnerung an die unseligen Stunden, wo sie allein unlauterer Lektüre fieberheiß oblag; dann ging ihr Auge scheu über Magnus hin; ihr war's, als müsse er auf ihrer Stirne lesen, und schnelles Erröten flog da wohl über ihre feinen Züge. Das sah Magnus und deutete es sich auf seine Weise; er richtete seinen Vortrag ausschließlich an sie, und sie fühlte es wohl; auch war die Auswahl der Lektüre, die man ihm überließ,[136] immer so, daß Erzählung oder Lied von einsamen Frauenherzen und ihrem Erlöser sang. Aber das mochte Zufall sein, denn die Geschichte von der verbotenen Frucht ist die erste von aller Menschenkunde, sie wird die letzte sein, sie ist das urewige Thema der Poesie.

Zuweilen erschien es dem jungen Weibe dann traumhaft; da saß sie unbeweglich, dem Bild als Modell zu dienen, das den Gatten erfreuen sollte, und zugleich klang eines andern Mannes Stimme wie Tropfenfall, der einen Stein höhlt, in ihr Ohr und kündete von Liebe und berauschendem Glück; dann zitterten ihre Hände, und sie schloß sekundenlang die Augen.

Zuweilen ging Joachim an der Terrasse vorbei. Niemand als er selbst sah, daß Severina, die an dem Geländer nähend saß, dann erblaßte und unfähig war, seinen Gruß zu erwidern. Fanny nickte ihm herzlich zu und dachte wohl kurz daran, daß sie sich auf die Zeit freue, wo sie, nach der Ernte, sein hübsches Gesicht nachzubilden versuchen konnte.

Joachim sträubte sich zwar, wenn davon die Rede war. Er meinte, ihm fehle die Geduld, so lange zu sitzen; auch sei es ihm kein Vergnügen, bei Vorlesungen zuzuhören, gegen die er eine unüberwindliche Abneigung habe. Er begreife überhaupt nicht, daß eine so vortreffliche Frau wie Fanny ihre Nebenmenschen mit ihrer Kunst quälen könne. Diese liebenswürdig vorgebrachten Ungezogenheiten wurden von Fanny und Lanzenau[137] herzlich belacht, und Lanzenau meinte, helfen würde es ihm nichts; in dem Punkt sei Fanny unerbittlich, wie sein im Salon hängendes Porträt beweise.

»O, auf dem Porträt ist das Monocle sehr ähnlich,« sagte Joachim, weshalb Fanny ihn mit dem Rosenstrauß, den sie in der Hand hielt, scherzend schlug. Joachim war der erste und einzige Mensch, den der Respekt nicht hinderte, Fanny zu necken; das erschien ihr so neu als reizend. Von seinen Vorurteilen war er mit jugendlicher Hitze in das Gegenteil, in die begeistertste Verehrung gefallen. Fanny erschien ihm als der Inbegriff aller weiblichen Vollkommenheit, Schönheit, Güte, aller Klugheit, aller Liebenswürdigkeit, und er schaute zu ihr auf wie zu einem höhern Wesen, natürlich auch aus der entsprechenden innern Entfernung; er fühlte sich auch in seiner Thätigkeit und im Hause sehr glücklich, um so mehr, als sein junges, leichtflammendes Herz sich angenehm durch Severina beschäftigt fühlte.

Das Leben der Schloßbewohner und der Pastorenfamilie war durch lange Jahre ein so gemeinsames geworden, daß kein Tag hinging, an dem man sich nicht sah. Insbesondere Severina hatte sogar im Schloß einige bestimmte Obliegenheiten im Hausstand, die freilich von Fanny nur deshalb erfunden waren, damit das gedrückte Mädchen aus der Nähe ihrer predigenden Erzieherin komme. Joachim begegnete ihr im Hause, auf dem Hofe, bei Fanny; aber er begegnete ihr auch im Wald und auf Feldwegen, wenn sie im Auftrage[138] Fannys oder des Pastors Kranke besuchte oder nach eigener Neigung allein spazierte oder den kleinen Joachim im Wägelchen ausfuhr, was sie als Gunst von Adrienne neuerdings oft erbat.

Seltsamerweise, je häufiger sie sich trafen, je mehr hörte Joachim auf, ihr in Gegenwart der anderen, wie er anfangs eifrig gethan, den Hof zu machen; das fiel niemand auf, oder wenn doch, so dachte man höchstens, Joachim sei eben mit der Werkeltagsthätigkeit und dem täglichen Zusammenleben in den gewöhnlichen Familienverkehrston zurückgekehrt. Nicht daß bei diesen Begegnungen irgend etwas Besonderes gesprochen worden wäre, im Gegenteil wußten beide wenig zu sagen und schritten meist bloß eine Weile stumm neben einander, sich dann mit zögerndem Händedruck trennend. Es war eine stumme Spannung zwischen ihnen. Joachim dachte, daß diese Begegnung kein Zufall sei und ob das Mädchen ihn wohl wirklich liebe. Severina bebte innerlich vor Scham, daß sie sich nicht überwinden gekonnt und ihm in den Weg gegangen, und vor Angst, daß er irgend etwas sagen könne, was ihr diese schweigende Qual glück lich oder unglücklich enden würde.

Um die Wonne des Lebens, die er jeden Tag neu empfand, voll zu fühlen, gehörte für Joachim ein Liebesroman dazu; dieser entspann sich ihm so anmutig, so reizvoll; weshalb hätte er eilen sollen, den Zauber zu brechen, der in süßen Zweifeln, ahnungsvollen[139] Blicken liegt? Er drückte Severinas Hand und suchte ihre Nähe und sagte nichts.

Aber eine Stunde kam, da schlugen die Flammen aus ihren Augen ganz über ihm zusammen.

Severina war mit dem Kind in den Wald gefahren, sie schob den leichten Wagen vor sich her, mit eintönig rüttelndem Geräusch drehten sich die Räder auf dem festen Boden der Wege, manchmal raschelten sie durch das vorjährige Buchenlaub. Da wurde das goldbraune Blättergehäuf auseinander gewühlt und zeigte die schwere Nässe vom Tau der Nacht, die unter der schon trockenen Oberfläche faulte. Nah und fern trillerten die Vögel im Walde; der Friede und die Kühle webten zwischen den grauweißen Stämmen.

Das Kind im Wagen schlief, ein bläulicher Schleier schützte das Gesichtchen gegen Fliegen. Severina schob gedankenlos weiter und weiter, bis sie an die Waldesgrenze kam, aus deren mit Schlehen-, Hasel-und Hollunderbüschen bewachsenem niederem Erdwall außer der durchschneidenden Chaussee noch vielfach schmale Wege ins freie Feld führten. In einer dieser kleinen Wegesöffnungen stand Severina und schaute auf das vor ihr sich ausbreitende Weizenfeld hin. Rechts und links ging die große Koppel mit dem wogenden Gold am Waldsaum entlang, hob sich geradeaus in sanfter Welle und schränkte so rings den Blick ein.

Severina setzte sich an den Rain, die Füße im schmalen, zur Zeit ganz ausgetrockneten Graben, der[140] den Erdwall vom Fußpfad, vom Getreidefeld trennte. Sie saß im hohen Grase, fast schlug es über ihren Knieen zusammen. Vom Schlehengebüsch hinter ihr spielten im leisen Wind blühende Ranken des wilden Hopfens herab, der hier das Buschwerk üppig durchspann. Severina verschränkte die Arme auf den Knieen und starrte mit vorgeneigtem Leibe finster in die Aehrenfülle. Aus dem gelben Saum nickte da und dort eine glühende Mohnblüte heraus. Manchmal scholl der zweitönige Ruf der Wachtel aus dem Korn, oder ein Vogel flatterte mit kurzem, unsicherem Flug zwischen den Aehren auf und schoß wieder hinein.

Ach, so hatte Severina schon Jahr um Jahr an derselben Stelle dasselbe Bild der Welt, des Fleckchens Erde, das für sie die Welt bedeutete, gesehen; es war immer dasselbe gewesen, immer das Leben, das sich in gleichförmiger Thätigkeit abspann, immer zu Hause der gutmütige Vater, der Trost und milde Worte für alles, aber Hilfe für nichts hatte, immer die rasche, viel scheltende, besorgte und eifersüchtige Mutter, die alle Jugendfröhlichkeit als sündhaft verbot, die es verhinderte, daß Severina wenigstens an Magnus einen Freund, einen mitfühlenden Bruder gewann. Magnus durfte neben seiner Mutter niemand lieben, darüber wachte sie rastlos. Nun, das wird Magnus sich gefallen lassen, bis einmal eines andern Weibes Liebe ihm süßer ist als die seiner Mutter. Um Severinas willen hat er keinen Grund, die Tyrannei zu[141] durchbrechen; er ist ihr immer freundlich, aber innerlichst gleichgiltig begegnet.

Wann wird sich dies Leben einmal ändern, wie kann es sich ändern? Severina ist jetzt zwanzig Jahre alt, und Fannys Güte ist das einzige gewesen, das freundliche Abwechslung in die Tage brachte, die sich sonst hätten eintönig in den Grenzmarken eines Dorfes abgespielt – die Güte einer Fremden! Jeder Zufall konnte ihr diese rauben oder wenigstens Fanny die Neigung nehmen, die Güte so vielfach zu bethätigen. Früher hatte Severina oft gewünscht, die Pflegeeltern möchten ihr erlauben, draußen selbst ihr Brot zu verdienen, aber das gab die Pastorin nie zu; ihre Ueberzeugung war, daß das Mädchen im Strudel der Welt untergehen werde und daß nur in einem Pfarrhause die für sie zuträgliche Luft sei. Heiraten? Der junge Pastor vom nächsten Gut, drüben über der Elbe, hatte ihr wohl zu verstehen gegeben, daß er bald in sein Haus ein christliches Weib führen müsse, und die Mutter hatte schon oft stundenlang über das Glück gesprochen, welches für die Tochter einer Verlorenen eigentlich ein unfaßliches Gnadengeschenk sei, wenn jener junge Geistliche wirklich als Werber käme. Severina, die den herzensguten und liebenswürdigen Mann achtete, wenn gleich sie den Gedanken, die Seine zu werden, unerträglich fand, hatte sich innerlich schon in dumpfer Verzweiflung dazu gerüstet.

Aber nun schrie alles in ihr nein! tausendmal[142] nein! Unauslöschlich brannte auf ihrem Munde die Glut, welche die Lippen Joachims dort entzündet. Sein Gesicht, sein Lächeln, seine Stimme waren vor ihr Tag und Nacht. Alle Schönheit der Natur erblaßte, alle Offenbarung der Kunst ward Gestammel, die Weihe des Gottesdienstes ward inhaltlos gegen den brünstigen Gedanken an ihn, an ihn. Die Welt war ihr untergegangen in seinem Dasein. Nur mit ihm konnte sie die Freude daran, das Bewußtsein davon zurückerlangen.

Das war Wahnsinn, denn er ging eines Tages wieder aus ihrem Leben, in das er so plötzlich, mit so viel Uebermut getreten, und dann?

Severinas Augen wurden finster. O – wie lagen die kommenden Zeiten vor ihr! Wie ein Marsch durch eine schatten- und quellenlose Steppe.

Vielleicht, wenn nächstes Jahr der Weizen sich wieder goldete, befahl eines andern Stimme, die Sensen zu schleifen; dann konnte Severina über die Stoppeln gehen und an den denken, der die Saat beschafft.

Nein, das war nicht auszudenken. Das war der Tod!

Sie erbleichte und schlug beide Hände vor ihr Gesicht. Da schrie das Kind im Wagen. Severina sprang auf, riß es heraus und nahm es auf ihren Schoß. Das war wie ein Teil von ihm. Er liebte es. Die Liebe, die sie dem Kind erwies, freute ihn. Sie küßte das Kind, das ihr entgegenlachte, und preßte es an sich. Ihr Herz war zum Zerspringen voll von stummen, heißen Geständnissen. Dies kleine[143] Menschenwesen, sein Liebling, umfing sie mit unermüdlichen Zärtlichkeiten.

»Madonna mit dem Kinde,« sagte Joachim. Er war am Waldsaum, der nah bei Severinas Sitz eine Biegung machte, daher gekommen, den Reifestand der Weizenkoppel zu prüfen.

Severina schrak zusammen und sah zu ihm empor. Das war kein Madonnenblick. Ihn durchrann es. Aber die schnelle Regung durch einen ebenso schnellen Vernunftgedanken bezwingend, setzte er sich mit fröhlichem Wort neben Severina in das hohe Gras. Das Kind, welches nun schon seine ganze Umgebung kannte, jauchzte ihm entgegen und strebte mit Händen und Füßen aus ihren Armen in die seinen.

»Wenn der Junge Sie sieht oder nur Ihre Stimme hört, ist er nicht mehr zu halten. Das kommt daher: Sie tollen am übermütigsten mit ihm herum und werden noch einen schönen Wildfang aus ihm machen,« sagte Severina lächelnd.

»Von Vater und Mutter her, fürchte ich, steckt ihm zu viel Ernst und Trübsinn im Blut; als mein Neffe aber muß er auch nach mir arten – lustig muß er sein, das bring' ich ihm beizeiten bei,« antwortete Joachim und hob das Kind mit einer schwenkenden Bewegung hoch über sich in die Luft. Der Kleine schrie vor Vergnügen auf.

»Ja, Adrienne hat kein Talent, sich am Leben zu freuen,« bemerkte Severina.[144]

»Sie aber auch nicht. Wenn Fanny nicht noch ein bißchen Spaß verstände, wäre es ja vor Ernsthaftigkeit nicht mehr auszuhalten. Au – Junge – au – das ist mein neuer Strohhut und das ist meine Frisur! Willst Du loslassen!«

Der Kleine hatte Joachims Hut erfaßt und einfach weggeworfen, dann fuhr er mit seinen kleinen, rundlichen Fingerchen in Joachims blondes Haargelock und riß und wühlte und lachte vor Freude hell auf; dabei war der ganze kleine Körper so lebendig, daß Joachim ihn mit beiden Händen vor einem Fall bewahren mußte.

»Erretten Sie mich doch, können Sie so grausam zusehen, wenn der Junge mich zum Kahlkopf macht?«

Severina lachte. Sie erhob sich halb, kniete auf ihrem bisherigen Sitz, und da ihre Ellenbogen auf diese Weise in einer Höhe mit Joachims Kopf waren, machte sie sich mit ihren beiden Händen daran, die runden Fingerchen, die sich so fest in die Locken gekrallt hatten, auseinanderzubiegen.

Joachim hielt ganz still, und die kleinen Finger, die sich eben, der Gewalt gehorchend, öffnen mußten, schlossen sich immer wieder. Es war für das Kind ein Spiel. Severina war geduldig, ihre Hände aber zitterten ein wenig, und Joachim saß so ruhig, so atemlos, als belausche er mit allen seinen Sinnen die Empfindung, welche ihm das Wühlen der schönen Frauenhand in seinen Locken verursachte. Plötzlich[145] ließ der Kleine los, ein großer Schmetterling schwebte lautlos nahe vorüber, nach ihm streckten sich die Händchen. Severinas Hände sanken bleischwer herab. Joachim setzte das Kind vorsichtig neben sich ins Gras, und alles blieb stumm und atemlos.

Dann sah er Severina an, sie schloß die Augen und verharrte in ihrer knieenden Stellung.

Er nahm die beiden Hände, die schlaff an ihrem Gewand niederhingen, und küßte jede wiederholt, zwischen jedem Kuß zu Severina aufblickend. Plötzlich drückte er sein Gesicht gegen ihr Kleid und schlang erschauernd seine Arme um ihre Hüften. So verharrte er wohl eine Minute lang, dann sprang er empor, fiel ihr um den Hals und küßte die zitternden Lippen, die sich ihm entgegen öffneten.

»Hast Du mich wirklich so lieb?« flüsterte er dazwischen. Und dann rief er übermütig: »Damals, der erste Kuß hat Dich verführt!«

Sie konnte nicht scherzen und nichts sagen; ihr Gesicht war sehr bleich, aus ihren dunklen Augen brach ein Glanz von unermeßlichem Glück, jeder Kuß schien ihr zu lau, jedes Wort zu armselig, um ihm zu sagen, wie sie ihn liebe. Die Wonne dieses Augenblicks überstieg die Fassungskraft eines Menschenherzens. Ein blödes Lächeln, von einem unartikulirten Laut begleitet, war Severinas einzige Aeußerung.

Das Kind, welches in den Graben hinabrollte, weckte wenigstens Joachim aus seinem Rausch. Er[146] setzte sich wieder mit dem Kindchen auf dem Schoß und zog Severina neben sich.

»Das ist eine schöne Geschichte,« sagte er lustig, »wenn das Frau Pastorin wüßte. Du große Verführerin, Du hast Schuld!«

Severina lächelte traumbefangen.

»Im Grunde,« fuhr er ernsthafter fort, »sollte ich Dich sehr um Verzeihung bitten; ich bin ein armer und zurzeit noch aussichtsloser Teufel. Auf solche Küsse, wie wir eben gewechselt, sollte eine Verlobung folgen; ich müßte meinen Frack anziehen und zum Pastor gehen, Deine Hand zu erbitten, und das kann ich noch nicht.«

»O,« rief Severina mit heißem Ausdruck, »sprich nicht davon, denke nicht an die Welt und was in ihr Sitte ist; ich liebe Dich, ich glaube an Dich, ich warte! Wenn Du mich nur liebst, füllt das heimliche Glück mir die ganze Welt mit Sonnenschein!«

»Schwärmerin,« sagte er gerührt, »so viel Liebe verdiene ich gar nicht.«

Sie saßen und plauderten und lachten, wie nur Verliebte können; Joachim bewunderte alle Reize, die Severina vor anderen voraus hatte, und selbst ihr Gesicht mit den tatarischen Zügen erschien ihm von einer wilden und trunkenen Schönheit. Endlich aber stieg die Sonne über die Weizenkoppel und glühte zu der kleinen Gruppe am Waldsaum hinüber.

»Ich muß weiter,« rief Joachim, »das hat eine schöne Zeitversäumnis gegeben!«[147]

Sie nahmen Abschied, als gälte es eine Trennung auf Wochen; dann ging er mit seinen hastigsten Schritten an der Koppel entlang, den Weg fortsetzend, den er dahergekommen, aber er schaute sich noch mehreremale um, der Lieben einen Gruß zu winken.

Und dann schob Severina ihren Kinderwagen in den Wald zurück; sie ging wie im Traum und erschrak, als sie sich zuletzt im Dorfe befand. Das Bewußtsein, daß Sammlung nötig sei, überkam sie peinlich; sie sah sich fremd um, ihr war wie einer Verirrten zu Mut.

Aber da stand schon der Pastor in der Gitterpforte vor seinem Hause und schaute nach ihr aus; man hatte auf sie gewartet. Er rauchte zwar seine lange Pfeife, aber er hatte seinen schwarzen Gehrock an und ein reines weißes Halstuch um, das bedeutete Außergewöhnliches. Severina atmete auf. Jedes Ereignis war willkommen – nur heute nicht der alltägliche Trott des Tagewerkes.

»Mein Kind,« sagte der Pfarrer, »Graf Taiß ist mit drei anderen Herren gekommen, es gibt ein Diner auf dem Schlosse, Fanny hat nach Dir geschickt; aber erst sollst Du der Mutter noch etwas helfen und Dich gleich auch umkleiden.«

Der ängstliche Tonfall in seiner Stimme verriet Severina, daß die Pastorin schon in Ungeduld vergehe; da gab es Schelte, viel Schelte, und das als erstes nach der seligen Stunde?

In Severina wallte es warm auf. Segen und[148] Teilnahme konnte sie von niemand erbitten, aber ein gutes, ein liebevolles Wort mußte sie hören; sie legte ihr Haupt an ihres Pflegevaters Schulter und ihren Arm um seinen Nacken.

»Papachen,« sagte sie schmeichelnd, »nicht wahr, Du hast mich ein wenig lieb und möchtest, daß ich noch 'mal im Leben glücklich würde?«

»Natürlich, natürlich; aber wie kommst Du auf die Frage, mein Kind? Und was hast Du für rote Backen? Aengstigst Dich wohl schon vor Mama? Na, Du weißt, sie meint es nicht so, und mit mir schilt sie auch 'mal,« sagte der alte Herr gutmütig. »Siehst Du, schließlich haben wir's ja bei der Schelte besser als Magnus bei der Güte.«

Severina lächelte glücklich. Ja, der alte Mann hatte sie väterlich lieb. Er würde sich freuen – dann, dann, wenn alle Welt erst wissen durfte ...

»Severina!« rief eine heftige Stimme.

»Komme schon,« rief sie zurück, »ich will erst den Kleinen ins Schloß bringen!«

Die Magd, die in der Pfarrküche gewartet hatte, kam aber schon um die Hausecke und nahm den Kinderwagen.

Severina ging hinein. In der Vorderstube saß die Pastorin, mit einer Brille bewaffnet, und nähte mit der ihr eigenen rasenden Eile an einem schwarzen Kleid.

»Wo bleibst Du? Natürlich, unter dem Vorwand, das Kind spazieren zu fahren, wird gefaulenzt.[149] Faulheit ist der Beginn aller Laster, das haben wir bei Deiner Mutter gesehen. Hier, der neue Stoß muß noch in das Kleid vor Mittag, ich ging ja schon zum Skandal damit.«

Severina nahm ihr Nähgeschirr und nähte darauf los; der Kleidersaum, an dem sie nun beide arbeiteten, schwebte in ellipsenförmiger Rundung zwischen ihnen, das dazu gehörige Gewand bauschte sich erdwärts zwischen ihren Füßen zusammen. Aber da hatte die Pastorin ein Handtuch hingebreitet, damit es nicht Schaden nähme.

»Was ziehst Du an?« fragte die Pastorin.

»Weiß.«

»Immer den besten Staat. Eitelkeit ist der Anfang aller Laster, das haben wir bei Deiner Mutter gesehen, und Du hast keinerlei Ursachen zur Eitelkeit, Gott sei Dank; er hat darüber gewacht, daß der Versucher Dir keine Schönheit als Teufelsangebinde gab.«

»Geliebte, Du hast die herrlichste Gestalt, die schönsten Hände, die reizendsten Füßchen,« hörte Severina nachklingend in ihrem Ohr seine Stimme sagen, und sie lächelte zu den bitteren Worten.

»Fanny liebt es, wenn ich in den Kleidern komme, die sie mir gab.«

Die Pastorin seufzte.

Und Joachim sah am Mittag wohl, daß Severina seinetwegen so festlich angethan war mit einem Kleid von schaumig weicher weißer Wolle, und daß sie[150] seinetwegen eine Marschall-Nielrose an der Brust trug. Er liebte diese schweren, duftenden Rosen sehr, die ihr Haupt melancholisch neigen.

Sie hatten auch das Glück, neben einander zu sitzen, obgleich Joachim sich wohl gehütet hatte, ihr den Arm zu geben; das that einer der Begleiter des Grafen, und wenn sie auch nicht viel zusammen sprachen, so fand Joachim doch unter dem Tisch das zierliche Füßchen. Graf Taiß nahm seine äußerliche Aufmerksamkeit in Anspruch, er wollte von Lanzenau und Joachim wissen, wie man am besten für heute abend eine Versammlung berufe. Die Bauern seien ja mit ihrer Ernte fertig, und daß die Arbeit auf den Feldern Fannys etwas früher aufhöre, mußten beide Herren gestatten. Selbstverständlich wurde das zugestanden; der Pastor und Lanzenau wußten eine Menge Geschichten davon zu erzählen, wie stark der sozialdemokratische Kandidat inzwischen für sich gewühlt habe.

Joachim kürzte infolge dessen seine Mittagsstunde ab und war schon wieder verschwunden, als man auf der Terrasse den Kaffee nahm. Fanny entbehrte ihn und fragte, wo er sei.

»Herr von Herebrecht wünschte die Stunde zu gewinnen, die heute abend verloren geht,« antwortete Severina, die Fanny gerade ein Mokkatäßchen hinreichte.

Fanny nahm sich Zucker.

»Er ist übereifrig,« sagte sie verstimmt, »die Leute wären die Stunde lang auch ohne ihn fleißig gewesen.«[151]

»O Frau Förster, Sie haben schon vier Stücke Zucker – die Tasse läuft über,« bemerkte das junge Mädchen.

Fanny lachte über ihre Gedankenlosigkeit.

»Der glückliche Herebrecht,« sprach Taiß, »er wird entbehrt.«

»Er ist das enfant gaté unserer Damen,« sagte Magnus scherzend, »und er gibt sich weniger Mühe ihretwegen, als unsereiner. Wenn ich zwei Stunden vorlese, bekomme ich nicht so viel Dank, als wenn Herebrecht ein Lied singt.«

Lanzenau hatte Fanny erstaunt und aufmerksam angesehen, als sie nach Joachim fragte.

Am Abend fand im Dorfkrug eine Versammlung statt. Graf Taiß steckte sich einige mit Kölnischem Wasser getränkte Tücher in die Tasche, bat Fanny, eine Flasche Cognac in den Krug zu senden, damit sie im Bedarfsfalle nicht vom Fusel des Wirtes angegiftet würden, und wanderte dann mit seinem Stab in das Lokal. Der im Wirtshaus eine Treppe hoch belegene Tanzsaal war ausersehen, mit seinen vier weißen Kalkwänden die Scene zu umschranken. Von dem geweißten Plafond hingen zwei doppelarmige Petroleumlampen herab, über ihren schwitzenden und mit Insekten beklebten Glasbehältern schwebten die blechernen Schirme, aus denen oben die kurzen Gläser mit der blackenden Flamme darin aufragten. Zum fettigen Petroleumdunst gesellte sich der Duft von Thranstiefeln und jenes[152] undefinirbare, von Stoffwechsel und muffigen Kleidern erzeugte Ctwas, das man »Leutegeruch« nennt. Die Estrade, wo sonst die Musik spielte, war für die Herren als Rednerbühne und Vorstandsbureau aufbewahrt. Wenn der hohe Graf Taiß da an der grüngestrichenen Balustrade stand, ragte sein Scheitel genau bis zur Decke, und Kalkteilchen fielen zuweilen in sein sorgfältig geordnetes Haar. Lanzenau saß mit oben und betrachtete sich die enggedrängte Bauernschar, zuweilen sah er sich auch mit eingeklemmtem Monocle Taiß an; es belustigte ihn ungemein, diesen eingefleischten Aristokraten vor diesem Zuhörerkreis zu sehen, und er bedauerte, daß Fanny sich das Schauspiel versagt hatte. Joachim und der Pastor befanden sich zwischen den Zuhörern.

Graf Taiß fing seine Rede mit einem Hoch auf den Kaiser an, dann setzte er Lanzenau durch einige glückliche, volkstümliche Wendungen, welche den Beifall, ja, das wohlgefällige Gelächter der Leute erregten, in Erstaunen. Kaum aber ging er zu den Einzelheiten des Wahlprogramms über, kaum berührte er die Monopolfragen, das Armenbudget, die Kolonialpolitik, so erhitzte er sich an seinem eigenen Vortrag, vergaß seiner Zuhörer Bildungsstufe und hielt eine Rede, die im Parlament ohne Zweifel Aufsehen gemacht hätte wegen ihrer flüssigen Form und ihrer geistreichen Hiebe gegen die anderen Parteien. In den kurzen Kunstpausen nach den »Schlagern« sog Taiß jedesmal aus dem gegen Mund und Nase gepreßten Tuch den erquickenden Duft[153] des Kölnischen Wassers ein und nahm einen Schluck Cognac und Wasser.

Der Schullehrer und der Dorfschulze, obschon sie auch nicht alles verstanden, nickten sich, ihres Ansehens als kluge Männer halber, mehrfach beifällig und verständnisvoll zu. Das Ende war, daß man – teils aus Respekt vor dem Grafen, der als leutseliger Herr und Frau Försters Freund bekannt war, teils infolge der unbewußten Reflexbewegung, die eine feurige Aeußerung, auch wenn sie unbegriffen bleibt, immer hervorruft – daß man in laute Hochs ausbrach. Taiß glaubte mit Erfolg gesprochen zu haben und setzte sich, sehr erhitzt, aber auch sehr zufrieden nieder.

Einer der Herren aus seiner Begleitung erhob sich und sagte zu den Leuten, wer etwas zu sagen oder zu fragen habe, möge getrost sich melden. Eine unruhige Bewegung entstand, man wechselte Flüsterreden.

»Nun?« fragte der Komiteherr aufmunternd.

Da sagte eine Stimme aus der Menge:

»Wat de Schneider Mühling uns segt hätt', wär ok nich von Papp'!«

Nämlich als vor vierzehn Tagen der Sozialdemokrat hier geredet hatte – es war dasselbe Bild gewesen, bis auf die Gestalt des Redners – jubelten die guten Mittelbacher diesem ebenso zu wie heute der Rede des Grafen. Die Wahlagitationsreden hatten für sie zunächst den Wert einer Unterhaltung, einer außerordentlichen Unterbrechung des Werktagseinerlei.[154]

»Aber eure Urteilskraft, meine Freunde, wird unterscheiden können zwischen den Phrasen seiner und den thatsächlichen Daten meiner Rede!« rief Taiß.

Wieder murmelten die Leute unter einander, und endlich erhob sich das geflüsterte Bedenken, die heimliche Sorge zum lauten Wort. Der Name Fannys wurde gehört. Was sie von der Sache dächte, wollte man wissen. Graf Taiß geriet in keine geringe Verlegenheit, er kannte Fannys unbegrenzten Einfluß, er wußte, daß sie ein Ansehen genoß, wie kein Gutsherr weit und breit bei seinen Leuten.

Er antwortete, daß Frau Förster es abgelehnt habe, sich in dieser Sache zu äußern, weil ihr als Frau das nicht zustehe, er verwünschte innerlich die Gegenwart von Fannys Hausgenossen, ohne welche er wohl gewagt haben würde, Fannys Namen geschickt zu verwerten. Ob der Baron nicht sagen könne, wie die Herrin denke. Nein, auch Lanzenau wußte nichts zu sagen. Joachim, der plötzlich von dem Wunsch angestachelt war, zu sehen, wie Fanny sich aus der Affaire ziehen würde, flüsterte seinem Nebenmann zu, man solle doch hingehen und sie fragen.

Nach einer Minute war dies das laute Geschrei, niemand wußte, wer es zuerst gesagt, der Gedanke schien in allen entstanden. Joachim drängte sich durch die Menge und sprang, so schnell ihn seine Füße trugen, zum Schloß hinüber. Hier fiel er wie eine Bombe in die Gesellschaft der Frauen, die mit Magnus[155] um den Tisch saßen. Magnus als Weltverbesserer und Philosoph, warm von der Universität, träumte von einem freien Zukunftsstaat, wie solcher allezeit nur in jungen Köpfen existirt, und hielt es demzufolge für unter seiner Würde, der »Volksverdummungs- und Verknechtungsrede« des Grafen zu lauschen; aber davon sagte Magnus wohlweislich nichts.

»Was ist?« rief Fanny erschreckt.

»Sie kommen, sie kommen!« sagte Joachim.

»Wer?«

»Die Leute! Sie sollen sagen, wer zu wählen sei, Graf Schmettow oder Schneider Mühling.«

Adrienne und Severina lachten, ebenso Magnus, die Pastorin faltete entsetzt die Hände.

Fanny erhob sich, den Ausdruck allergrößten Mißbehagens im Gesicht.

»Das ist stark. Gegen meinen bestimmten Willen!« sagte sie.

»Vox populi,« meinte Joachim lächelnd.

»Gnädige Frau,« rief der Diener, auf die Terrasse eilend, »gnädige Frau, der Hof ist voll von Leuten, man will Sie sprechen!«

»Ich bin nicht zu sprechen!« rief Fanny in höchstem Zorn.

»Aber, teure Frau, jeder Widerstand ist nutzlos, das ganze Dorf ist eben zu sehr gewöhnt, nichts ohne Ihr letztes Wort zu thun, Sie sind jahraus jahrein immer auf ihre Interessen eingegangen, aus der[156] Gewohnheit ist ein Recht geworden, nun fordert man, was Sie ursprünglich nur schenkten – Ihr reiferes Urteil,« sprach Joachim zuredend.

»Aber in diesen Dingen will ich keins haben,« sagte Fanny verzweifelt, »wenigstens keins, das über den Kreis meiner Lebensgenossen hinausdringt.«

»Kommen Sie, Ihre Klugheit wird das rechte Wort finden.« Joachim nahm ihren Arm und legte ihn in den seinen. Er führte Fanny durch Saal und Flur nach vorn. Auf dem Beischlag ergab sich ein natürlicher Standpunkt für die unfreiwillige Heldin dieses seltsamen Vorganges. Vor dem Beischlag stand Taiß mit seinen Begleitern und lächelte Fanny zu – wie sie ihm später vorwarf – diabolisch schadenfroh. Hinter Fanny drängten sich Adrienne, die Pastorin, Magnus, Severina und Joachim.

Letzterer konnte heimlich die Hand des jungen Mädchens fassen. Warm fühlte er das Klopfen ihrer Pulse in seinen Fingern, und fester und fester umschlossen diese die kleine, heiße Hand, während sein Auge an Fannys Gestalt und Antlitz hing, welch letzteres ihm nie so stolz und bedeutend erschienen war als in diesem Augenblick.

Adrienne lehnte an der niedern Mauer des Beischlags. Mußte Magnus sich so zu ihr drängen, wenn er etwas sehen wollte? Sie zitterte und verharrte still. Der Pastorin jedoch entging es nicht, daß Magnus der blassen Frau zu nahe kam, sie zupfte ihn[157] mahnend am Rock, worauf er einen verzweifelten Seufzer ausstieß.

Auf dem Hofe war es so dunkel, wie es an solchem Spätsommerabend nur irgend sein kann, aber vorn auf die Mauern des Beischlags stellte der Diener ungeheißen die schnell entzündeten zehnkerzigen Tafelleuchter, aus den Scheunen und Ställen rechts und links am Hofe trugen die Knechte schleunigst Stalllaternen herbei, die, hoch auf Heugabeln getragen, hin und her baumelten. So entstand eine phantastische Halbbeleuchtung, welche die versammelten paar Dutzend Menschen als eine unabsehbare Schar erscheinen ließ, nur Fanny stand im grellen Licht.

Ihr Gesicht war bleich, sie sah kühl über die Menge hin und fragte:

»Was wollt ihr? Was soll der Aufzug?«

Ihre Altstimme hallte über den nächtlichen Raum und wurde in den fernsten Ecken gehört.

»Wir wollen wissen, ob wir konservativ oder sozialdemokratisch wählen sollen!« schrieen einige.

Es wurde Fanny wahrhaftig schwer, nicht knappweg »konservativ« zu antworten. Die unglückliche Gegenüberstellung »sozialdemokratisch« verursachte die Aufwallung. Für ihr Frauengefühl lag in dem Wort die Verdammung und Umstürzung von allem, was sittlich und ästhetisch ist, aber sie bezwang sich und sprach:

»Seit wann sind Reichstagswahlen ein Weibergeschäft? Ihr seid Männer und müßt wissen, was[158] ihr wollt. Mein Amt als Gutsherrin und Kirchenpatronin habe ich allezeit erfüllt ...«

»Hoch, Frau Förster!« schrie die Menge.

»Aber was darüber hinausgeht,« fuhr Fanny fort, nachdem sie die Unterbrechung, ohne eine Miene zu verziehen, angehört, »aber was darüber hinausgeht, ist vom Uebel.«

»Sehr verständig, eine seltene Frau!« sagte der Schulmeister zum Dorfschulzen.

»Aber Sie können doch sagen, ob wir dem Grafen Schmettow-Brunshagen oder dem Schneider Mühling mehr vertrauen sollen!« rief wieder eine Stimme.

»Wenn ihr mich fragt, was die bessere Sache sei, kann ich nicht antworten, aber wenn ihr wissen wollt, wer der bessere Mann ist, dann will ich euch dies sagen: der Schneider Mühling lebt von den Sammlungen, die seine Gesinnungsgenossen unter sich veranstalten, also von der Arbeit anderer; er zieht im Land umher, hält Reden, ißt und trinkt gut, sein Weib und seine Kinder leben in höchster Not in Berlin. Der Graf von Schmettow thut, wie ihr alle wohl vom Hörensagen lange wißt und ich euch bestätigen kann, für seine Brunshagener unendlich viel Gutes, er hält auf seine Kosten eine Schule und ein Krankenhaus, er ist ein milder und gerechter Herr gegen seine Leute. Nun urteilt selbst, wer der bessere Mann ist.«

»Hoch, Graf Schmettow! Hoch, Frau Förster!«[159] riefen die befriedigten Leute und schoben, sich wendend, dem Hofthor zu.

Graf Taiß trat zu Fanny und küßte ihr die Hand.

»Ich dankte im stillen dem Zufall, der es fügt, daß nicht unser Kandidat ein flotter Lebemann und der Schneider ein katonischer Mustermensch ist, sonst hätten wir riskirt, den Schneider gelobt zu hören,« sagte er lachend.

Auch Fanny lachte, sie war mit sich zufrieden.

Die Gesellschaft kehrte auf die Terrasse zurück, ein merkwürdiger Uebermut ward in allen wach. Fanny beorderte Sekt und sagte, daß man ihr Debüt als Rednerin feiern müsse. Joachim bedauerte, daß so wenig Damen zugegen seien, sonst müsse man einen Ball improvisiren. Aber die drei Anwesenden genügten, meinte Magnus. Fanny ließ die Lichter der Krone im Saal anzünden.

Aber Lanzenau, der hätte spielen sollen, schien verstimmt und bestand darauf, mit Pastors und den Gästen zwei Whisttische zu arrangiren. Fanny war durchaus nicht aufgelegt. So setzten sich Lanzenau, Taiß und einer der Fremden zum Spiel mit dem Strohmann nieder, während das Ehepaar mit den anderen beiden Fremden den zweiten Tisch nahm.

Joachim aber bat und schmeichelte wie ein verzogener Knabe, daß Fanny nur einen, einen Walzer für sie spielen möge. Adrienne hatte rote Backen und[160] war sehr vergnügt; als auch sie bat und hinzusetzte, daß sie fast noch nie getanzt, gab Fanny gutmütig nach, doch nicht ohne zu sagen, daß hier ja im September genug Gelegenheit sei.

So saß denn Fanny am Flügel, der an der einen Schmalwand des langen Saales stand, und spielte den Fledermauswalzer. Sie saß im Profil dem Saal zugewendet, und obschon ihre Blicke auf den Tasten lagen, bemerkte sie doch die beiden vorbeidrehenden Paare.

Was das für ein Zauber in so einem Straußschen Walzer ist, er weckt bacchantische Lust in denen, die seinem Rhythmus tanzend folgen, er umspinnt die Seelen derer, die ihn spielen und hören, zuweilen mit tiefster Melancholie.

Fanny wurde seltsam zu Mut, ganz traurig und verlassen, sie, die eben als Mittelpunkt, als Herrin der ganzen Gegend auf eine Weise gefeiert worden war, wie in der Form wenigstens noch nie eine Frau, sie saß als gute alte Tante hier am Klavier, um den anderen ein Vergnügen zu vermitteln. Fanny war gekränkt, sie hätte weinen können, und noch seltsamer, ihr Verstand kontrollirte dieses unlogische Gefühl und schalt es dumm, unverständig; niemand wollte sie kränken, am wenigsten die vier harmlos lustigen jungen Menschen und am allerwenigsten Joachim, das wußte sie; vielleicht dachte er in seiner großen Verehrung überhaupt nicht daran, daß man auch mit Fanny tanzen könne, und sie – sie bekam eine unbändige,[161] unüberwindliche Lust, nur einmal mit Joachim herumzuwalzen. Weshalb er überhaupt nicht sein Bedauern darüber ausdrückte, daß es unmöglich sei? Und dabei spielte sie unaufhörlich die süßen, wiegenden Melodien, und dabei tanzte Joachim rastlos mit Severina.

Schließlich waren beide Teile ermattet, die Spielerin und die Tänzer. Da ergriff Joachim ein gefülltes Spitzglas mit Champagner und rief, es erhebend:

»Die gütigste und beste der Frauen, Fanny, die Einzige, soll leben!«

Er stieß in der Runde an, die Spieler gesellten sich lachend zur Gruppe. Fanny klang ihr Glas gegen das Joachims und sah ihm glücklich lächelnd in das offene, jetzt von Ausgelassenheit strahlende Gesicht, dann fand Joachim sich zu Severina, stieß mit ihr an, unbemerkt vertauschten sie die Gläser, und mit einem heißen Wechselblick trank jeder an der Stelle, die des andern Mund berührt.[162]

Quelle:
Ida Boy-Ed: Fanny Förster, Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien 1889, S. 133-163.
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