[120] Macht der Gewohnheit über die Eindrücke der Natur. Kraft des Neuen und Ungewohnten, das Gemüthe zu rühren. Das Neue eine Mutter des Verwundersamen. Verknüpfung des Neuen mit dem Wahren. Hierinnen bestehet das poetische Schöne. Das Wunderbare ist der höchste Grad des Neuen. Die Natur ist ein unerschöpflicher Brunnen des Neuen, worinnen man beständig zu schöpfen findet. Das Kleine ist so verwundernswürdig als das Grosse, wenn es ungewohnt ist. Longinus wird hierüber erkläret. Nothwendigkeit und Gebrauch des kleinen in der Natur. Wie das poetische Auge in etwas kleinem solche Schönheit sehen kan, die dem cörperlichen Gesicht verschlossen ist. Die Neuheit lieget nicht in den Sachen, sondern in den Begriffen. Die Dichtung ist die reichste Quelle des Neuen, und mittheilet sich den meisten. Das poetische Schöne ist an keine Zeit und an keinen Ort angebunden. Der Poet muß sich nach den Landes-Gewohnheiten richten. Lob der Wahl der Materie von dem verlohrnen Paradiese in Absicht auf die unveränderlichen Gebräuche der Personen, so darinnen vorkommen.
Ich muß hier wiederholen, was ich in dem vorhergehnden Abschnitte über die Wahl der Materie angemercket[120] habe, nemlich, daß die Absicht der Natur bey denen verschiedenen Eindrücken, so sie durch ihre Vorstellungen auf das menschliche Gemüthe machet, zweyfach sey; eine daß sie dasselbe durch die Schönheit ihrer todten Werke aufmercksam mache, und sein Verlangen nach Wissenschaft durch einen lehrreichen Unterricht befriedige; eine andere, daß sie sein Gemüthe durch starcke und heftige Eindrücke rühre, an sich ziehe, und dadurch angenehm beschäftigt halte; wobey ich ferner gezeiget habe, daß in diesen beyden Würckungen der Grund alles desjenigen Vergnügens zu suchen sey, welches die Natur und die künstliche Nachahmung derselben zuwegebringet. Dieser Anmerckung gemäß müßte nun die glückliche Nachahmung der Wercke der Natur nothwendig eine von besagten beyden Würckungen thun, und das Gemüthe nach der einen oder der andern Weise mit einem empfindlichen Ergetzen anfüllen. Dieses würde in der That also geschehen, wenn nicht auf Seite des Menschen die betäubende Gewohnheit diesen Würckungen allen Zugang und Einfluß in das Gemüthe versperrete. Die Macht dieser Gewohnheit ist so groß, daß sie die Sinnen bindet, uns aller Empfindung beraubet, und in eine achtlose Dummheit versenket; so gar, daß uns weder das Schöne noch das Grosse, weder das Lehrreiche, noch das Bewegende im geringsten rühren kan, wenn es uns täglich vor Augen schwebet, und wir mit ihm allzu sehr bekannt werden. Die lieblichste Aussicht verliehret durch die Gewohnheit alle Annehmlichkeit für uns; ein Bootsmann, der des Meers gewohnt ist, höret das Toben der ergrimmten See und das Brausen der Wellen mit fast gleichgültigem Gemüthe an; einem wohlgeübten Kriegsmann ist das Gebrülle der Carthaunen, das Metzeln, und die Verheerung eine Kurtzweil; die Erschütterung der Erden wird von den Nachbarn des Vesuvius nicht sonderlich geachtet; ja die Gewohnheit machet uns nicht selten so unachtsam, daß wir auch die grösten Wunder[121] der Natur nichts achten. Unser Opitz beklaget solches in seinem Vesuvius:
Dieß alles ist Natur: Wir aber sind so gar
Geblendet und verstockt, daß wir in allen Wercken
Des weisen Schöpfers Macht und Ordnung nimmer mercken,
Als wenn was neues sich, wie schlecht es auch mag seyn,
Für unsern Augen zeigt. Wie herrlich ist der Schein
Der edeln Sonne doch; noch wirfft man das Gesichte
Gar selten zu ihr auf! Wenn aber ihrem Lichte
Ein trübes Finsterniß wird in den Weg gesezt,
Da läuft der Pöbel zu, da wird es hoch geschäzt,
Und furchtsam angeseh'n. Wir armen Leute pflegen
Mehr etwas, welches fremd, als groß ist, zu erwegen:
Und da was untergeht, so zittern wir dabey,
Als ob nicht alles hier bey gleichem Rechte sey,
Was unterm Himmel ist.
Das ist es, was Longinus in der fünf und dreyssigsten Abtheilung vom Erhabenen mit diesen Worten will zu verstehen geben: εὐπόριστον μὲν ἀνϑρώποις τὸ χρειῶδες ἢ καὶ ἀναγκαῖον, ϑαυμαστὸν δ᾽ ὅμως ἀεὶ τὸ παράδοξον; »Was die Menschen zu ihrem nothwendigen und täglichen Gebrauche vonnöthen haben, das hat gemeiniglich nichts erhabenes an sich, angesehen es nichts seltenes, sondern leicht zu bekommen ist: Hingegen ist das Ausserordentliche allezeit verwundersam.« Die Erfahrung hat diese Wahrheit genugsam bestätigt; das blosse Anschauen einer blühenden Aloe, eines Crocodils, eines Elephanten, kan uns mit einer angenehmen Bewunderung überraschen; die Erzehlungen von den Geschichten, Gebräuchen und Gewohnheiten der ältesten Völcker, die auf Erden gewohnet haben, bringet uns ein besonderes Vergnügen, und unsere Neugierigkeit versiehet[122] uns mit so viel Gedult und Fleiß, als vonnöthen ist, den kleinsten Umständen in ihren Gebräuchen mit der beschwerlichsten Mühe nachzuforschen; die Beschreibungen der Reisen zu den entlegensten Völkern des Erdbodens sind unser angenehmster und beliebtester Zeit-Vertreib. Mit was für Ergetzen vernehmen wir die seltzamen Zeitungen, welche uns die Sternseher und übrigen Schüler der Natur von den entferntesten himmlischen und andern Cörpern, von ihrer Ordnung, Grösse, Anzahl, Beschaffenheit, und von des Schöpfers weisen Absichten mit denselben, gebracht haben! Was zeiget uns nun dieses alles? Daß nicht alles, was natürlich und wahr ist, die Kraft habe, die Sinnen und das Gemüthe auf eine angenehm-ergetzende Weise zu rühren und einzunehmen, sondern daß diese Gabe alleine dem Neuen, Ungewohnten, Seltzamen, und Ausserordentlichen zukomme; zumahl da auch das Schöne, das Grosse und Verwundersame selbst uns ohne den Schein der Neuheit nicht bewegen kan. Also ist es nicht genug, daß die Schildereyen eines Poeten auf die Wahrheit gegründet seyn, wenn diese nicht mit einer ungemeinen und ungewohnten Neuheit gepaaret gehet. Das poetische Wahre ist der Grundstein des Ergetzens, weil das Unnatürliche und Unmögliche uns niemahls gefallen kan: Aber die Neuheit ist eine Mutter des Wunderbaren, und hiemit eine Quelle des Ergetzens. Selbst die philosophische Wahrheit, die auf die Erleuchtung des Verstandes zielet, kan uns nicht gefallen, wenn sie nicht neu und unbekannt ist; niemand läßt sich gerne immer vorsagen, die Sonne mache helle, die Menschen können sterben, und s.f. Und aus dieser Ursache hat die Fabel schon in den ältesten Zeiten ihren Ursprung bekommen, weil man nemlich bedacht seyn müssen, dem Menschen durch dieses Mittel die nützlichsten, aber zugleich bekanntesten moralischen Wahrheiten auf eine angenehme Weise beyzubringen. Wahrhaftig, nichts zeiget deutlicher daß das Wunderbare allemahl[123] angenehm ist, als der Fleiß, den ein jeder, der etwas erzehlet, anwendet, die Wahrheit aufzuputzen, und ihr einen Zusatz zu geben, damit sie den Zuhörenden desto gefälliger werde, wie Aristoteles in seiner poetischen Kunst angemercket hat.
Wenn ich demnach sage, daß das Neue und Ungemeine die einzige Quelle des Ergezens sey, welches die Poesie hervorbringet, so begreiffe ich unter diesem Titel des Neuen alles dasjenige, was nicht durch den täglichen Gebrauch und Umgang bekannt und gewohnt, und daher auch in dem Wahne der Menschen gering und verächtlich worden ist; hiemit alles, was selten gefunden wird, was der Zeit oder des Orts halber von unserer Einsicht allzuweit entfernet ist, was mit unsern Begriffen, Sitten und Gewohnheiten nicht übereinstimmet, und eben durch seinen fremden Aufzug die Sinnen kräftig einnimmt, und eine aufmercksame und angenehme Bewunderung in uns verursachet. Da wir nun alles, was uns gefällig ist und uns belustiget, schön zu nennen pflegen, uns aber nichts gefällig seyn, noch uns belustigen kan, als was auf die Wahrheit gegründet und dabey neu ist, so sehen wir zugleich, worinnen das poetische Schöne bestehet, nemlich, es ist ein hell leuchtender Strahl des Wahren, welcher mit solcher Kraft auf die Sinnen und das Gemüthe eindringet, daß wir uns nicht erwehren können, so schwer die Achtlosigkeit auf uns lieget, denselbigen zu fühlen; es ist unsere angebohrne vorwitzige Begierde nach Wissenschaft, mit einem Abscheu gegen alle Unwissenheit vergesellschaftet. Wie nun eine jede Begierde ein angenehmes Vergnügen hinterläßt, wenn sie des vermeinten Gutes, wornach sie sich sehnet, theilhaftig wird, also wird auch unser Verlangen nach Wissen niemals ohne Ergetzen gespeiset. Je neuer demnach, je unbekannter, je unerwarteter eine Vorstellung ist, desto grösser muß auch das Ergetzen seyn. Nun aber kan nichts neueres seyn, als das Wunderbare, das uns durch das blosse Ansehen entzücket[124] und mit Verwunderung anfüllet, und folglich ist auch nichts angenehmer. Wenn die Sache, die mir der Poet oder der Mahler vorstellet, der Zeit oder des Ortes halben von mir entfernet ist, so werde ich ihnen verbunden, wenn sie mir dieselbe durch ihre Kunst herbeybringen, daß ich sie als mit meinen Augen betrachten und bewundern kan, dermassen, daß ich ungeachtet der Entfernung des Ortes und der Zeit die seltzamen Schicksale des Ulysses, des Eneas, des Ödipus, die Belagerung der Stadt Thebe, den Brand Troiens, die Sachen und die Personen vor mir gegenwärtig habe, sie handeln und reden höre, fast auf die Weise, wie mir die äusserlichen Sinnen solche hätten sehen und hören lassen, wenn ich zu derselben Zeit und auf demselben Platz zugegen gewesen wäre.
Was jezo die Wahl und Erfindung neuer Sachen und Wahrheiten angehet, die uns durch den blossen Vortheil ihrer Neuheit einnehmen und gefallen können, so muß man sich nicht einbilden, daß diese Quelle des Schönen und Neuen zu unsern Zeiten gäntzlich verseuget oder sonst erschöpfet sey; viel weniger muß man sich bereden lassen, daß der nach neuem begierige und erpichte Fleiß des Menschen in der Zeit von etlichen Jahrtausenden schon alles erdacht und erfunden habe, was sich hat sagen lassen, so daß nichts mehr zurücke, und uns nichts als der Ruhm geschickter Übersetzer übrig geblieben, wie jener in Terentzen Comödie geglaubt, der gesagt hat:
Nihil dictum est, quod non dictum sit prius.
Denn die Natur ist in ihrem Vermögen unerschöpflich und in dem Fleiß ihrer Arbeit gantz unermüdet, das Reich der Natur ist so geraum und weitläuftig, hingegen sind die menschlichen Sinnen so blöde und eingeschränckt, daß auch die allergröste Fertigkeit des menschlichen Geistes viel zu schwach ist, den Reichthum der Natur in ihrem unbegräntzten Umfange nur mit den[125] Gedancken zu ermessen, geschweige durch die Nachahmung zu erschöpfen. Die blosse Einbildung von der Möglichkeit ihrer Erschöpfung leget das deutlichste Zeugniß von der hochmüthigen Unwissenheit dessen ab, der sie heget, und giebt eine nicht geringere Vermessenheit zu erkennen, als jenes Knaben, der das Welt-Meer in eine kleine an dem Ufer ausgescharrete Grube abzuzapfen vermeinete. Der nachforschende Fleiß der Menschen wird in dem Reiche der Natur immer neue Materien finden, seine Neugierigkeit zu speisen, und je tiefer er in ihre Geheimnisse eindringet, je lebendiger wird er den unerschöpflichen Abgrund derselben erkennen, und sich tausendmahl eher müde als satt sehen. Wie leicht würde man sich z.E. bereden lassen, die Natur müßte in der verschiedenen Bildung des menschlichen Angesichts nunmehr alle ihre Kunst erschöpfet haben, und es könnte künftighin unmöglich mehr ein Mensch gebohren werden, der nicht einem andern, so vor ihm gewesen ist, vollkommen gleich aussehen müßte, wenn uns nicht die Erfahrung ein anders zeigte? Es ist auch so ferne, daß der Vortheil, welchen diejenigen genossen haben, die vor uns gewesen sind, uns den Muth zu neuen Unternehmungen beschneiden sollte, daß uns vielmehr ihr Exempel aufmuntern und uns die gute Zuversicht beybringen kan, wenn wir diesen Riesen auf die Schultern stehen, werden wir noch viel weiter sehen können, als sie gesehen haben. Wenn diese faule und Arbeit-scheue Zaghaftigkeit jene Römischen Dichter, welche in allen Theilen der Wohlredenheit die vollkommensten Muster der Griechen vor ihnen gehabt hatten, eingenommen hätte, oder wenn noch in den jüngst vergangenen Zeiten Moliere, Corneille, Racine, Boileau, Milton, Pope, Opitz, Haller, sich durch dergleichen Wahn hätten niederschlagen lassen, wo wären ihre berühmten und unsterblichen Wercke, die kein Rost der Zeiten jemahls verzehren wird? Ja was noch mehr ist, man beliebe sich vorzustellen, wie sehr[126] nur seit Opitzens Zeiten die Künste und Wissenschaften durch den scharfsinnigen Fleiß grosser Geister in allen absonderlichen Theilen gestiegen sind, und erweitert worden; welches uns in Ansehung der Materie der Nachahmung einen unbeschreiblichen Vortheil über die Alten ertheilen würde, wenn wir nicht zu langsam und ungeschmeidig wären, uns dessen zu bedienen. Da also die Geheimnisse der Natur, und hiemit die Minen des verwundersamen Neuen in den Schriften unsrer heutigen Weltweisen aufgeschlossen vor Augen liegen, so bleibet mir nichts mehr übrig, als diejenigen, die sich über den Pöbel unsrer heutigen Meister-Sänger und Reim-Bezwinger erheben wollen, aufzumuntern, daß sie sich aus diesen Castalischen Brunnen berauschen. Es gilt auch hier:
– – – – Cui lecta potenter erit res,
Nec facundia deseret hunc nec lucidus ordo.
Und was Phäder von den Esopischen Fabeln gesagt hat, können wir mit eben so viel Recht von der Materie aller anderer Gattungen Gedichte sagen:
Materia tanta abundat copia
Labori faber ut desit, non fabro labor.
Wer solches in Ansehung der Tragödie und der Comödie ausgeführet lesen will, der sehe Dübos critische Betrachtungen über die Poesie und die Mahlerey nach, in dem sieben und zwanzigsten Abschnitte des ersten Th. Ich habe mir zuweilen in Gedancken vorgestellet, was vor unbeschreibliche Vortheile ein heutiger Lucretius nur mittelst der rohen Materie seines Gedichtes durch die blosse Neuheit und Seltzamkeit seiner Vorstellungen dem römischen Poeten abgewinnen könnte, und die Versuche, welche die deutschen Poeten einige Jahre daher, durch das Exempel des geschickten Hrn. Brockes[127] aufgewecket, in dieser Art Gedichte an das Licht gestellet haben, machen die Hoffnung bey mir rege, daß die Tage nicht mehr ferne seyn, die uns einen Poeten hervorbringen werden, der sich die bedeuteten Vortheile rechtschaffen zu Nutze machen, und dadurch sich über den Ruhm der Alten hinaufschwingen wird. Dieses, was ich von meinen Landsleuten erst hoffe, können die Engelländer an dem vortrefflichen Gedichte ihres berühmten Pope auf den Menschen würcklich aufweisen, welches sie in Absicht auf die Neuheit der Materie allen dogmatischen Gedichten der Alten mit Recht vorziehen dörfen.
Diese allgemeine Betrachtung des poetischen Schönen, Neuen und Wundersamen, welches dem Wahren alle Kraft und Stärcke, auf das menschliche Gemüthe einzudringen, mittheilet, muß ich nun mit einigen absonderlichen Anmerckungen begleiten, damit ich meine Gedancken in ein klares Licht setze, und gegen allen Widerspruch verwahre. Ich erkläre mich demnach zum ersten, daß ich diese entzückende Anmuth und verwundersame Kraft der Neuheit allerley Dingen ohne Unterschied ihrer Grösse oder Kleinigkeit beylege. Es scheinet zwar, daß alleine das Hohe und Grosse verwundernswürdig sey, und es hat das Ansehen, als wenn Longinus in der fünf und dreyssigsten Abtheilung vom Erhabenen dem Kleinen das Vermögen, eine angenehme Verwunderung in der Brust zu erwecken, abschlagen wolle, indem er sagt: »Das Hohe und Schöne behält in allem die Oberhand; deßwegen bewundern wir, gleichsam aus einem natürlichen Triebe, niemahls kleine Bäche, sie mögen auch noch so klar und nützlich seyn; wohl aber den Nil, die Donau, den Rhein, und um so viel mehr den grossen Ocean: So wird auch ein Feuer, das wir selbst angesteckt, ob es gleich beständig helle leuchtet, nicht so sehr von uns bewundert, als jene grossen Lichter am Himmel, ob sie gleich zuweilen verdunckelt werden: Wie wir dann nicht weniger die Öfnung des Berges Ätna bewundern,[128] durch dessen Schlund aus dem innersten Abgrunde grosse Steine nebst gantzen Felsen-Stücken geworffen, und feurige Schwefel-Ströhme ausgegossen werden.« Nun will ich in der That gerne einräumen, daß das Grosse in Vergleichung mit dem Kleinen von einer gleichen Art einen weit stärkern Eindruck auf die Sinnen mache, und alleine die Kraft habe uns in Erstaunen zu setzen, zumahl da wohl bekannt ist, daß ein stärckerer Eindruck den schwächern allemahl auslöschet; welches eben das ist, was Longinus mit den angeführten Beyspielen beweisen wollte: Mit dem allem aber ist es so fern, daß das Grosse vor sich selbst eine genugsame Kraft haben sollte, Verwunderung zu erwecken, daß es so wohl als das Kleine alle Kraft gar verliehret, wenn es nicht neu und ungewohnt ist. Der tägliche Auf- und Untergang der Sonnen rühret uns ohne Vergleichung minder, als die Erscheinung eines Cometen oder einer feurigen Luft-Geschichte, und eine prächtige Erleuchtung von Kertzen bringet uns, wenn sie uns ungewohnt ist, mehr Ergezen, als eine Nacht, die von dem leuchtenden Monde und dem gantzen Sternen-Heer helle gemachet wird. Und auf diese Weise hat auch derjenige Unbekannte den Sinn des Longinus verstanden, der in der Überschrift dieser Abtheilung den Innhalt derselben mit denen Worten begriffen hat, τὸ μέγα, οὐ τὸ κοινὸν ϑαυμάζεται, sonst würde er dem Kleinen das Grosse entgegen gesetzet haben; zumahl da das Grosse nicht weniger als das Kleine κοινον, gemein und gewöhnlich seyn kan. Das Kleine ist in der Schöpfung eben so nothwendig, als das Grosse, und dienet so wohl zu der Harmonie des Gantzen als dieses, ja dieses heisset nur in Vergleichung mit dem Kleinen so; es wäre nichts grosses, wenn nichts kleines wäre, jenes bestehet aus diesem. Zudem ist die Natur in dem Kleinen eben so groß und wunderbar als in dem Grossen; Rerum natura nusquam magis quam in minimis tota, sagt Plinius im eilften B. seiner Historie der Natur;[129] und in der Vorrede zu dem sieben und dreyssigsten B. In arctum coacta rerum naturæ majestas multis nulla sui parte mirabilior. Ja ein Reaumüre findet in dem Kleinen noch weit mehr Kunst, als in dem Grossen. Die Saft-Kügelgen, welche in den Insecten ihren Circkel-Lauf durch alle die kleinen Lebens-Gefässe derselben fortführen, düncken ihn der Bewunderung besser würdig, als die Bewegungen der himmlischen Sphären. Da die Poesie eine Nachahmung der Schöpfung ist, muß das Kleine eben so wohl als das Grosse seinen Platz darinnen haben. Es gehöret nur die Sorge dazu, daß es am rechten Orte und im gehörigen Licht gesetzet werde, welches einen gesunden Verstand, der mit einem gewissen Vorsatz schreibet, und weiß, was vor Eindrücke er an jedem Ort auf das Gemüthe machen soll, und was vor Sinnbilder solches zuwegebringen, nicht schwer ankommen wird.
Aristoteles gehet noch weiter, und verneinet in dem vierten B. seiner Sittenlehre ausdrücklich, daß das Kleine könne schön genennet werden: »Die Großmuth«, sagt er, »bestehet in der Grösse der Seelen, eben wie die Schönheit in einer gemessenen Grösse des Leibes. Junge Leute können, wenn sie klein sind, wohl artig und wohlgemacht, aber nicht schön genannt werden.« Und in seiner Poetick will er weder dem allzu grossen noch dem allzu kleinen den Nahmen des Schönen zugestehen. »Nichts allzu kleines kan schön seyn«, sagt er im siebenden Cap. § 5. »weil das Gesicht sich in einer Sache verliehret, von der man einen schier unvermerckten Blick einnimmt. Auch nichts allzu grosses kan schön seyn, weil man es nicht auf einmahl übersiehet, und indem man seine Theile nach und nach, einen nach dem andern, siehet, den Begriff von dem Gantzen verfehlet, wie wenn man ein Thier zehntausend Stadia groß übersähe.« Aus diesem könnte nun jemand den Schluß ziehen wollen, daß hiemit auch in der Poesie das Schöne und Verwundersame weder bey allzu grossen, noch bey allzu kleinen[130] Dingen statt haben könne. Alleine man beliebe sich hier vorzustellen, daß der griechische Weltweise von der Schönheit der sichtbaren Dinge redet, insofern dieselbe durch das menschliche Auge entdecket wird; er nimmt daher dieses Wort in einem gar engen Verstand, und setzet die wesentliche Schönheit cörperlicher Dinge in einer Ordnung und Übereinstimmung der Theile, die dem Gantzen eine gleichgemessene Grösse mittheilet. Nun ist es zwar ohne Streit, wenn das Gantze so klein ist, daß man die Theile desselben nicht mehr deutlich unterscheiden kan, oder wenn das Gantze so ungeheuer ist, daß man kaum einige absonderliche Theile davon auf einmahl übersehen kan, so kan man beydemahl nicht sagen, daß uns etwas von dieser Art als schön vorkomme: Gleichwohl hindert dieses nicht, daß etwas nicht schön sey, wenn dessen Schönheit gleich unsrem blöden und eingeschränckten Gesichte verborgen ist, und wir die Ordnung und Harmonie der Theile mit dem blossen Auge nicht genugsam entdecken können. Es kan seyn, daß dieses alles in einen geschärften und vergrösserten Gesichtes-Sinn weit schöner fällt; man erinnere sich nur, wie viele vormahls verborgene Schönheiten das Auge, mit einem Vergrösserungs-Glase bewaffnet, uns in der Welt der kleinen Dinge entdecket hat. Da nun der poetische Pinsel das Vermögen hat, dem Gemüthe diese Schönheiten des Kleinen so wohl als des Grossen, die dem blossen Auge unbekannt sind, recht lebhaft vorzumahlen, so ist daraus offenbar, daß das poetische Schöne in dem Kleinen wie in dem Grossen Platz habe, und daß die poetischen Schildereyen dem Verstande auch in sichtbaren Dingen solche verwundersame Schönheiten vor Augen legen können, die dem sinnlichen Auge gantz verschlossen sind. Zu diesem kömmt noch, daß wir unter dem Nahmen des poetischen Schönen alles begreiffen, was das Gemüthe des Lesers durch die poetische Vorstellung entzüket, und mit einem süssen Ergetzen erfüllet; diese[131] Würckung aber führen, wie oben erwiesen ist, alle Dinge mit sich, die in der Wahrheit gegründet und dabey neu und verwundersam sind, sie kommen gleich in ihrer nackenden Gestalt den äusserlichen Sinnen groß oder klein, angenehm oder widerig vor.
Eine andere Anmerckung, die sich auf die Natur dessen gründet, was wir neu und verwundernswürdig zu nennen pflegen, bestehet darinn, daß einigen etwas in der Natur als fremd, seltzam, neu und wunderbar vorkommen kan, was andern gantz bekannt und etwas gewöhnliches ist, daher es denn auch bey diesen seine angenehme Kraft zu bewegen verliehret. Diese verwundersame Neuheit in den Vorstellungen lieget demnach eigentlich nicht in denen Sachen, die uns vorgestellet werden, sondern in den Begriffen dessen, der von einer Vorstellung nach seiner Empfindung urtheilet; und das ungleiche Urtheil, welches von dem Neuen gefället wird, rühret theils von der ungleichen Gelegenheit her, die dem Menschen in dieser Welt vergönnet ist, sich nach dem zufälligen Stande seines mit Werckzeugen der Sinnen begabten Cörpers, mit gewissen Gegenständen mehr, mit andern weniger bekannt zu machen; theils entstehet es von der ungleichen Fähigkeit und dem daher rührenden verschiedenen Maasse der Erkänntniß; welches Ursache ist, daß noch unerfahrne Kinder alle Sachen ohne Unterschied mit einer dummen Bewunderung angaffen, weil ihnen alles fremd, neu und seltzam vorkommen muß. Niemand wird sich vornehmen, erwachsene Männer, die Witz und Erfahrung haben, mit dergleichen Erzehlungen und Mährgen, an welchen er die Kinder sich belustigen siehet, erfreuen zu wollen. In die Classe der Kinder gehöret aller Pöbel des menschlichen Geschlechtes, der sich um die Erkänntniß der Wahrheit nicht bekümmert, und in derselben ein Kind ist.
Denique non omnes eadem mirantur amantque.
[132]
Bey dieser Bewandtniß, da das verwundersame Neue nicht in den Sachen selbst, die uns auf eine angenehme Weise entzücken, stecket, sondern in dem Urtheil der Menschen nach dem ungleichen Maasse ihrer Erkänntniß, ist es unmöglich, die Kraft, eine angenehme Verwunderung zu erwecken, die ich dem poetischen Neuen zugeeignet habe, an gewisse absonderliche Gegenstände und Arten der Vorstellung eigentlich zu binden und einzuschräncken: Doch kan man überhaupt sagen, daß die Dichtung die reicheste Quelle des Neuen und Verwundersamen sey; und, daß das Neue, welches sie aus ihrem eigenen Grund und Boden an das Licht hervorbringet, allgemein und jedermann zu rühren fähig sey; vornehmlich aber thut es diese Würckung auf einem hohen Grade auf diejenigen, für welche die Poesie eigentlich gewiedmet ist. Diese gehöret unter die Artes populares, und muß beflissen seyn, das Ergetzen des grösten Theils der Menschen zuwege zu bringen, und nicht bloß etliche wenige an Verstand, Wissenschaft und tiefer Einsicht, über das gemeine Looß der Menschen erhabene Geister zu befriedigen; für solche ist die Poesie nicht erfunden worden, weil dieselben eines höhern, edlern, und von den Sinnen gantz abgezogenen Ergetzens fähig sind. Die nackete Wahrheit hat für diese so viel anzügliches, daß es ihnen nothwendig verdrüßlich fallen muß, wenn ihre Schönheiten ihnen aus dem Gesicht entzogen und verstecket werden, ob dieses gleich durch den prächtigsten Schmuck der Kleidung geschähe. Jedoch weil auch solche erhabene Geister einen Gefallen daran haben müssen, wenn die Wahrheiten, von ihnen durch tiefes Nachsinnen oder sonst erkannt, allgemein gemachet werden, so muß die Poesie, als das bequemste Mittel dazu, bey ihnen dennoch in einem hohen Werth stehen.
Was nun insbesondere die nach Zeit und Ort so verschiedenen Gewohnheiten, Sitten, Gebräuche, und Meinungen gantzer Völcker anbelanget, so muß man freylich[133] gestehen, daß das poetische Schöne in dieser Absicht am wenigsten an eine besondere Zeit oder Ort kan gebunden und festgestellet werden, alldieweil diese Sachen durch ihre stete Veränderung den Begriff von dem Schönen, und den Preiß des verwundersamen Neuen in diesem Stücke zugleich mitverändern. Was zu einer Zeit vor schön, anständig und verwundersam gehalten worden, das kan bey geänderten Sitten in Vergleichung mit neuen Begriffen von dem Schönen einen gantz widrigen Eindruck machen. Auf diesen Grund hat der Herr Dacier über das fünf und zwanzigste Capitel der Poetick des Aristoteles eine gute Anmerckung gemachet: »Virgil«, sagt er, »hat nicht alle Sachen vor brauchbar gehalten, die Homerus gebraucht hat, denn etwas, das in dem Welt-Alter des griechischen Poeten verwundersam war, hätte zu Augusts Zeit übel mögen aufgenommen werden, darum muß ein Poet seine Erdichtungen nach der Gemüthes-Art, dem Naturell, den Gewohnheiten und Sitten seiner Zeit und seines Landes einrichten.« Und dieses giebt mir Anlaß, beyläuftig die erwehlete Materie des vortrefflichen Miltons von eines Vortheils wegen zu rechtfertigen, der bißdahin noch von niemand bemercket oder erkannt worden. Solcher bestehet darinnen, daß sich schwerlich eine Materie zu einem ausführlichen Gedichte, da nur blosse Menschen aufgeführet werden, wird finden lassen, welches in Vorstellung der Sitten den Beyfall nicht nur einer, sondern aller christlichen Nationen wird erhalten können, und das nicht mit dem Lauffe der Zeit in diesem Puncten einen Abgang an Schönheiten zu befahren habe: Da hingegen die Sitten und Gebräuche derer Wesen, die Milton aufgeführet hat, dießfalls ausser Gefahr sind, weil sie nicht von mehr als einer Art seyn können, hiemit unveränderlich sind, und sich in der göttlichen Offenbarung gründen, die ewig fest bleibet, und daran alle vernünftigen Christen immerfort eine wahre Lust haben.
Buchempfehlung
Simon lernt Lorchen kennen als er um ihre Freundin Christianchen wirbt, deren Mutter - eine heuchlerische Frömmlerin - sie zu einem weltfremden Einfaltspinsel erzogen hat. Simon schwankt zwischen den Freundinnen bis schließlich alles doch ganz anders kommt.
52 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro