Achtes Kapitel

[183] Die Zeit der Unruhe im Schloß war auch für die Pastorenfamilie eine Unterbrechung der gewohnten stillen Thätigkeit. Die Tagesordnung ward verschoben und begann noch früher als sonst, denn jeder mußte die Nachmittagsstunden, die an der Geselligkeit verloren gingen, einholen. Der Pastor arbeitete in der Morgenfrühe an seinen Predigten, die er das ganze Jahr nicht mit so viel Eifer und Fürsorge verfaßte als jetzt, wo des Sonntags einige arge Weltkinder unter seinen Zuhörern saßen, in deren Herzen das Licht religiöser Humanität zu entzünden sein heiliges Bemühen war. In der That hatte er wenigstens den Erfolg, daß Herr und Frau von Dören, die behaupteten, die Kirchenluft sonst nicht vertragen zu können, ihm gestanden, daß seine gütige Art, die ethischen Lehren der Bibel zu erklären, sie wirklich fessele, ja ergreife. Der kleine, stille Mann lächelte dazu, im Leben durfte er sonst nicht viel sagen, hatte auch keine Neigung dafür; aber auf der Kanzel konnte seine Frau[183] nicht dreinreden – da konnte sie seine Milde nicht mit apokalyptischen Dunkelheiten aufmischen.

Die Pastorin verdoppelte in dieser Zeit ihre ohnehin zähe Arbeitskraft, da Severina überhaupt nur morgens und abends noch in der Pfarre gesehen wurde, sonst aber auf Fannys Befehl im Schloß blieb; sie arbeitete der Magd alles noch einmal nach, was diese schon mit besten Kräften gethan, sie nähte und strickte und flickte Kleider und Sachen, die alle hätten bis zum Herbst liegen können, da niemand ihrer benötigte; aber es war ihr Bedürfnis, ja, ihre Wollust, mittags abgearbeitet, außer Atem, über die Lasten ihres Daseins klagen zu können; doch in der tiefsten Arbeitsraserei fand sie immer noch eine Minute, hinaufzuschleichen und bei Magnus einzutreten.

Dieser fuhr dann unwillig und in seiner besten Arbeitsstimmung gestört, mit dem Kopf in die Höhe und fragte barsch, was es gäbe. Sie wolle nur nachsehen, ob er auch ein Gläschen Wein oder ein Brötchen wolle, ob er auch nicht zu viel arbeite, ob er die Rouleaux herabgelassen, damit ihm die Sonne nicht auf das Papier scheine, was seinen kurzsichtigen Augen nicht zuträglich. Magnus seufzte tief, zwang sich zur Geduld mit dieser quälenden Mutterliebe und dankte mit den liebevollsten Worten, die er finden konnte, für ihre Bemühung.

Aber auch am Nachmittag, in Fannys Kreis, verfolgte ihn die Aufsicht der Mutter, eine Aufsicht, die ebenso sehr Eifersucht wie Sorge war.[184]

An kühlen Abenden machte es Magnus wütend, die Mahnung zu hören – vor so viel jungen Damen – er solle den Rockkragen hoch schlagen. An heißen Nachmittagen rief die Mutter ihn aus dem Sonnenschein hinweg, in dem er auf dem Rasen mit den Damen Crocket oder dergleichen spielte; bei Tisch ließ sie ihn, der immer möglichst weit von ihr weg saß, durch den Diener bitten, keinen Gurkensalat zu essen.

Ging er mit einer der Damen allein, konnte er sicher sein, daß seine Mutter ihm nachkam, zumal, wenn diese Dame etwa die lustige Frau von Dören oder Adrienne war; der erstern traute sie zu, daß sie ihr Magnus verführen möchte, die zweite war ihr ganz und gar unsympathisch. Eine Frau, die in der Abwesenheit ihres Mannes tanzt, anstatt in Werken des Kirchendienstes den Panzer zu suchen gegen die Anfechtungen der Welt – entsetzlich! Aber das sah Fanny ähnlich, dergleichen zu dulden. Nie, selbst gegen ihren Gatten nicht, wagte die Pastorin ein Wort über Fanny, aber in ihrem Herzen, ganz heimlich gestand sie sich, daß Fanny keineswegs so vollkommen sei, als jedermann sie pries; es war unleugbar ihre, der Pastorin, Pflicht als Mutter, Magnus gegen diese weltlichen Einflüsse zu schützen.

Wenn Fanny diese kleinen Scenen beobachtete, in denen die ungemäßigte Mutterliebe den jungen Gelehrten quälte, wechselte sie wohl mit dem seufzenden Magnus einen Blick.[185]

»Ja,« sagte Magnus einmal, »leicht ist die Buße nicht, die ich für meinen Leichtsinn trage.«

»Sie wird auch nicht ewig dauern,« tröstete Fanny, »das sehe ich wohl ein, blieben Sie lange beisammen, verlören Sie die kindliche Geduld mit den Schwächen Ihrer Mutter.«

»Es ist ein bißchen zu viel Liebe, die sie mir schenkt,« klagte Magnus.

»Euch Männern ist der Grad einer Frauenliebe nie recht, er ist euch immer zu niedrig oder zu hoch,« scherzte Fanny.

Fräulein von Grävenitz kam zu diesem Gespräch, das Thema, welches Fanny mit ihrer Aeußerung anschlug, war zu interessant für das Fräulein, als daß sie es nicht hätte noch mit Magnus fortspinnen sollen, nachdem Fanny von der eben im Saal erscheinenden Gräfin angerufen worden war.

Fräulein von Grävenitz, die heute eine gelbe Bluse und einen weißen Rock trug, lehnte in malerischer Pose am Flügel, faltete ihre weißen Hände auf der glänzenden Ebenholzplatte desselben und neigte ihr Haupt mit der Goldspange.

»Ach,« sagte sie, »wie klingt es absonderlich in Fannys Mund, das hohe, das eine Wort; in ihrem Herzen, dem vielbegehrten, haben die Männer gewiß immer nur den geringsten Grad von Liebe gefunden, sie ist nicht geschaffen, einem Glück zu geben, sie geht in der Allgemeinheit auf – vor lauter Humanität[186] kann sie keinen Mann lieben, wenn ich dagegen das tiefinnerliche Duldergemüt meiner Adrienne ansehe! Welch ein Schatz von Empfindungen! Wie viel Feuer verbirgt diese sanfte Melancholie!«

»Warum mir das?« dachte Magnus, etwas beunruhigt, denn er war sich wohl bewußt, Adrienne ein wenig »sondirt« zu haben, das heißt, in allerlei Gesprächen über philosophische Sentenzen und poetische Konflikte erforscht zu haben, ob sie in ihrer Ehe unglücklich und auf der Suche nach jemand sei, der sie dafür entschädigen solle.

»Und zu denken,« fuhr das Fräulein schwärmerisch fort, »daß diese zarte Frauenblume am Rande eines Gletschers vegetiren muß!«

Die Pastorin zeigte sich in der Thür.

»Still,« flüsterte Lucy sich selbst zu, denn nur sie hatte gesprochen, »Ihre Mutter! Aber in Ihren Augen lese ich, daß Sie noch gern mehr gehört hätten, suchen Sie heute nachmittag die Gelegenheit, es drängt mich, offen gegen Sie zu sein.«

Magnus hatte ein wenig Herzklopfen, das Fräulein wollte ihn so heimlich und wichtig sprechen? Sie war Adriennens Freundin? Was wollten die Frauen von ihm? Er dachte nach, ob er sich irgendwie in Blick und Ton zu weit vorgewagt und ob er nun eine Strafpredigt empfangen solle. Nein, zu einer Zurückweisung hatte er keine Veranlassung gegeben, er wußte bei alledem, was er Frau von Herebrecht schuldig war.[187]

Eine begreifliche Neugier quälte ihn und veranlaßte ihn, an diesem Tage mehr als sonst Adriennens Nähe zu suchen.

Man hatte eine Ruderpartie beschlossen, die im Abendschein beginnen und beim Mondesleuchten endigen sollte. Der selten schöne Frühherbst lud ein, noch alle Reize zu genießen, die er in diesem Jahr verschwenderisch bot.

Paarweise ging man durch den Park zum Stromufer hinab. Magnus hatte Adrienne den Arm geboten; seit einer Viertelstunde suchte seine Mutter, die mit Taiß ganz zuletzt ging, ihn einmal anzurufen. Der Graf, der wie alle ihre Schwäche kannte und in den Aeußerungen derselben sie zu stören ein Vergnügen fand, ließ sie nicht dazu kommen, bis sie endlich ausrief, sie müsse Magnus etwas von höchster Wichtigkeit mitteilen.

»Magnus – Magnus!«

Unwillig schaute er zurück, trat aus der Reihe und überließ Taiß, der herzueilte, den Arm seiner Dame.

»Was willst Du, Mutter?«

»Ich bitte Dich, Magnus – was hast Du nur den ganzen Tag mit der langweiligen Frau?«

»Also das war die Wichtigkeit, die Du mir mitzuteilen hattest?« rief er mit kaum unterdrückter Heftigkeit; »Du erniedrigst mich vor der ganzen Gesellschaft zum Schulbuben, Mutter, das erträgt kein Mann![188] Du siehst, daß auch andere Männer sich den Damen gesellen – soll mir denn verwehrt sein, was der einfachste Brauch ist? Soll ich etwa wie ein Junge von drei Jahren immer nur Deinen Kleiderzipfel fassen?«

»Ich kann die Frau nicht leiden!« sagte die Pastorin ebenso heftig.

»Natürlich – anstatt vernünftiger Gründe eine persönliche Abneigung als Motiv des Verbotes – das ist rechte Weiberart,« sprach er bitter. »Welcher von den Damen zu huldigen erlaubst Du mir denn?«

Seinen Hohn bemerkte sie gar nicht, sondern antwortete eifrig:

»Von den anwesenden keiner, sie sind allzumal Sünderinnen und mangeln des Ruhms, den ...«

»Nun ist's genug,« fiel Magnus ihr in die Rede; »die Frau existirt überhaupt nicht, der Du meine Aufmerksamkeit gönntest! Du reizest mich so lange, bis ich Dir einmal aus purem Trotz eine Schwiegertochter zuführe, vor der Du Dich bekreuzigst.«

»Magnus, Magnus!« flehte sie angstvoll hinter ihm her, aber er ging sehr rasch, um die Gesellschaft wieder einzuholen, die Pastorin gab es auf und schlich betrübt hinterdrein.

In der allerhöchsten und trotzigsten Erregung, in welcher Magnus sich befand, schlug er nun erst recht einen Ton feuriger Huldigung Adrienne gegenüber an. Wahrhaftig, er bedauerte aufrichtig, daß sie verheiratet sei, sonst hätte er sie, ohne darüber nachzudenken, ob[189] er sie liebe oder nicht, sofort um ihre Hand gebeten, nur um seiner Mutter zu beweisen, daß ein Weib einen Mann in gewissen Dingen nicht bevormunden darf, und sei's gleich die eigene, sonst wahrhaft verehrte Mutter.

Adrienne war im stärksten Grade dadurch beunruhigt, sie sah mehreremale ihre Freundin hilfesuchend an, Lucy Grävenitz drückte ihr dann verständnisinnig die Hand, die drei waren natürlich in dasselbe Boot geraten, in welchem außer ihnen noch Graf Taiß, Frau von Dören und Severina saßen, auch Joachim wollte mit einsteigen, allein Fanny berief ihn zu sich in das andere Boot. Magnus' Eltern blieben zurück, sie hatten die Herrschaften nur bis an das Ufer begleitet.

Fräulein von Grävenitz brannte auf den Augenblick, wo sie Magnus werde unbeachtet sprechen können; sie, die sonst den Mondaufgang laut angeseufzt haben würde, hatte heute keine Augen für die Zauber der Beleuchtung, die schnell vom violetten Dämmerschein zur schwarzen Nacht überging; ja, als dann der rote Vollmond aufging, als zöge eine unsichtbare Hand eine glühende Kupferscheibe in die Höhe, auch da bemerkte die Dame nur tiefsinnig:

»Was sind alle Wunder der Natur gegen die Rätsel einer Menschenbrust?«

Als man endlich wieder landete und Adrienne erleichtert aufatmete, daß sie von dem nahen Beieinander mit Magnus erlöst sei, hielt es Lucy nicht mehr, sie[190] ergriff Magnus' Arm, zog ihn förmlich mit sich fort und schlug einen andern Weg mit ihm ein, als den die übrigen wählten.

»Mein Freund,« begann sie mit bewegter Stimme, »Sie sind erregt, darf ich ahnen, weshalb?«

Magnus fühlte eine innere Wut in sich aufsteigen; wenn die Frauenzimmer doch die Indiskretion lassen wollten, sich mit seinen Gefühlen zu beschäftigen! Erst seine Mutter – nun dieses altjungferliche Fräulein mit dem keuschen Augenniederschlag – zum Henker auch – es schien, als sei Adrienne von Drachen bewacht, seinetwegen von einem ganzen Dutzend; wenn das bißchen Courmacherei ihm zu einem Kardinalverbrechen angerechnet werden sollte, mochte Frau von Herebrecht ihrem Gatten nur gleich nachreisen, dahin, wo der Pfeffer wächst, so sehr ihn die arme, kleine, tyrannisirte Frau auch dauerte.

Da Magnus auf die innige Frage nur etwas Unverständliches murmelte, fuhr das Fräulein fort:

»Teurer Magnus – Sie gestatten in dieser vertrauten Stunde die Anrede – teurer Freund, mäßigen Sie Ihre Verzweiflung, Sie sind geliebt, ich weiß es! Und schon aus schwierigeren Verhältnissen ist die Blume eines wahren Glücks erblüht.«

»Ich – ich – bin geliebt?« stotterte Magnus, von einer unheimlichen Furcht befallen, daß am Ende Lucy selbst ...

»Ja – von ihr – der zarten, holden Adrienne.«[191]

Fräulein Lucy stand im Mondenschein still, hob die dunklen Schwärmeraugen zum Himmel und reichte beide Hände dem fassungslosen Magnus.

Dem war, als sei er verrückt geworden, er war geliebt – von Adrienne – und sie ließ es ihm sagen? Natürlich – von selbst, aus eigenem Sinn hätte er das nie zu fassen gewagt. Wie – so war sie doch eine schöne, trostbedürftige Sünderin? Er verlor den Kopf, welcher junge Mensch an seiner Stelle hätte das nicht gethan?

»Geben Sie ihr das Glück, das sie in ihrer Ehe nicht finden kann – nie finden wird,« sagte Lucy, seine Hände drückend, »in allem Kampf werde ich mit flammendem Schwert euch zur Seite stehen!«

Was wußte Magnus davon, daß es für Fräulein Lucy ein Bedürfnis war, wenn sie nicht selbst etwas erleben konnte – was ja unter den Augen ihres Schwagers ein für allemal ausgeschlossen – wenigstens einen Roman für andere einzufädeln und, als Zuschauer teilnehmend, Kämpfe, Leid, Thränen, Wonne mit zu genießen; er hatte Lucy und Adrienne im vertraulichsten Verkehr gesehen und durfte es glauben, wenn die eine ihm sagte, daß die andere ihn liebe.

»O – ich – mir schwindelt!« stotterte Magnus.

»Fassung, mein Freund, Fassung!« mahnte Lucy milde.

Stumm schritten sie weiter unter der Leitung des Fräuleins, die ihm nur dann und wann die[192] Hand drückte und übrigens wieder dem Hauptweg zustrebte.

Dort fanden sie aber nicht mehr die Gesellschaft, die, durch keinerlei romantische Zwiegespräche aufgehalten, dem Schlosse zugeeilt war, wo jeder in seinem Zimmer noch Gewand und Hände von den etwaigen Spuren der Kahnfahrt befreite. Wenigstens waren Terrasse und Saal vollkommen menschenleer.

Lucy trennte sich von Magnus, dieser ging, noch vollkommen betäubt, unter den Linden einigemale auf und ab, sein Auge suchte Adriennens Fenster, die Thür aus ihrem Wohngemach nach dem Balkon stand auf, es war oben Licht.

Ein toller Gedanke faßte ihn. Wie, wenn sie wüßte, daß Lucy ihm heute abend von ihrer Liebe gesprochen – wenn sie nun wartete auf die Antwort, die er darauf zu geben habe? Der Rausch in ihm stieg.

Zum Unglück hörte er irgendwo aus dem Dunkel die Stimme seiner Mutter »Magnus, Magnus!« rufen, wie auf der Flucht rannte er ins Haus, die Treppe hinauf und klopfte an Adriennens Thür. Niemand war ihm begegnet. Adrienne, die glaubte, daß Lucy komme, rief herein.

Magnus kam über die Schwelle und zog die Thür hinter sich zu.

Adrienne saß in einem der tiefen, hochlehnigen dunkelblauen Stühle, der Schein der Lampe fiel voll auf ihr Gesicht, durch die offene Balkonthür und aus[193] der gleichfalls geöffneten Thür des Schlafzimmers gähnte Dunkelheit.

Sekundenlang starrten sich beide fassungslos an, dann kam der Mann näher, nicht wie ein jubelnder Sieger, sondern wie ein Besinnungsloser.

Er stand vor Adrienne, die wie gelähmt seinem unbegreiflichen Erscheinen und Beginnen zusah; er nahm ihre Hand und murmelte:

»Ist es wahr, ist es wahr?« Dann setzte er sich auf die Lehne des Stuhles, neigte sein Gesicht auf ihr Haar und flüsterte: »Wie verdien' ich das?«

Adrienne schauderte, bog sich zur Seite und fragte mühsam:

»Was – was – beginnen Sie – wie kommen Sie hieher?«

»Ich – ich weiß nicht ... ich wollte ...« und dann kniete er plötzlich neben ihr und sah ihr trunken in die Augen, der Kneifer war ihm entfallen und sein braunes Auge, ohne den Schutz des Glases, hatte einen zudringlichen Blick, der verwirrte wie der Anblick von etwas Nacktem – »Liebe heischen und Liebe geben.«

Sie sprang empor, ein Schrei blieb ihr in der Kehle stecken, sie streckte beide Arme abwehrend aus, ihre Augen wurden unnatürlich groß, sie sahen in das Medusenantlitz der Sünde.

Ein Chaos von Gedanken wirbelte in ihrem Kopf auf; alles, was sie damals in der unglücklichen Zeit ihrer Einsamkeit in fieberdunstigen Büchern von der[194] Süßigkeit der Sünde gelesen, ward in ihr wach, alles, was sie von dem Fluch der Sünde ihr früheres Leben lang gehört und gedacht, erhob sich drohend vor ihr.

Zugleich fühlte sie dieselbe Spannung des Herzens, dieselbe aus Furcht und Stolz gemischte Unruhe, die sie damals empfunden, als Arnold ihr sagte, daß er sie liebe.

Der größte Reichtum aller Lebensempfindungen überwältigt die Frau, wenn sie hört, daß sie geliebt wird, dieser Augenblick erhebt sie zur Königin der Schöpfung und reicht ihr immer wieder die Krone der Jungfräulichkeit zurück.

Adrienne zitterte, aber sie stieß den Mann zurück, der, nicht wissend, was er that, aufs neue in sie eindrang.

Er sprach zu ihr. Was? Sie wußten es beide später nicht mehr.

Sie hatte ihr Angesicht mit den Händen bedeckt und hörte nicht und dachte nicht, aber sie fühlte – fühlte die teuflische Neugier, zu wissen, wie die Sünde schmecke.

Und ob das Leben, das graue, nüchterne, nachher wohl reichern Inhalt habe.

Bleischwer legte es sich auf ihre Seele, daß die Erkenntnis, einmal gewonnen, nicht mit dem Preis des ganzen Daseins wieder rückgängig gemacht werden könne. Und dann kam wieder das schreckliche Gelüst ... sie war ihr so bequem nahe, die reizende Zauberin,[195] die Tausenden und Abertausenden das Leben zum bunten, schimmernden Fest machte, sie brauchte bloß die Hand auszustrecken und die Schleier zu heben.

O, die Neugier, die brennende, dämonische Neugier.

»Adrienne!« beschwor Magnus' Stimme; »Lucy hat es mir ja verraten – sonst hätte ich nie den Mut gefunden.«

Adrienne stand entgeistert, sie fühlte ihr Schicksal auf ihren Lippen, ein Wort, und es würde entschieden sein; ihr war's, als habe sich ihre Seele von ihrem Körper getrennt, ihre Seele floh den Versucher und wußte, daß sie sprechen wollte und sprechen mußte: »Hinweg!« Aber daneben ging in seltsamem Doppelbewußtsein die Gewißheit, daß ihre Lippen, wenn die stummen sich erschlössen, dem flehenden Mann Gewähr sprechen würden.

»Adrienne!« flüsterte er, sich an ihrer äußern Marmorruhe immer toller erhitzend.

Da bewegten sich ihre Lippen, da wollte das Flüsterwort des Verderbens laut werden, und da regte sich's nebenan. Ein lallender Ton – wie ihn Kinder im Schlaf ausstoßen ...

Adrienne schrie auf.

»Mein Kind – Arnold!«

Und mit der Plötzlichkeit, die dem Sprung einer Tigerin glich, stürzte sie auf das Kinderbett zu.

Sie zerrte es heraus, das kleine, schlaftrunkene Wesen, sie trug es zum Licht, legte es in den Stuhl,[196] wo sie selbst vorhin gesessen, kniete vor ihm nieder und las mit gierigen Augen in dem kleinen Gesicht.

Sie sah nicht, daß Magnus erst wie betäubt stand, dann erwachend, vernichtet, reuevoll sich neben sie drängte und ihres Kindes kleine, warme Hand küßte, daß er dann fast taumelnd hinausfloh.

Sie tastete an dem Körper ihres Kindes, ob es auch wirklich sei, sie fuhr mit ihren Fingern über die rundlichen Wangen. Was sie nie gesehen, offenbarte sich ihr plötzlich, Arnolds Züge wiederholten sich in jedem Zug dieses kleinen Gesichtes. Und zum erstenmal seit seinem Abschied stieg, einer jähen Flamme gleich, riesengroß der Wunsch in ihr auf, ihn hier zu haben, jetzt, in diesem Augenblick, seine Verzeihung zu erlangen und von ihm zu hören, daß er sie liebe.

O, welche unbeschreibliche Wohlthat müßte das sein, und ihm dann auch sagen zu dürfen: »Arnold, ich liebe Dich!«

Ihre Lippen sprachen nach, was ihre Brust fast zersprengte. Das nie gesagte, das von Arnold vergebens ersehnte, hörten jetzt die stillen Wände:

»Arnold, ich liebe Dich!«

Und sie erschrak über sich, als hätte sie Irrsinniges gethan, sah bang das Kind an, und mit einemmale löste sich die brennende Unruhe in einem unermeßlichen Thränenstrom. Sie legte ihr Haupt neben dem Kind auf das Polster und weinte und weinte eine ungemessene Zeit.[197]

Und diese Thränen flossen als unüberbrückbarer Strom zwischen ihrem frühern und ihrem neuen Sein.

»Adrienne!« rief eine Stimme – eine tiefe, wohllautende Stimme.

Adrienne sprang auf und warf sich an Fannys Brust, wieder kam ihr Fanny als Erlöserin.

»Was hast Du?« fragte Fanny tief besorgt; sie hatte die junge Frau unten vermißt und kam, sie zu suchen.

»O, wäre Arnold hier!« klagte Adrienne weinend.

»Dieser Wunsch macht mich glücklich, ich höre ihn zum erstenmal!« sprach Fanny.

Die Weinende drückte sich fester an sie.

»Ist irgend etwas vorgegangen, das Dich zur Erkenntnis führte, er sei Dein Stab und Deine Stütze?« fragte Fanny weiter.

Stärkeres Weinen war die Antwort.

Plötzlich erinnerte sich Fanny, daß unten Magnus aller Welt durch seine Leichenblässe aufgefallen war, aber Fragen nach seinem Befinden mit erzwungener Heiterkeit abwehrte. Und hatten nicht die Grävenitz, Magnus und Adrienne immer zusammengesteckt?

Kaum entstand der Verdacht, daß die Erregung Adriennens von dieser Seite angefacht sei, so hatte Fanny schon einen Entschluß gefaßt, der armen jungen Frau in der Krisis beizustehen, ohne sie durch zudringliche Fragen zu beschämen.

»Nun, Herzchen,« sagte sie im leichtesten Ton,[198] »beruhige Dich; das beste Mittel gegen Heimweh ist dies: schreibe Deinem Mann einen langen, langen Brief und schütte ihm Dein Herz aus, er liebt Dich so sehr – freilich, er sagt es nicht – aber Du weißt es ja doch; schreibe ihm und bleibe heute abend oben.«

Fanny wußte doch immer das rechte Wort zu sagen. Dankbar, in Liebe zu ihr aufwallend, umarmte Adrienne die Schwägerin.

Fanny ging sehr ernst und langsam hinunter, trat dann aber völlig wie sonst in den Saal ein und sagte, daß Frau von Herebrecht nicht wohl sei; später nahm sie Magnus beiseite.

»Apropos, Magnus, Sie erinnern sich doch, daß Sie sich mir sozusagen mit Leib und Seele verkauft haben?«

Magnus wußte nicht, was er von diesem Scherz denken sollte, denn er zitterte seit dem Augenblick, wo Fanny zu Adrienne gegangen war.

»Allerdings,« sagte er, mühsam ebenfalls einen scherzenden Ton findend, »ich bin Ihr Schuldgefangener; der Turm, in den Sie mich sperrten, ist weit genug, aber heimliche Ketten sind doch darin. Wäre nur erst der Augenblick da, wo ich meine Arbeit vollendet und das Honorar habe, um den Schein aus Ihrer Hand zu lösen.«

»Was denken Sie,« sprach Fanny, ihn lustig ansehend, »wenn ich so wenig Wert auf Ihre Gegenwart in Mittelbach lege, daß ich Ihnen jetzt den Schein schenke unter der Bedingung, daß Sie morgen reisen?[199] Unhöflich – was? Aber ich meine, hier haben Sie zu viel Abhaltung von der Arbeit.«

»Hat Frau von Herebrecht meine Entfernung gewünscht?« fuhr es Magnus heraus, der Angstschweiß stand ihm auf der Stirn.

»Also richtig!« dachte Fanny. »Adrienne? Nein,« sagte sie unbefangen, verwundert; »was hätte sie, die an allen meinen Freunden leider nur zu teilnahmlos vorübergeht, an Ihrem Bleiben oder Reisen für ein Interesse? Nun, was denken Sie? Sie sind beleidigt, daß ich Sie hier entbehrlich finde?«

»Ich denke,« sprach Magnus, aufatmend und Fanny voll in das kluge Gesicht sehend, »daß Sie mit Menschen umherschieben wie ein Theaterdiener mit Dekorationsstücken, aber Sie verstehen die Kunst, und es scheint, Sie haben immer recht und wissen immer alles, wenn Sie es gleich nicht gestehen. Ich gehe, wohin ich soll, ich nehme meinen Schuldschein zurück, wenn Sie es so wollen, das sind, ich weiß es, für Sie kleinliche Nebensachen; machen Sie meinen Eltern meine Reise und die Notwendigkeit dazu klar. Und ich habe ein Neidwort für Sie – es möchte ein weniger Aufrichtiger in einen Segenswunsch zum Abschied kleiden: Sie sind so klug und klar für andere, beneidenswerte Frau, und haben für sich selbst kein Klugsein nötig, bleibe Ihnen das!«

Fanny fühlte sich durch seine letzten Worte sehr bewegt und konnte sich das nicht erklären.[200]

Adrienne aber saß und schrieb bis tief in die Nacht hinein einen Brief an ihren Gatten, und dabei erging es ihr seltsam. Arnold, der ernste Mann, der sie allezeit mit seinen »vernünftigen Worten« geplagt, verschwand vor ihr wie ein Schatten, die plötzlich geborene Sehnsucht hatte ihr in unbestimmten Umrissen einen Mann vorgezaubert, der so gütig war, alles zu verstehen, und so stark, alles zu verzeihen, und so liebevoll, ihr ganzes, begehrliches, ungesättigtes Herz zu füllen. Das Bedürfnis ihrer Seele, in dieser Stunde der Gefahr ganz in einer andern, vollkommenen Seele aufzugehen, um sich blind zu machen gegen Neugier und Versuchung, dies Bedürfnis war der Schöpfer ihrer jäh erwachten Liebe zum fernen Gatten.

Ein Gefühl, so trügerisch und haltlos wie ein Irrlicht und dennoch ein Licht in der Nacht.

So war alles, was sie schrieb und was aus ihrem Innern sich unwiderstehlich herausdrängte, eigentlich nicht an Arnold gerichtet, es war ein Selbstgespräch oder eine Phantasie an ein Trugbild.

Und doch, wenn die Fieberspannung dieser Stunden gewichen sein wird und die Blätter mit den heißen Geständnissen hinfliegen über den Ozean, dann wird als Erinnerung das Bewußtsein bleiben, wie die Aussprache zu ihm alle Not beendigte, und das Flackerfeuer der plötzlichen Liebessehnsucht wird doch tief im Herzen Funken zurücklassen, und mälich, mälich wird[201] sich daran die wahre, unauslöschliche Flamme echter Liebe entzünden.

Denn der jungen Frau ist es ergangen wie dem Ungläubigen, der in der Stunde der Todesnot zu Gott betet: seitdem weiß er, daß bei ihm und in ihm aller Trost ist, und er sucht ihn nachher von freien Stücken.[202]

Quelle:
Ida Boy-Ed: Fanny Förster, Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien 1889, S. 183-203.
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