Sechster Auftritt.

[44] Quinault allein.


QUINAULT. Welch ein Rätsel in der Brust dieses Menschen? – Unter welch seltsamen Verhältnissen trafen sie im Leben zusammen, die stolze Marquise und Narziß, der Bettler?[44] – Denn ein Zusammenhang zwischen ihnen muß stattfinden, das fühlte die schlaue Epinay auch, das scheint auch Prinz Conti vorauszusetzen, denn er hält es für wichtig, Narziß verborgen zu halten und seine Vergangenheit zu erforschen. – Aber kann's denn sein? – Nein, nein! –Das einzig Mögliche wäre, daß er mit d'Etiolles, dem verlassenen, verstorbenen Gatten dieses Weibes, eine Ähnlichkeit, und diese Ähnlichkeit sie auf dem Boulevard erschüttert hätte. – Ja, nur so bringe ich Vernunft und Zusammenhang hinein. Kurze Pause. – Sein unglücklicher Charakter, allen anderen so lächerlich, hat für mich ein so namenloses Wehe, so etwas unendlich Rührendes, daß ich alles daran zu setzen imstande wäre, dieses verkommene Talent, diesen aus seinen Gleisen getriebenen Stern, diesen Demant in schmutziger Hülle ans Licht zu ziehen, ihn allem Guten und Schönen, was den Menschen über sich selbst erhebt, entgegenzuführen. Pause. Schon so spät und vom Prinzen Conti noch keine Nachricht! – Was mag Saint-Lambert bei Choiseul erreicht haben? – Kurze Pause. Wie dieser unselige Kampf der Koterien enden soll, mag Gott wissen. – Ach, ich fühle sehr wohl, daß auch ich ein Werkzeug in den Händen meiner Partei geworden bin. Ich gehe mit verbundenen Augen einer Katastrophe entgegen, die mein ganzes Leben umgestaltet. Aber es sei! – Allvater über den Sternen, du siehst mein Herz, du kennst meine Gedanken, du magst mich richten, wenn in der Stunde der Gefahr ich die Sache meiner Herrin vergesse! Sie hebt die Hände wie zum Gebet gefaltet.

NARZIß tritt durch die linke Seitentür ein.


Quelle:
Albert Emil Brachvogel: Narziß. Leipzig [o.J.], S. 44-45.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Narziß
Narziß