|
[203] Wer Schmeichelns halb und um Drohworte
Die Wahrheit bringt zum dunkeln Orte,
Der klopft dem Endchrist an die Pforte.
Ein geistlicher Narr auf der Kanzel legt den Finger auf den Mund zum Zeichen, daß er schweigen will, weil aus der Zuhörerschaft ihm mit Stöcken und Schwertern gedroht wird. Einige Frauen und ein Narr auf der Kanzeltreppe sitzen und schlafen.
Der ist ein Narr, der sich verkehrt
In seinem Geist, so man anfährt[203]
Und mit Gewalt ihn zwingen will,
Daß er von Wahrheit schweige still
Und Weisheit unterwegen lasse
Und wandeln soll der Thorheit Gasse,
Auf welcher ohne Zweifel fährt,
Wer sich an solche Drohung kehrt.
Denn Gott ist doch auf seiner Seiten
Und schirmet den zu allen Zeiten,
Der von der Wahrheit sich nicht scheidet,
So daß zu keiner Frist ausgleitet
Sein Fuß. Wer in der Wahrheit bleibt,
Bald alle Feinde von sich treibt.
Ein Weiser stimmt der Wahrheit zu,
Selbst wenn er sähe Phalaris' Kuh.
Wer nicht kann bei der Wahrheit stehn,
Der muß den Weg der Thorheit gehn.
Thät Jonas zeitig Wahrheit kund,
Verschluckt' ihn nicht des Fisches Schlund;
Die Wahrheit hoch Elias pries
Und fuhr darum ins Paradies;
Johannes floh der Narren Haufen,
Drum ließ sich Christus von ihm taufen.
Wer einen straft mit sanftem Muth
Und dieser nimmt's nicht gleich für gut,
So wird doch wol die Stunde kommen,
Wo dieser merkt, es sollt' ihm frommen,
Und größern Dank für Scheltwort sagt
Als für Geschwätz, das ihm behagt.
Daniel Geschenk nicht nehmen wollte,
Als er Belsazar sagen sollte
Und ihm die Wahrheit legen aus;
Er sprach: »Dein Geld bleib deinem Haus!«
Der Engel hinderte Bileam
Darum, daß er die Gaben nahm
Und wollte nicht die Wahrheit ehren;[204]
Drum mußte sich sein Wort verkehren,
Der Esel strafen den, der ritt.
Zwei Dinge mag man bergen nit,
Und ewig schauet man das Dritt':
Eine Stadt gebauet auf der Höhe,
Einen Narrn, er stehe, sitze, gehe,
Kennt man nach Wesen und Bescheid;
Wahrheit sieht man in Ewigkeit,
Die wird fürwahr nie werthlos sein,
Und wenn sich Narren den Hals abschrein.
Wahrheit ehrt man durch alle Lande;
Der Narren Freud' wird Spott und Schande.
Man rannte mich gar oftmals an,
Als ich dies Schiff zu baun begann,
Ich sollt' es doch ein wenig färben,
Und nicht mit Eichenrinde gerben,
Sondern mit Lindensaft auch schmieren,
Etliche Dinge drin glossiren;
Aber ich ließ' sie alle erfrieren,
Eh Andres ich als Wahrheit schriebe.
Ich weiß, in Ewigkeit die bliebe
Und würde ihr Wesen dennoch treiben,
Thät ich auch nicht dies Büchlein schreiben.
Denn Wahrheit ist stärker als alle, die
Mich wollen verleumden oder sie.
Wenn ich mich hätte daran gekehrt,
So hätt' ich die Zahl der Narren vermehrt,
Mit denen mein Schiff jetzt stattlich fährt.
Ausgewählte Ausgaben von
Das Narrenschiff (Ausgabe 1877)
|
Buchempfehlung
Ein lange zurückliegender Jagdunfall, zwei Brüder und eine verheiratete Frau irgendwo an der skandinavischen Nordseeküste. Aus diesen Zutaten entwirft Adolf Müllner einen Enthüllungsprozess, der ein Verbrechen aufklärt und am selben Tag sühnt. "Die Schuld", 1813 am Wiener Burgtheater uraufgeführt, war der große Durchbruch des Autors und verhalf schließlich dem ganzen Genre der Schicksalstragödie zu ungeheurer Popularität.
98 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro