Godwi an Römer

[138] Ich habe dir gestern geschrieben, Römer, wie wir sprachen, und will gerne fortfahren, aber ich habe hier in jeder Minute stets so viel geliebt und gelebt, daß ein ganzes Leben der Erinnerung immer hinabsinken muß, um die Gegenwart zu umfangen.

Wer in der reinen Natur und unter den Menschen Gottes lebt, o! der ist so von der unendlichen Kraft durchdrungen, daß er keine Augen für die Handlung hat. Ich bin so gezwungen zu leben, daß alle Reflexion mir Mühe kostet, und wäre ich nicht so ungeschickt, und so verschroben, daß in jeder Minute des Alleinseins mir alles Genossene als Bedürfnis erscheint, weil ich noch nicht in mir selbst fortdauernd empfinde, daß diese Welt ewig in mir entzündet, so könnte ich dir nichts schreiben als abgebrochene Sätze und Ausrufungen, wie der, der, in dem tiefsten Schoße der Wollust versunken, sich selbst mit aller Äußerung in ihm auflöst, und keine Beschreibung als in der Anschauung des Genusses selbst geben kann. –

Godwi[138]

Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 2, München [1963–1968], S. 138-139.
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